Neuigkeit

„Impulse zur Verantwortung für die Kirche“

Pfarrer Manfred Wussow, Mitautor des Heidelberger Predigt-Forums, stellt hier ein Buch von Günter Thomas vor:

Günter Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2. Aufl. 2021, 16,00 €.

Impulse sind Impulse. Sie reihen sich locker aneinander und haben doch einen Zusammenhang. Das macht aus dem vorzustellenden Buch ein Lese-Buch im besten Sinn des Wortes. Mal auf dem Nachttisch, mal auf dem Schreibtisch. Insgesamt sind es 363 Seiten aus der Feder von Günter Thomas (*1960), Professor für Systematische Theologie in Bochum, der fortschreibt, was er in „Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie, Leipzig 2019“ vorgeschrieben hat. Auf Anmerkungen und Literaturverzeichnis verzichtet Thomas – manchmal vermisst man sie. Hilfreich ist es, das Cover eines Buches genauer anzuschauen. Die untere Hälfte wird von einem Bild bestimmt. Wir ahnen, auf verschwommenen Hintergrund, einen Menschen, der den Erdball an seine Hüfte drückt, während er lässig in ein Ballspiel zu gehen scheint. Der Erdball ist sichtbar, geschützt wird er nicht.

In „Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Kirche und Gesellschaft“ (Juli 2020) hat Thomasunter dem Titel „Gebrauchsanleitung für das Endspiel? Sieben Baustellen, anlässlich der „11 Leitsätze“ des Z-Teams der EKD betrachtet“ und sehr kritische Rückfragen gestellt: https://zeitzeichen.net/node/8455. Schon der Titel lässt aufhorchen! Am Ende des Beitrages kündigt er das Buch an, das jetzt vorzustellen ist. Was es zu entdecken gilt: Im I. Kapitel stellt Thomas die Thesen in Kurzform vor, um sie dann in 11 weiteren zu entfalten: (II) „Wo sind wir? Kulturelle Kräfte, die uns prägen und herausfordern, (III) Die Entdeckung des Weltabenteuer Gottes, (IV) Die moralische Atemlosigkeit einer grenzenlosen Kirche in grenzenloser Weltverantwortung, (V – VIII) Die Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung, (IX) Leben im Weltabenteuer Gottes, (X) Halb gehobene und ungehobene Schätze, (XI) Die Sackgasse des Übersetzens – oder von der Verwegenheit, Geduld und Leichtigkeit des Erläuterns sowie (XII) Ein Blick zurück und nach vorne. Herzstücke sind in dem Buch nach 1. Kor. 13 Glaube, Liebe und Hoffnung, fein umgeben von Beobachtungen, wo wir (gerade) sind, und den verwegenen Ausblicken, das Eigene zu finden. Das hat etwas von einem Katechismus – oder von einer Wanderkarte für einen gemeinsamen Ausflug in das Weltabenteuer Gottes. Wer in der Gemeinde (noch) ein Buch sucht, das – garantiert – kontrovers diskutiert werden kann, wird hier fündig. Viele Formulierungen sind treffend, fast schon genial, fordern aber geradezu den Widerspruch heraus. Es bleiben genug Lücken – oder „Leerstellen“ – für kluge MitdenkerInnen.

Vorworte haben es in aller Regel schon in sich. „Dieses Buch ist eine Einladung zu Entdeckungen. Ich hoffe, dass es ermutigende, tröstende und stärkende Entdeckungen und zugleich selbstkritische und ein Umdenken provozierende Entdeckungen sind… Entdeckt die Kirche ihren Ort im Weltabenteuer Gottes, so kann sie beides überwinden, die Selbstillusionierung und die Erschöpfungsdepression. Im Weltabenteuer Gottes kann sie mit der notwendigen Verwegenheit und möglichen Gelassenheit Glaube, Liebe und Hoffnung kommunizieren. Wer dies interessant findet, der sollte weiterlesen“ (S. 5).

Es geht darum, das Weltabenteuer Gottes zu entdecken, um dann auch die Kirche neu zu entdecken, ohne Überforderungen, Enttäuschungen und Verletzungen. Thetisch formuliert: „Pfarrerinnen und Pfarrer sind als ‚menschliche Leuchttürme‘ nach Jahrzehnten organisatorischer Kirchenreformen zunehmend ausgezehrt und erschöpft“ (S. 6) – „Jahrzehnte von Reformen der Organisationsstrukturen haben weder zu einschlägigen Erfolgen (‚Wachsen gegen den Trend!‘) noch zu einer inneren Entspannung geführt. Oder sollen sich die evangelischen Kirchen gesundschrumpfen?“ (S. 6). Diese Frage taucht bei Thomas immer wieder auf.

