Jetzt
Von der geschenkten Gnade Gottes leben und leidenschaftlich den christlichen Glauben verteidigen
Predigttext: 2.Korinther 6,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen. Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!« Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.Ein Wortschwall, kaum zu bändigen . Kaum sind die letzten Worte auf‘s Papier gehetzt, kommt die ganze Leidenschaft heraus, die Anspannung allerdings auch. „O“, schreibt Paulus, „O Ihr Korinther, unser Mund hat sich euch gegenüber aufgetan, unser Herz ist weit geworden. Eng ist nicht der Raum, den ihr in uns habt; eng aber ist’s in euren Herzen. Ich rede mit euch als mit meinen Kindern; stellt euch doch zu mir auch so, und macht auch ihr euer Herz weit!“ Höre ich recht? Es ist von engen und weiten Herzen die Rede, von einer gar nicht mal versteckten Anschuldigung, aber auch von einer offenen Bitte. Alles im majestätischen „Wir“, als ob Paulus sich nicht trauen würde, „ich“ zu sagen. Paulus wirft den Korinthern vor, bei ihnen keine Schnitte zu haben (wie wir heute sagen), er buhlt förmlich darum, in den Herzen der Korinther einen Platz zu bekommen. Da muss doch etwas vorgefallen sein! Wenn ein Mensch so redet, steht er, Entschuldigung, mit dem Rücken zur Wand.
Der Mann, der sich hier outet, ist kein Geringerer als Paulus. Nachgeborener Jünger Jesu, Völkerapostel und der wohl größte Theologe aller Zeiten. Nur: In Korinth muss die Luft wohl sehr dünn geworden sein und die Haut auch. Ich fühle mich fast wie ein Voyeur. Aber es hilft nichts: Ungewollt bin ich ins Vertrauen gezogen. Und nun? Einerseits freue ich mich, dass Paulus nicht nur steile und kunstvolle Sätze zu schmieden versteht, sondern auch sehr menschlich reagieren kann. Es gibt nicht viele Belegstellen, die Leidenschaft und Schwäche so deutlich zu erkennen ergeben. Ungeschönt, auch unzensiert. Andererseits möchte ich mich auf die Seite des Paulus schlagen, ihn meiner Sympathie und Anteilnahme versichern und ihn bedauern ob dieser undankbaren und notorisch besserwisserischen Korinther. Haben sie ihm nicht oft schon die kalte Schulter gezeigt? Ihn ins Leere laufen lassen? Paulus soll sogar einen Tränenbrief geschrieben haben, hört man. Wie dem auch gewesen sein mag: Die Autorität des Paulus ist in Korinth auf einem Tiefpunkt, und Paulus ringt um seine Gemeinde. Ein erstes Lehrstück von der christlichen Freiheit, die Paulus nicht nur durchdacht, sondern den Korinthern auch beigebracht hat. Jetzt ist er in der wenig komfortablen Situation, Opfer seiner eigenen Lehre zu werden und sich rechtfertigen zu müssen. Wir sehen Paulus über die Schulter. Er, dem der Vorwurf galt, ein glanzloser Mensch zu sein, in der Riege der anderen großen Denker und Redner eine graue Maus , schreibt ein leidenschaftliches Plädoyer.
Ich tue nichts, mein Amt in Verruf zu bringen – in allem erweise ich mich als Diener Gottes.
In größten Nöten und Ängsten habe ich mich bewährt,
ich war im Gefängnis standhaft.
Ich war zuverlässig, langmütig, freundlich.
Ich habe mich schlagen lassen.
