“Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen…”
Dem anderen Menschen die Wahrheit wie einen waermenden Mantel hinhalten
Exegetische und homiletische Überlegungen
Im Gewand eines Liebesliedes begegnet uns im Lied vom unfruchtbaren Weinberg ein unerbittliches Gerichtswort, das Gott seinem Volk durch den Propheten Jesaja singen lässt. Zutiefst gestört ist die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Gott, der alles daran setzt und dafür tut, dass Menschen in Frieden und Gerechtigkeit leben können, muss erleben, dass sich das religiöse und gesellschaftliche Zusammenleben ins Gegenteil verkehrt hat: Statt Rechtsspruch Rechtsbruch, statt Gerechtigkeit Schlechtigkeit. Diese Gegensätze stehen für wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit, Bestechlichkeit und Korruption, Macht der Eliten und Ohnmacht der Opfer. Die zerrüttete Beziehung der Menschen untereinander ist das sichtbare Zeichen der zerrütteten Beziehung zu Gott. Doch ist die gestörte Beziehung tatsächlich endgültig zerstört? Die gewählte Form eines Liebesliedes sowie die Auswahl des allegorischen Bildes vom Weinberg und seinem Besitzer lassen auf die Dringlichkeit schließen, mit der Gott die Ohren seines Volkes öffnen und Herzen seiner Menschen trotz allem erreichen will. Sie nimmt der Anklage nichts an Klarheit, dem unerbittlichen Urteil nichts an Schärfe, wirbt jedoch um Einsicht. Über die Vollstreckung des Urteils schweigt der Sänger. Der Sonntag Reminiszere – Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit – erlaubt es jedoch, im zerrütteten Verhältnis der Liebenden das Verhältnis von Gott und Mensch, das von Sündersein und Barmherzigkeit, zu entdecken. Gottes Barmherzigkeit und Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind, eröffnen den Hörenden den Raum, das eigene Unrecht zu erkennen. Die Umkehr zu Gott, die Erwiderung seiner Liebe, ermöglicht es, zurück zu kehren auf den Weg der Gerechtigkeit Gottes, die der Maßstab des Denkens und Handelns in allen privaten und öffentlichen Bereichen menschlichen Zusammenlebens sein soll.Lieder
„Komm in unsre stolze Welt“ (EG 428) „So jemand spricht: Ich liebe Gott“ (EG 412) „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn“ (EG RWL 675)In seinen Tagebüchern schreibt Max Frisch: „Man soll dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren schlagen, sondern sie hinhalten wie einen Mantel, in den man hineinschlüpfen kann”. Einen solchen Mantel der Wahrheit trägt der Prophet Jesaja, als er gut 800 Jahre vor Christi Geburt Jerusalem betritt. Fröhliche und ausgelassene Stimmung umgibt ihn. Nach reicher Ernte feiern die Menschen das Herbst- und Weinlesefest. Die Scheunen und Vorratskammern sind prall gefüllt. Das Auskommen ist mehr als gesichert. Sogar reicher Gewinn ist gemacht. Reges Treiben umgibt den Propheten, als er auf den Festplatz gelangt. Erst leise, dann ein wenig lauter beginnt er zu singen. Die ersten Leute bleiben stehen. „Wohlauf, ich will ein Lied singen von meinem Freund und meinem Weinberg“, lädt er die Menschen ein, ihm zuzuhören. Schon bald ist der Prophet umringt, vor allem von den Weinbauern. Voller Vorfreude und Spannung warten sie auf ein Lied über ihre Arbeit und Mühe, an deren Ende als Belohnung üppige Ernte und reicher Gewinn stehen soll. Aber auch andere fühlen sich angesprochen, ist doch der Weinberg seit jeher das Bild für die umworbene Geliebte, um die ein junger Mann alle Mühen aufwendet, um sie für sich zu gewinnen. Immer mehr scharen sich um den Sänger, weil sie hoffen, dass er ihr Lied singt, das Lied ihres Lebens, das Lied vom Weinberg:
