„Deutschland, deine Kolonien“. Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit
Eva-Maria Schnurr, Frank Patalong (Hgg.),
„Deutschland, deine Kolonien“. Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit. Spiegel-Buchverlag, jetzt Taschenbuch bei Pinguin, 252 S., 14,-- €
Das Buch ist zweifellos lesenswert und gut zu bewältigen, zumal die einzelnen Beiträge kurz und klar geschrieben sind, ohne jede Anmerkung, am Ende nochmal eine Übersicht über die nicht wenigen Kolonialgebiete sowie eine kleine Chronik.
Das Besondere der Beiträge ist die lange Spanne dieser Epoche, die auch für Deutschland bereitsim 16. Jh. begann und keineswegs 1918 endet, sondern einige Nachwirkungen hat. Vor allem für die Zeit, als das deutsche Kaiserreich Kolonialmacht war, finden sich etliche originelle und wichtige Beiträge.
Dennoch muss gesagt werden, dass die Verfasser in ihrem anti-kolonialistischen Eifer häufig Aspekte ausblenden, die das negative Bild ein wenig korrigieren könnten. Z.B. ist über den Urvater der deutschen Kolonien, Carl Peters, Gründer der deutschen Kolonialgesellschaft, der Bismarck zur Akzeptanz der sog. Schutzgebiete trieb, wahrlich nicht viel Gutes zu sagen und die Überschrift „das Scheusal“, ein Zitat des „Vorwärts“, hart aber nicht ganz falsch. Jedoch verschweigt der Artikel, dass das Vorgehen dieses „Pioniers“ und seine Brutalität Auslöser für die erste Reichstagsdebatte über „Schutzgebiete“ war, ja dass der „Hänge-Peters“ schon 1892 seines Postens entbunden, angeklagt, „unehrenhaft“ entlassen,sich drei Jahrzehnte in Deutschland nicht zeigen konnte, sondern nach England und nach Südafrika flüchtete.
Mehrfach ist der Maji-Maji-Aufstand erwähnt, der zweifellos die größteund grausamste Militäroperation der Kolonialverwaltung zur Folge hatte. Auch ist angedeutet, dass man davon heute ungern spricht, selbst die Schulbücher und die Regierung Tansanias dies nicht laut thematisieren. Anlass war die 1898 eingeführte Hüttensteuer, die forcierte Plantagenwirtschaft, faktisch mit Zwangsarbeit, einige Tage in der Woche, und die Prügelstrafe. Insofern hatte der Aufstand seine Berechtigung. Eingaben und Klagender Missionare an die Regierung wurden zwar entgegengenommen, aber es änderte sich wenig.
Das eigentliche Unglück, die großen Menschenverluste aber wurden durch eine Wasserweihe (swahili: Maji=Wasser) provoziert, der Aberglaube, wer diese Wasserweihe habe, sei unverletzbar. In diesem Irrglauben sammelten sich hunderteMänner um eine Boma (Festung mit Verwaltung und Kaserne), so dass die Askaris mit Maschinengewehren hineinschossen, was keineswegs alle zur Flucht veranlasste.Dieses blinde Vorgehen der nurtraditionell bewaffnetenAufständischen ist daher für nicht wenige Tansanier heute eine peinliche Dummheit, über die man besser schweigt. Die Kämpfe eskalierten und die Deutschen griffen schließlichzum Mittel der verbrannten Erde, legten Feuer in den Feldern, und eine Hungersnot war die Folge. Das Vorgehen der Militärs war grausam und erreichte auch den Reichstag. Die Folge war, dass eine neue Kolonialpolitik eingeleitet wurde, deren Verfechter v. Dernburg war. In Ostafrika wurde 1906 Rechenberg als Gouverneur eingesetzt, der bald reichlich Ärger mit den Siedlern hatte, aber bis 1912 durchhielt. Das war wohl der friedlichste und fruchtbarste Abschnitt dieser Kolonie.