Thomas schlägt vor, „die Nerven bewahren und Entdeckungen machen. Solche, die das Selbstbewusstsein der Kirchen und ihrer Mitglieder stärken und solche, die Korrekturen auslösen“ (S. 7). Das Buch ist insofern auch ein „Kursbuch“, ein „Manifest“, eine „Denkschrift“. Gleichzeitig ein „Meditationsbuch“. Alles leichtfüßig, gelegentlich gewagt, oft provozierend. Man kann irgendwo anfangen, hängenbleiben, das Buch weglegen, neu aufschlagen. Heute hier, morgen dort. Die Gedanken tragen sich gegenseitig, nähern sich an, verziehen sich, aber das Gefühl, in ihnen unterzugehen, stellt sich zu keiner Zeit ein. Es ist ein Prozess, ein Weg. Dass Thomas die Kirchen auch bei ihren starken Seiten zu nehmen weiß, ist nicht nur beiläufig zu erwähnen. „Die Leser, die ich mir selbst wünsche und erhoffe, sind Menschen, die zunächst in der Kirche Verantwortung für die Kirche übernehmen möchten und dann auch die Verantwortung der Kirche für ihre Umgebungen erkennen möchten“ (S. 8). Die Reihenfolge ist nicht unwichtig: zunächst in der Kirche Verantwortung übernehmen – dann aber auch die Verantwortung der Kirche für ihre Umgebung erkennen (und einfordern). Ausdrücklich sind nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer angesprochen. Thomaswürde sich freuen, „auch faire Skeptiker und neugierige Zweifler“ zu erreichen. Kann das gutgehen? Korrekturen auslösen, Mitglieder stärken, Skeptiker und Zweifler erreichen? Und alles in einem? Thomas versteht das Buch auch eher als Essay – das ganz ungeordnet gelesen werden kann (S. 10). Die Lesenden, die sich auf das Buch einlassen, können Möglichkeiten von Korrekturen eruieren, sich und andere stärken oder sich auch als Skeptiker und Zweifler auf ein Abenteuer einlassen.

Hauptanliegen von Thomas ist, „über das Produkt der Kirche nachzudenken“ (S. 21) und das „Eigene“ neu zu entdecken, die Gegenwart angemessen wahrzunehmen und die „Theologie als lösungs- und wahrheitssuchende Unternehmung zu begreifen“ (S. 23), „Gottes Lebendigkeit in ihrem besonderen Reichtum, ihrer Differenziertheit, ihrer Zugewandtheit und Freiheit ernst zu nehmen“ (S. 23) und sie „mit Geduld und Verwegenheit“ nicht zu übersetzen, sondern zu erläutern (S. 25). „Die kecke These des Buches lautet darüber hinaus: Wenn die Kirche die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung ernst nimmt, dann kann sie auch den aktuellen kulturellen Herausforderungen getrost begegnen“ (S. 24). Ich musste an den Volksmund denken: Schuster, bleib bei deinen Leisten.Dieser Ansatz hat durchaus polemische Seiten (ohne grob zu werden) und widerspricht den funktionalen Ansätzen von Religion. Ivo Bäder-Butschle / Detlef Lienau, Funktionalisierte Religion. Soziologische Perspektiven auf Religion und Kirche, Leipzig 2021, verweisen in ihrer Arbeit auf Thomas und seine „originär theologische Bestimmung der Kirche“. Dass wir den Reichtum dieses Buches, die vielen Beobachtungen, die vielen Schlussfolgerungen, die kunstvollen sprachlichen Formulierungen nicht gebührend würdigen können, ahnt jeder, der das Buch in die Hand nimmt. Wir machen drei – zufällige – Probebohrungen.