Dann beruft er sich auf den Heiligen Geist, auf die ungefärbte Liebe, auf das Wort der Wahrheit, auf die Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist. Zugegeben, ich habe jetzt schon ein wenig Ordnung in die Worte gebracht, die bei Paulus nur so sprudeln. Ob das fair ist, weiß ich nicht, es hilft mir aber, der Argumentation des Paulus zu folgen. Ich komme sonst nicht mit. Die Worte fliegen mir um die Ohren. Trotzdem stellt sich mir immer mehr die Frage, warum sich Paulus so in Bresche hauen muss. Kann das gut gehen, Verdienste aufzuzählen, Treuepunkte zu sammeln und alte Geschichten aufzuwärmen, wenn die anderen partout nicht wollen? Hätte Paulus nicht lieber geschwiegen? Selbstverteidigung hat doch immer einen Geruch. Was für ein Glück für Paulus, dass sein Brief später zu höchsten Ehren kam, er hätte sich sonst einfach lächerlich gemacht. Ich weiß doch, wie solche Geschichten ausgehen. Aber ich traue mich nicht, jetzt auf dieser Linie weiter zu denken. Was ist, wenn das, was ich als Selbstverteidigung ansehe, Beweis für die Wahrheit des Evangeliums ist, das noch einmal neu und ganz persönlich zur Geltung gebracht wird, zur Geltung gebracht werden muss? Paulus hat den Korinthern das Evangelium gebracht. Die Botschaft von der Versöhnung. Das Wort vom Kreuz. Das Hohelied der Liebe. Alles aufzuzählen, was er nach Korinth gebracht und in Korinth verteidigt hat, würde unsere Geduld an diesem Sonntag über Gebühr strapazieren. Häppchenweise ist es schon schwierig genug, den Reichtum zu ermessen, den Paulus den Korinthern geschenkt hat. Wir zehren bis heute davon. Nicht nur, weil Martin Luther ein großer Freund des Paulus war. Die beiden Korintherbriefe gehören zu den bedeutendsten Briefen, die je geschrieben wurden. Gleichzeitig lernen wir eine Gemeinde kennen, die zwar klein ist, aber durch besondere Diskutierfreude und Streitlust auffällt.
Korinth war eine blühende Handels- und Hafenstadt. Hier strandeten Güter und Ideen an. Menschen aller Herren Länder gaben sich hier ein Stelldichein. Als pulsierend und lebendig hätte das Fremdenverkehrsamt die Stadt charakterisieren können. Genau der richtige Ort auch für die Botschaft von Jesus, genau der richtige Ort auch für eine Gemeinde, die sich in seinem Namen zusammenfindet. Genau der richtige Ort auch für Paulus. In der Auseinandersetzung, die Paulus einholt, erzählt er aus seinem Leben, beispielhaft und Mut machend für andere Menschen, die von großen Nöten und Ängsten wissen; die mitbekommen haben und auch befürchten, für das Bekenntnis zu Jesus nicht nur Nachteile, sondern sogar Gefangenschaft in Kauf nehmen zu müssen, die wissen, dass es in kritischen Situationen alles andere als selbstverständlich ist, zuverlässig, langmütig und freundlich zu sein. Nein, was sich wie eine Selbstverteidigung anhört, ist eine leidenschaftliche Verteidigung des christlichen Glaubens. Mit Herzblut geschrieben, manchmal geht es nicht anders. Nicht einmal in unseren nüchternen und sachlichen Zeiten. Das Evangelium bekommt jetzt ein Gesicht. Dort in Korinth. Paulus! Wir sehen ihn vor uns, wir hören ihn. Vorbestraft, verfolgt, eingeschüchtert , aber nicht klein zu kriegen. Weil das Wort der Wahrheit, die Kraft Gottes, die Waffen der Gerechtigkeit den Sieg behalten. Das Evangelium selbst ist das leidenschaftliche Plädoyer Gottes für die Gemeinde. Sprachlich muss das gelegentlich auch in den Worten eines Menschen sprudeln. Womit wir wieder bei Paulus sind. Klein von Gestalt mit leiser Stimme, nicht so glatt und schöngeistig wie die großen Redner, die Korinth in Schwatzbuden verwandeln, ein Diener Gottes ist Paulus. Mehr will er auch nicht sein. Christus hat ihn berufen. Diese Geschichte gehört zu den schönsten, die ich kenne: Christus braucht noch einen Jünger, damit das Evangelium zu den Völkern kommt. Wir säßen heute nicht hier, wenn er nicht in Korinth für das Evangelium gekämpft hätte.