(Lesung des Predigttextes)
Wie ein weit geöffneter, wärmender Mantel klingt das Lied in den Ohren derer, die dem Propheten zuhören. Denn jeder und jede kann sich hineinversetzen in den Menschen, der es an nichts fehlen lässt und sich alle Mühe gibt um seinen Weinberg, um seine Geliebte. Der ersehnte Erfolg müsste sich eigentlich einstellen. Doch das Lied nimmt eine Wende – nicht erfahrenes Glück, sondern enttäuschte Liebesmüh stehen am Ende. Gespannt hören die Leute weiter zu. Auch wenn das Lied anders weiter geht als erhofft, finden sie sich wieder in den Tönen des Sängers, und manch einer erinnert sich an sein eigenes Lied. Die Erfahrung enttäuschter Liebe klingt nach in so manchen Herzen: Da haben sich Eltern mit viel Liebe und Sorgfalt gemüht um ihre Tochter, keine Nachhilfestunde war ihnen zu teuer, auch an Freizeitangeboten sollte es nicht fehlen. Und doch hat sie sich so anders entwickelt. Sie raucht, kleidet sich schwarz und schminkt sich auffällig. Oft kommt sie erst mitten in der Nacht nach Hause. Ob sie einen Schulabschluss schafft, ist mehr als fraglich. „Wenn du so weiter machst, landest du in der Gosse oder bei Hartz IV”, bekommt sie fast täglich zu hören. Immer mehr entgleitet sie ihren Eltern, den Lehrern. Alle Mühe umsonst. Die Enttäuschung schmerzt, nicht allein bei den Eltern, auch bei der Tochter: „Ich bin hier wohl das schwarze Schaf!“, stellt die resigniert fest. Auch viele andere finden sich wieder im Lied des Jesaja, nicken verstehend. Die Wahrheit, die im weiten Mantel des Propheten erkennbar wird, schmerzt und erinnert an den eigenen Schmerz enttäuschter Liebe, vergeblicher Mühe. Doch das Lied ist noch nicht zu ende. Denn nun spricht der Sänger seine Zuhörerschar direkt an, fordert sie auf zum eigenen Urteil: „Nun richtet ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas zwischen mir und meinem Weinberg!“
„Aufgeben!“ „Weg damit!“ „Das hat doch keinen Zweck und keinen Sinn mehr!“ Enttäuschung und Schmerz, Wut und Zorn, wollen sich entladen. Doch bleiben ihnen diese Antworten im Halse stecken, als die letzte Strophe beginnt. Unverkennbar deutlich und eindeutig müssen sie vernehmen, dass sie soeben über sich selbst das Urteil gesprochen haben. Denn der Weinberg, das sind sie. Und der Winzer, das ist Gott selbst, der für seine Menschen alle seine Kraft und Mühe, alle seine Liebe und Zuwendung aufgebracht hat, immer wieder neue Geduld gezeigt hat, und dem am Ende nichts anderes bleibt, als den Propheten das Lied seiner großen Enttäuschung singen zu lassen: Alles vergeblich, alles umsonst! “Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe da war Geschrei über Schlechtigkeit.” Wie im Spiegel müssen sie sich im Lied des Propheten selbst erkennen. Der, der so sensibel von der Wahrheit menschlicher Erfahrung mit enttäuschter Liebe und vergeblicher Mühe singen kann, besingt darin zutiefst und zu allererst die enttäuschte Liebe Gottes, die Vergeblichkeit all seines Bemühens um die Menschen. Sie selbst sind es, die statt Recht zu sprechen das Recht brechen. Sie selbst sind es, die es verhindern, dass Gottes Gerechtigkeit im Leben und Zusammenleben der Menschen Gestalt gewinnt und Lebensräume für alle ermöglicht. Sie selbst sind es, die es längst aufgegeben haben, einander gerecht werden zu wollen, und die es nicht hören wollen, das Schreien der Opfer, die unter Unrecht und Rechtsbruch leiden und durch ungerechte Verhältnisse an den Rand der Gesellschaft, gar an den Rand der eigenen Existenz gedrängt werden.
