Neuigkeit

Grenzenlose Umarmung?

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisendiese Losung aus Johannes 6,37, als Stimme Christi für das Jahr 2022 zumeist schon ausgelegt, begleitet uns jedoch noch durchs ganze Jahr hindurch. Da mögen Erwägungen weiter willkommen sein. Zunächst: Diese neun Wörter stehen in einem größeren Zusammenhang, dem 6. Kap. des Evangeliums nach Johannes, und das letzte Wort (“abweisen”) ist keine Übersetzung, sondern eine Auslegung (s. u.a. die Übersetzungen nach Martin Luther, Revision 2017, und Einheitsübersetzung). Mit welcher Zielvorstellung? Vielleicht einer heilspositiven Selbstermutigung, es möge nicht zutreffen, was die Freiburger Studie (Raffelhüschen 2019) den großen Kirchen voraussagt, nämlich die Halbierung ihres Mitgliederbestands bis 2060?

Diese markigen Worte spricht der johanneische Jesus in der Synagoge von Kapernaum zu einer Schar, die das Zeichen der Brotvermehrung miterlebt hat und nun von ihm dazu gebracht werden soll, unter der materiellen die spirituelle Gabe, den Geber, den Gesandten Gottes zu erkennen, ihm zu vertrauen, zu glauben. Diesen Zusammenhang herzustellen, ist sicher vonnöten und die Wogen des Disputs tosen zu lassen!

Mit „nicht abweisen“ zähmt, verpasst die Übersetzungen die im griechischen ou mae liegende Emphase. Jesus beschwört die Harthörigen, nicht glauben Wollenden (v. 36): Wer zu mir kommt, ist auf der sicheren Seite (wörtlich: den werde ich nicht hinausstoßen, aussperren, ausgrenzen, etc.). Martin Luther hat diesen Überschritt vom Sarkischen zum Pneumatischen so formuliert: “Ich gläube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen/Herrn gläuben oder zu Ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten …” (BSLK 511 f.).

Bei M. Luther ist klar, dass Bewahrung und Heiligung zusammengehören, wie auch bei Johannes (3,20f.; 5,29). Das Wunder des Glaubens ereignet sich also nicht im handlungsfreien Raum, in existenzialer Pose, Gabe ist verknüpft mit Aufgabe. Was kann zu dieser Aufgabe in der applicatio gesagt werden? Hier ist der Punkt gekommen, an dem der Ausleger / die Auslegerin sich entscheiden sollte: Will ich mehr den suchenden, angefochtenen Einzelnen oder die richtungssuchende Gesellschaft erreichen? M. Luther (a.a.O. 512) hebt auch nach dem Einzelnen ab auf „die ganze Christenheit auf Erden“.

Die Jahreslosung ruft also nicht zu einer großen, grenzenlose Umarmung für alle aus. Sie stellt uns hinein in kritische Situationen, im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich. „Privat“ heißt, nicht nur uns selbst auf unsere Entschiedenheit befragen: Will ich auf Jesus setzen als das von Gott auch für mich gesetzte „Siegel“ (Joh 6,27), Jesus als Person, als den Boten Gottes anzuerkennen? Auf keine weitere (rein menschlich!) beglaubigte Urkunde zu bauen, kein weiteres heiliges Buch meinem Regal mit religiösen Büchern einreihen zu wollen?

„Private“ kritische Situation hieße auch: Wollten wir alle, die um uns sind, denen wir begegnen, unterschiedslos in unsere Bahn ziehen, verkumpeln? Missachten wir dann nicht den Respekt, den jede und jeder verdient? Respekt heißt auch, sich jeder Wertung eines Gegenübers erstmal zu enthalten, also in mir keine falsche Überlegenheit eines sich leichtfertig erwählt Meinenden aufkommen zu lassen. In christlicher Sprache hieße dass: Demut oder „Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor!“ (Römer 12.10)

Zum Schluss versuche ich auf unsere aktuelle kritische gesellschaftlich-globale Situation hinüberzublenden: Wollen wir setzen auf Reparatur von zerstörerischen Nebenfolgen der Technik einfach mit perfekterem Technikeinsatz? Wollen wir Maßnahmen zur Reparatur unseres gemeinsamen Hauses (der Erde) so sanft-anforderungslos sich einschleichen lassen, dass niemandem von uns ein Haar gekrümmt wird (bloß keine ordnungspolitischen Maßnahmen, der Markt allein soll’s richten!)? Oder wollen wir einer spirituellen Rückbesinnung den Vorrang einräumen vor perfektionierendem social engineering? Wann und wie funktioniert climate justice? Ohne spirituelle, himmlische Gerechtigkeit?

Literatur: Otfried Hofius, Johannesstudien, 1996,81-6. – Johannes Beutler, Das Johannesevangelium, 2013.

Volker Eckert

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