Aber die Frage ist immer noch nicht beantwortet, warum Paulus sich so in die Bresche haut. Warum er so weit aus sich heraus geht. Warum er es den Korinthern nicht einfacher macht. Haben wir bisher alles vom Abschluss seiner Worte aufzuschließen versucht, jetzt müssen wir zu dem ersten Satz: „Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen. Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!«“ Paulus führt sich als Mitarbeiter ein. Nicht als Herr. Seine Mahnung ist eindrücklich und nicht von der Hand zu weisen. Auch nicht bei uns. Die Gnade Gottes kann vergeblich empfangen sein. Wenn ein anderes Evangelium als das von Christus verkündigt wird und Autorität bekommt. Das war das Problem in Korinth! Mit den vielen Eindrücken, Meinungen und Ideen, die in Korinth den Weg auch in die kleine Gemeinde fanden, war Christus auf einmal einer unter vielen. Die Menschen merkten das daran, dass sich Gruppen bildeten, die jede für sich die Wahrheit gefunden hatten und sie in endlosen Streitigkeiten den anderen um die Ohren hauten. Das alles in einer Gemeinde. Ob Paulus Streitlust, vielleicht sogar ein intellektuelles Klima grundsätzlich für schlecht befunden hat, lässt sich nicht annehmen, beweisen schon gar nicht. Aber mit einer Leidenschaft, die dem kleinen Mann kaum zugetraut werden kann, kämpft er darum, das Evangelium von Jesus Christus klar und rein zu bewahren und es den Modetrends zu entziehen. Ja, was hätten wir dann gewonnen, wenn wir die Gnade Gottes vergeblich empfangen und verspielt haben? Auf die lange Bank ist auch nichts zu schieben. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Paulus muss sich nicht hinter den Propheten Jesaja verstecken, aber er hat ihn als Gewährsmann hinter sich. Ein Zitat reicht, und schon ist eine ganze Geschichte, die längst vergangen schien, auf einmal gegenwärtig. Und das nicht einmal im Stammland des Volkes Israel, in Korinth. Jetzt. Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils. Manchmal muss dieses „Jetzt“ alle Streitigkeiten und Dispute auf den Punkt bringen, ohne das Gespräch abzuschneiden.
Heute haben wir uns in unserer Kirche zum Gottesdienst versammelt. Es ist der erste Sonntag in der Passionszeit. Invokavit. Im 1. Johannesbrief (3,8b) heißt es: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“. Die Farbe hat von grün nach violett gewechselt. Wir beginnen eine Bußzeit. Ich weiß nicht, wer uns den Briefabschnitt von Paulus aufs Auge gedrückt hat, aber es war eine weise Entscheidung. Ins Vertrauen gezogen, schauen wir Paulus über die Schultern, wir schauen ihm sogar ins Herz , so gut das geht oder so gut es uns geschenkt wird. Bei den vielen Herausforderungen, die über uns kommen, den weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die uns umgeben, den Zweifeln, denen wir auch in unserer Gemeinde begegnen, es tut gut, „jetzt“ von einer geschenkten Gnade zu leben, „jetzt“ darauf hingewiesen zu werden. So weit weg ist Korinth nicht, dass uns die Menschen von dort nicht berühren könnten. Und was Paulus angeht: Er ist mir heute richtig sympathisch geworden. Ich kann ihm das Wasser zwar nicht reichen, aber von seinem Mut kann ich mich anstecken lassen. Jede/r von uns darf erzählen, was wir vom Evangelium empfangen haben. Mit den eigenen Worten, dem eigenen Gesicht, den eigenen Erfahrungen. Ein Gedicht, von Paulus:
als die Unbekannten und doch bekannt;
als die Sterbenden, und siehe, wir leben;
als die Gezüchtigten und doch nicht getötet;
als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;
als die Armen, aber die doch viele reich machen;als die nichts haben und doch alles haben.