Der Mantel, den Jesaja seinen Zuhörenden hinhält, ist kein Deckmäntelchen der Liebe, der alle Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten zudeckt. „Man soll dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren schlagen, sondern sie hinhalten wie einen Mantel, in den man hineinschlüpfen kann.“ Der Mantel der Wahrheit erlaubt es, die eigene Schuld und das eigene Versagen zu erkennen, zu benennen – und schließlich auch selbstkritisch zu hinterfragen. Ist die Gestaltung des eigenen wie gemeinsamen Lebens die angemessene Antwort auf die Liebe Gottes? Die Antwort auf die Mühe und Arbeit, die sich Gott gemacht hat, auf die Fürsorge Gottes? Wo wird sie Wirklichkeit und wie wird die Gerechtigkeit Gottes erfahrbar in unserem Leben und Zusammenleben in der Familie, in unserer Gemeinde, in unserem Land, in unserer Welt? Tragen wir mit aller Kraft am eigenen Ort dazu bei, dass „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ zur Lebenswirklichkeit aller Geschöpfe und Kreaturen werden? Es ist eine unbequeme Wahrheit, die uns mit dem Lied des Propheten gesungen wird, eine schmerzhafte Erkenntnis und Selbsterkenntnis, die er uns mit seinem Mantel hinhält. Es liegt an uns, ob wir dieses Angebot annehmen und in den Mantel hineinschlüpfen.
Der zweite Sonntag der Passionszeit trägt den lateinischen Namen Reminiszere, den Anfang des Psalms 10: „Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind”. Diese Barmherzigkeit mit uns, die wir zwar nicht verdient haben, aber doch erfahren können, spiegelt sich wieder im Symbol des Kreuzes, das für die gesamte Christenheit ihr Zeichen und Kennzeichen ist. Dieses Kreuz steht für beides: Das Kreuz steht für den Schmerz Gottes, für die große Enttäuschung, die wir ihm bereiten, weil wir unsere Begabungen und Fähigkeiten nicht einsetzen, sondern verkümmern lassen oder gar ins Gegenteil verkehren. Das Kreuz steht für das Leid, das wir Gott zufügen, wenn wir ihm keinen Raum unter uns geben, sondern ihn wie die bösen Weingärtner in der heutigen Lesung des Evangeliums fortjagen und weit draußen vor den Toren der Stadt ans Kreuz nageln. Das Kreuz steht jedoch auch – und das ein für alle Mal – für Gottes unermüdliche Zuwendung und grenzenlose Hingabe, die menschliche Gestalt gewinnt im Lebens- und Leidensweg seines Sohnes. Wohl ist „der Tod der Sünde Sold“. Doch behält er nicht das letzte Wort. Dem Tod am Karfreitag folgt am Ostermorgen die Auferstehung in ein neues Leben, das im Hier und im Jetzt seinen Anfang nimmt und Gottes Gerechtigkeit den Weg bahnt und Gestalt gewinnen lässt durch uns – mit seiner Hilfe. Das Lied des Jesaja im Herzen lassen Sie uns deshalb singen (EG RWL 675, 4):
Laß uns den Weg der Gerechtigkeit gehn.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Sehn wir in uns einen Anfang,
endlos vollende dein Reich.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Seine Gerichtsworte verpackt Jesaja in ein Liebeslied. Ebenso bringt Pfarrerin Janssens die Worte des Jesaja dem Predigthörer warmherzig und doch klar so nah, dass er sie annehmen kann. Gott wirbt wie ein Liebhaber um sein Volk. Er wird grenzenlos enttäuscht. Statt Rechtsentscheid/Rechtspruch (hebr. mischpat)Blutvergießen/Rechtsbruch(mispach), statt Gerechtigkeit/Gemeinschaftstreue(zedaqa)Unterdrückung(ze´aqa). Frau Janssens erinnert parallel an die vergebliche Liebesmüh vieler Eltern: so viel Nachhilfe und jetzt… Vor dem Schlussteil der Predigt ermahnt die Pfarrerin die Hörer, selbst umzukehren. Früher war er Text übrigens ein Text zum Bußtag. Zum Schluss vertieft die Predigerin den Text durch den Hinweis auf das Kreuz Jesu. Sehr gelungen wird uns Hörern die berechtigte harte Ermahnung nicht um die Ohren gehauen, sondern uns liebevoll entgegen gereicht. – Eine Frage zum Weiterdenken vom früher sehr bekannten Theologen Heinz Zahrnt: Sind die Leiden der Menschen nicht größer als ihre Sünden ?