Beginnen wir mit Kap. VI „Die Kommunikation von Glauben“, Abschnitt 2 „Menschlich glauben – jenseits von Gewissheit im Modus von Klage, Bitte, Dank und Lob“ (S. 150ff.). „Glaube mit einer wie auch immer gefassten absoluten Gewissheit zu verbinden“, nennt Thomas „eine der weitreichendsten Fehlorientierungen in der Geschichte der Theologie“, darunter falle auch „die Idee eines absoluten Grundvertrauens“ (S. 150), ohne das theologiegeschichtlich zu erhärten. Wir sollten uns diesen Anfang allerdings gut merken. Ohne Übergang heißt es, Christen würden im Vertrauen „das Weltabenteuer Gottes“ erfahren, „zugleich bedrängend, ermutigend, erhebend und verzweifelnd die Wirklichkeiten dieser Welt“ (S. 150f.). Ist das „relativ“? „Vorläufig“? Das Weltabenteuer Gottes und / oder die Wirklichkeiten dieser Welt? Das ist mehr als ein Spiel mit Worten. Im Gebet sieht Thomas „die elementarste Ausdrucksform des Glaubens“, „Variationen, Gestalten des Glaubens“ (S. 151) und verweist auf den Gebetsruf „Abba, lieber Vater“. Wie weit sind wir von einer absoluten Gewissheit entfernt? In den Modi von Klage, Bitte, Dank und Lob – „entsprechend den vier Gebetsformen der Psalmen“ – wird christlicher Glaube jedenfalls „vielgestaltig gelebt“ (S. 151), wobei die Klage am Anfang (= Ursprung?) stehe. So Thomas. „In allen vier Gestalten des Glaubens ist das Vertrauen, das auf Vertrauen reagiert, der durchlaufende Grundton – auch noch, wenn das Vertrauen in der Klage paradoxe Formen annimmt“ (S. 151). Die Kirche ist „zu jedem Zeitpunkt ein Ort der gelebten Polyphonie des Glaubens – und eben nicht der Ort reinen Glaubens ohne Zweifel“ (151). Warum betont Thomas das so? Hat er „reinen Glauben ohne Zweifel“ kennengelernt? Muss hier eine Grenze gezogen werden? Sind Zweifel und Klage vielleicht verschwistert? Sind sie in diesem Sprachspiel das Gegenbild absoluter Gewissheit, absoluten Grundvertrauens? Philosophisch und theologisch hat der Zweifel doch immer dazu gehört, von Inquisitoren einmal abgesehen. Doch der Fortgang der Argumentation bringt überraschende Einsichten. Sind wir beim Gebet in der Polyphonie des Glaubens, erschließt sich uns auch die besondere Aufgabe der Liturgie. Nach Thomas trifft im Gottesdienst die Freude über die kommende Erlösung auf die Klage über die noch ausstehende Erlösung, die Freude über die geschehene Versöhnung auf die Bedrängnis durch die bleibende Macht des Bösen, der Sünde und des Todes. „Der Gottesdienst ist ein Kampfplatz der Definition des ‚wirklich Wirklichen‘“ (S. 152). Nur der Definition? Im Gottesdienst – er gehört klassischerweise zum „Kerngeschäft“ der Kirche – sprechen, handeln, singen und beten Menschen, „als gäbe es Gott, den lebendigen Gott“ (S. 152). Thomas greift hier auf eine Formulierung zurück, die zwar nicht von Bonhoeffer, aber mit seinem Namen verbunden ist: aus „etsi deus non daretur“ – „als gäbe es keinen Gott“ wird „etsi deus daretur“ – „als gäbe es Gott“! Hier ist kein Zweifel formuliert! Eine „absolute Gewissheit“? Etwas beginnt sich aufzulösen, was schon länger unsere Gedanken begleitet. Der lebendige Gott wird angerufen, sich „korrigierend und tröstend, relativ gewiss machend und, wo notwendig Zweifel säend“ zu uns zu verhalten“ (S. 152). Wir müssen die Formulierung nachzeichnen. „Relativ gewiss machend“ ist nicht „absolut gewiss machend“ – wir können nur menschlich glauben, in der Offenheit, die von Gott selbst kommt. Dazu gehört der Zweifel, der eine eigene Würde hat. Darum heißt es weiter: „wo notwendig Zweifel säend“ – es sind die Zweifel, die wir brauchen, um unter Menschen Menschen zu sein, um vor Gott Menschen zu sein. Ist hier nicht der Unterschied von Gott und Mensch im Gottesdienst zusammengebracht und gewürdigt? In vielen Fällen sind Zweifel (und nicht Gewissheiten) „notwendig“ und müssen sogar gesät werden! Das ist von Gott zu erbitten – und zu erwarten! Christen „kritisieren Gott, wo sie den Eindruck haben, dass Gott hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Sie mahnen und hoffen, wo Gott deutlich mehr versprochen hat, als er gegenwärtig einlöst. Für Mitarbeiter im Weltabenteuer Gottes ist dies auch der Ort, an dem Menschen beginnen, Gottes Rechtfertigung einzuklagen. Sie müssen ja auch als Glaubende und die Welt Wahrnehmende noch in den Spiegel schauen können“ (S. 152). So gesehen erweist sich die Überschrift „menschliche glauben“ als Einführung in eine befreiende Entdeckung, in der Gott Gott ist und Menschen Menschen sind. Aufeinander bezogen in Klage, Bitte, Dank und Lob. Ob es aber „eine der weitreichendsten Fehlorientierungen in der Geschichte der Theologie“ war, „Glaube mit einer wie auch immer gefassten absoluten Gewissheit zu verbinden“, ist am Ende unsicherer als in der Eingangsbehauptung. Oder sind hier Gewissheit und Sicherheit verwechselt? Luther hat das fein unterschieden und für sich selbst Gewissheit eingefordert. Für ihn war die Gewissheit coram deo tatsächlich absolut. Nur nicht als eigene, nur als geschenkte. Extra nos – pro nobis. Dass die Kirche in ihrer langen Geschichte mit „absoluten Gewissheiten“ allerdings viele Gewissen beschwert hat und „Macht“ missbrauchte, ist auch wahr – das meint Thomas.