Die erst spät akzeptierte Arbeit der Missionen führte schließlich 1912auf Befürwortung des Kaisers sogar zu einer großen Sammlung, der Nationalspende mit über vier Millionen Reichsmark – keineswegs auf Initiative der Missionen oder Kirchen, sondern der Kolonialgesellschaften. Die Missionen, besonders die evangelischen, standen diesem Geschenk ablehnend gegenüber. Bis die Gabe verteilt war, begann der Weltkrieg.
Verwunderlich, warum der erste große und längste Aufstand, der Wahehe in Mittel-Tansania, von 1891 – 1898 unerwähnt bleibt. Der sog Araberaufstand bald nach der Besetzung 1888 war vergleichsweise kurz und erfolglos, aber leider Anlass um deutsche Kanonenbote herbeizurufen.
Dass Missionare, gleich ob katholisch, evangelisch oder anglikanisch, nicht die geringste Würdigung erhalten, ist wohl bezeichnend für die Herausgeber bei der Spiegel-Redaktion. Krapf und Rebmann, die heute als die Apostel Ostafrikas gelten, werden an keiner Stelle erwähnt, obwohl sie die Urväter der heute recht stattlichen Kirchen Ostafrika sind. Missionare sind für die Autoren leider nichts anderes als „Wegbereiter für die Kolonisatoren“. Selbst über Bruno Gutmann, der 1920 einen Ehrendoktor für dieErforschung der Stammessitten der Wachagga im Kilimandjaro-Gebiet erhielt und nach dem 1. Weltkrieg hoffnungsvoll von den Gemeinden wieder erwartet wurde, noch heute nach hundert Jahren hoch im Ansehen steht, kein Wort.
Ebenso mager ist die Bewertung derdamals entstehenden Tropenmedizin im Kapitel „Menschenversuche im Paradies“. Ärzte gelten den Herausgebern vor allem als „Verbündete der Kolonialmacht“ (S. 162). Wie sehr geschätzt und besucht die mühsam aufgebauten „Dispenseris“ und Krankenhäuser der Missionarewaren, wird auffallend verschwiegen.
Auch dass man in Deutsch-Ostafrika bald davon abkam, Deutsch als Verwaltungssprache einzuführen und stattdessen das Swahili in lateinischen Letternwagte, wofür man heute in ganz Ostafrika dankbar ist, wird nicht dargestellt. Auch dafür hatten die beiden Urapostel mit ersten Swahili-Texten die Grundlagen gelegt.
Verwunderlich ist, warum der große Feldzug Lettow-Vorbecks im 1. Weltkrieg unbeachtet bleibt, er war weniger verlustreich für die deutsche Seite. Kostet aber auf britischer Seite … das Leben. Dass den Askaris Pensionen bezahlt wurden, ist nur halb richtig. Die ehemaligen deutschen Offiziere gewährten ihren treu folgenden gehorsamen Askaris kleine Entlohnungen, lange unterbrochen durch den 2.Weltkrieg. 1971 durfte ich im Auftrag der deutschen Botschaft Dar es Salaam den letzten Verbliebenen, ca. 40 alten Männern in und um Dodoma, einen „Ehrensold“ auszahlen, es waren (umgerechnet) je ca. 15 DM für die letzten drei Jahre.
Es ist vieles richtig und lesenswert in diesem Buch, dochman muss sich über dieEinseitigkeit klar sein, dass es eigentlich zu jedem der angeführten Themen mindestens eine andere Sichtweise gibt. Denn blinder Hass auf die Kolonialzeit und ihre ausschließliche Negativ-Bewertung führt am Ende lediglich zu neuem Hass und Selbstzerstörung, bestens sichtbar im Kongo seit dem Tag der Unabhängigkeit mit der Rede Lumumbas. Dennoch ist das Buch lesenswert, weil es uns einige recht unbekannte Aspekte jener fernen Epoche der Kolonialzeit lebhaft vor Augen führt.
Helmut Staudt, Gaiberg b. Heidelberg