Aus dem Kapitel IX „Leben im Weltabenteuer Gottes“ lesen wir den Abschnitt 4. „Nochmals: Warum Kirche“ (S. 276ff). Thomas sieht die „kultivierte Hoffnungslosigkeit“ zwischen „Größenwahn und Erschöpfungsdepression“ (so beschreibt er die vorfindliche Situation der Kirche) und schlägt eine andere Blickrichtung vor: „Menschen sind in der Kirche und Menschen sollen in der Kirche sein aus einem so einfachen wie schwer auszusprechenden Grund: Gott braucht sie… weil Gott Menschen in der organisierten Erzählung seines Weltabenteuers als Partner, Verbündete, Zeugen und Mitarbeitern haben möchte… Eine Kirche, die an diesem zentralen Punkt vorsichtig und keck, selbstkritisch und couragiert von Gottes Lebendigkeit aus denkt, ist ansteckend mutig. Und: Es ist ein Abschied von dem offensichtlich schlicht erfolglosen Marktmodell, das im liberalen, auch im evangelikalen, im linksprotestantischen und nicht zuletzt im wellness-orientierten Kirchenverständnis dominiert“ (S. 278). Eine ziemlich pauschale Abgrenzung.

Dass wir – als Kirche – Lösungen für alles Mögliche haben, ist die Lösung sicher nicht. Thomas erinnert daran, dass der Markt andere und bessere Anbieter für dieses oder jenes kenne als die Kirche. „Der offene Abschied von diesem Marktmodell macht – paradoxerweise – die Kirche zu einer interessanten Einrichtung, die einer ganz anderen Logik folgt. Als vom Geist Gottes zu Entdeckungen Ermutigte und Gewürdigte, riskieren Christen das Teilen von Gaben“ (S. 279). Für Thomas heißt in der Kirche sein, an einem Drama teilzuhaben, an einem Ort zu sein, „an dem das große Zeiten und Kulturen überspannende Drama des Weltabenteuers Gottes auf einer kleinen Bühne nachgespielt und vorausgespielt wird“ (S. 280). Kampf eingeschlossen. „Die eigene tragende Erzählung auch gegenüber der Welt wieder zu vertreten – unterscheidend, aber nicht abgrenzend -, ist die Herausforderung. Jenseits von einer trüben Mixtur aus Leben, Transzendenz und Liebe, in klarer Abgrenzung von entfesselten neoliberalen und totalitären, aber auch von sozialdemokratischen und grünen Parteiprogrammen“ (S. 280f.). Oh! War da nicht irgendwo der Vorwurf im Raum, die evangelische Kirche sei sozialdemokratisch, grün, links? Und entfesselt? Eine gnädige Lesart lässt das als Provokation gelten, zieht aber die Brauen hoch. Für die Mixtur aus Leben, Transzendenz und Liebe hätte ich doch gerne die Rezeptur.

Das Anliegen des Autors, die Kirche als Erzählgemeinschaft darzustellen, hat es ab jetzt schwer – obwohl sie „eine Laienspielschar, ein Kreis von Dilettanten, von Amateuren“ ist (S. 284). Thomas meint, die (!) westlichen Gesellschaften tief (!) gespalten zu sehen (S. 286), um dann für die Kirche zu folgern, sie sei (jetzt) „angesichts des zunehmenden Versagens der Medien und politischer Plattformen“ gefragt (S. 287). Fragezeichen. Es ist ein Verdikt – und die Kirche wird überfordert, ihr Scheitern vorprogrammiert. Dass die Kirchen „im Raum der Politik an ihre ganz eigenen kirchlichen Fehler und Irrtümer“ zu erinnern haben (S. 287), ist nur ein schwacher Trost. Dabei will Thomas in der Kirche (nur?) einen „Raum zur Verhandlung von Interessen und unterschiedlichen Sichten auf die Realität“ sehen, in dem „die Kirchen keine Schiedsrichter, keine Therapeuten“, aber „Ermöglicher und Begleiter“ sind (S. 292). Auf die Frage, warum Kirche, antwortet Thomas: „für die Zukunft und die Rettung eines demokratischen Gemeinwesens. Für die Abrüstung im kulturellen Bürgerkrieg. Für die Schaffung eines Verhandlungsraumes. Für die Begegnung von Feinden. Aber das alles fordert von den evangelischen Kirchen viel Selbstbewusstsein. Es erfordert den Mut und die Kraft zur Gegenkultur… Es fordert die Freiheit, nicht Echokammer gesellschaftlicher Empörung sein zu wollen… Es würde den evangelischen Kirchen eine eigene politische Praxis geben… Es wäre eine herausfordernde neue Art von Prophetie. Sie würden ein unscheinbares aber mächtiges Gleichnis des neuen Kapitels im Weltabenteuer Gottes sein.“ (S. 292). Schöne Formulierungen ohne Zweifel, aber im Rausch. Allmachtsphantasien.

Ich sehe Thomas von seinen eigenen Worten weggetragen, obwohl er wohl nur sagen will, die Kirche könnte ihr Eigens einbringen, wenn sie sich nicht gleichförmig („Echokammer“) machen würde (Röm. 12). Klar, Essays dürfen mehr wagen als …, aber wie soll eine Kirche aussehen, die das alles kann und wollen muss, was ihr Thomas wohl zutraut, ohne nicht mehr von dieser Welt zu sein? Ist das Weltabenteuer Gottes? Werden hier nicht Gesetz und Evangelium vertauscht? Spannend ist die Argumentation gleichwohl – ein bisschen mehr Bescheidenheit hätte ihr gut getan. So oder so: die Diskussion könnte sehr kontrovers werden. Wie war das mit „Größenwahn und Erschöpfungsdepression“? Der Abend ist gesichert.

Aller guten Dinge sind drei: „Kirche wie ein Smartphone“. Abschnitt 1 in Kap. X „Halb gehobene und ungehobene Schätze, oder: Aufgaben und Orte in der Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung“ (S.304f.). Thomas hat „eine ganz persönliche Liste halb gehobener, halb ungehobener Schätze der Kirche“ (S. 303). Hier: Smartphone. Ein für den Autor sehr wichtiges Thema ist die Bedeutung der Gemeinden, die – wie er an vielen anderen Stellen kritisiert – von der Kirche stiefmütterlich behandelt oder abgeschrieben werden. Die Frage, die auf dem Tisch liegt und in den anstehenden Verteilungskämpfen bearbeitet werden muss, lautet: Welche Gestalt der Kirche ist zukunftsfähig? Die Gemeindekirche oder die NGO-Bewegungskirche? Es ist ganz deutlich: Die 11 Leitsätze erwarten von der Kirche als Gemeinde keine Impulse für die Zukunft. Weder von ihrem Pfarrpersonal, noch von ihrer Sozialform.“ (Gebrauchsanleitung für das Endspiel, These 1, 2020)

Thomas fragt: „Warum sollte die Kirche wie ein Smartphone sein? Weil sie, in der technischen Sprache der Soziologie gesprochen, die Ausdifferenzierung der Entdifferenzierung sein sollte“ (S. 304). Eine Formulierung mit Pfiff. Oder müsste sie nicht umgedreht werden? Gemeint ist aber, ganz bescheiden, keinen Spezialjob zu haben. Thomas führt die Oma als Beispiel ein, die, wenn es um Mahlzeiten und Bewirten geht, alles kann. Das lässt sich sogar mit schönen Erinnerungen verbinden. „Nicht zuletzt, um die Effektivität zu steigern, hat die Kirche innerhalb und jenseits der Gemeinden Spezialisierungen und Professionalisierungen vorangetrieben“ (S. 305) – Seelsorge, Bildung, Diakonie. „Dies nennt man soziologisch Effektivität durch Ausdifferenzierung und Professionalisierung“, „die dem Muster der sozialen Ausdifferenzierung in der Gesellschaft folgt“ (S. 305). Thomas nennt das aber „eine geradezu lehrbuchreife problemschaffende Lösung“ (S. 305), unter deren Erfolgen man begraben werden kann. „Am Smartphon!“ (S. 306) könne man das erkennen. Was dann folgt, ist eine kleine Unternehmensgeschichte.

Für Thomas ist „der milliardenschwere Konzern Nokia“ zugrunde gegangen, weil er „die Entwicklung des Smartphones verschlafen“ (!) habe (S. 306): Das Smartphon vereinigt in sich viele Funktionen, die zusammen agieren – in einem Gerät. „Und dies gegen die technischen Tendenzen der Ausdifferenzierung. Die Verbindung selbst stellt einen Wert dar, für den die Menschen bereit sind, viel zu zahlen – weil sie die Verbindung wertschätzen“ (S. 306). Die womöglich exzellenteren Einzelkomponenten bleiben abgeschlagen zurück. Das Smartphone ist Telefon, Computer, Kamera, Navi usw. Nokia ist „das Modell eines Scheiterns am Optimieren im Einzelnen“ (S. 306f.). Was sich wie ein Exkurs liest, der irgendwie weit hergeholt wirkt, wird zum Schlüssel für die Wahrnehmung und Beurteilung kirchlicher Entwicklungen, die eine gewisse Analogie haben: „die radikale Aufgabenteilung in den Kirchen“ führte „zur Verödung der Gemeinden“ (S. 307).

Dass Analogien nur bedingt passen, wird man auch bei dem Nokia-Beispiel nachweisen können – die Interpretationsspielräume sind doch weiter als vorgeführt- , aber Thomas sieht in der kirchlichen Ausdifferenzierung mächtige schwelende Konflikte „zwischen den drei großen Gestalten der Kirche: 1. Der sozial-unternehmerischen, vom Staat weithin finanzierten Diakonie, 2. den kirchlich finanzierten Werken, Initiativen und Diensten und 3. der Kirche als Gemeinde“ (S. 307). Thomas meint sogar, dass „diese Spezialisierung dazu geführt“ hat, „dass eine Kundenmentalität befördert wird: Kirche ist eine Firma auf dem sozialen und moralischen Markt, bei der man je nach Gelegenheit eine Leistung einkaufen kann. Es gibt wie die Postagentur die Moralagentur“ (S. 307). Zwar scharfzüngig beobachtet, gibt es aber diese Kirche schon lange nicht mehr: Die unter 1 und 2 genannten Phänomene – und Institutionen – haben eigene Anschriften, Logos, Führungsriegen und Beschäftigungsverhältnisse, Haushaltspläne, Aufsichtsbehörden und Unternehmensgeschichten. Sie sind weitgehend nicht einmal mehr als Kirche identifizierbar oder auf dem Markt als Kirche wahrnehmbar.

Da spielt die Gemeinde vor Ort – mit dem berühmten Kirchturm – tatsächlich eine andere Rolle. Insofern ist die Argumentation, die Thomas aufbaut, ambivalent, unabhängig davon, dass der Staat – was auch immer mit ihm gemeint ist – für die Moralagentur Kirche gute Worte und gutes Geld hat. Thomas weist darauf hin. Dass Kirche gerne in die Rolle schlüpft und sich gerne in sie drängen lässt, ist als Flucht in die Bedeutung verständlich. Etwas anderes ist es, mit fünf Leuten im Heim einen Gottesdienst zu feiern oder 2 Stunden Schweigen auszuhalten. Darin hat der Autor unbedingt recht: es „sind niederschwellige Modelle und Praktiken notwendig, mit denen sich für die Gemeindeglieder, ja, für echte Laien, Glaube, Liebe und Hoffnung verbinden“ (S. 307f.). Nachdruck verdient der Begriff „echte Laien“! In seiner „Gebrauchsanleitung für das Endspiel?“ hat Thomas in These 5 „Wozu braucht man Laien in der Profi- und Freizeitreligion?“ eine Phänomenologie der Laien vorgelegt und zwischen Viertel-, Halb- und Voll-Laien unterschieden. Gemeint sind hier die Voll-Laien als „echte Laien“. Die Flüchtlingskrise 2015/2016 ist für Thomas das Beispiel, wie in den Gemeinden „sehr schnell unglaubliche personelle Ressourcen“ aktiviert werden konnten (S. 308). „Weil sich viele ‚einfache Christen‘ hier als Nicht-Profis an der Kommunikation von Liebe und Hoffnung beteiligen konnten! Es gab etwas zu tun! Auch für Männer!“ (S. 308).

Thomas will die „Entwicklung der Aufgabenteilung, Spezialisierung und Professionalisierung“ zwar nicht zurückdrehen, aber in den erwartbaren Verteilungskämpfen – auch „im langen Schatten der Coronakrise“ – „zwischen funktionalen ‚Werken und Diensten‘ auf der einen Seite und Gemeinden auf der anderen Seite“ die Gemeinden stärken. „Wenn die Kirchen von der Karriere des Smartphones etwas lernen können, dann dies: Es gilt – trotz und wegen der langen Geschichte der Aufgabenverteilung – Modelle und Formen zu entwickeln, die erfahrungsnah und intensiv eine Erfahrung der Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung ermöglichen. In dieser Verknüpfung wollen und sollen Menschen am Weltabenteuer Gottes teilhaben.“ (S. 308f.). Ob aber (nur) die Gemeinde die besondere Aufgabe hat und schultern kann, „mit ausstrahlungsreichen Initiativen die Aufgabenteilung von Glaube, Liebe und Hoffnung zu überwinden“ (S. 309)? Am Ende formuliert Thomas noch einmal technisch (und thetisch): „Gemeinde ist der Ort der Ausdifferenzierung der Entdifferenzierung. Wer das nicht glaubt: Nokia ist das Menetekel (Daniel 5,25)“ (S. 309). Doch: Stimmt diese Formulierung? Müsste es nicht heißen: Entdifferenzierung der Ausdifferenzierung? Es könnte sein, dass Thomas sich auf den Leim gegangen ist.

Es waren (nur) drei Probebohrungen in einem steinigen Gelände. Es ist ein Lesebuch, das spannende Einsichten, Fragen und Differenzierungen (um nicht Widersprüche zu sagen) freisetzt. Was halten Sie davon, mit „Pfarrerinnen und Pfarrer“ – Abschnitt 2, Kapitel X (S. 309ff.) – weiterzumachen? „Pfarrer sind Handwerker einer gebundenen Imagination. Sie kämpfen um Worte, ringen um ein Verstehen der Geschichte“ (S. 310). Seine Thesen hat Thomas auch auf einem Pastoralkolleg der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland am 25.05.2021 zugespitzt und auch provokativ vorgetragen. „Welche Theologie braucht das Pfarramt im 21. Jahrhundert?“ – Der Vortrag ist zu sehen und zu hören unter: https://www.pastoralkolleg-rz.de/video/Guenter-Thomas.mp4 oder nachzulesen: https://www.pastoralkolleg-rz.de/pdf/Thomas_Pfarramt-21Jh.pdf. Thomas hat bei der Vorstellung seines Buches im Deutschlandfunk die Sorge geäußert, die Leitung der Evangelischen Kirche verliere den Kontakt zu den Gläubigen; die Entscheidungsträger entfernten sich von den Alltagsfragen der Menschen, sagte er. https://www.deutschlandfunk.de/theologe-guenter-thomas-das-spd-problem-der-evangelischen.886.de.html?dram:article_id=494007. Viele Impulse zur Verantwortung der Kirche. In der Kirche. Für die Kirche – 1, 2, 3?

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Heinz Janssen
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