“Durch Liebe wird alles gerettet”
Entbunden von jeglichem Opferzwang und befreit zur Liebe zu uns selbst und zu anderen Menschen - das Suchen nach Sündenböcken können wir uns durch Jesus von Nazareth seit Karfreitag sparen
Predigttext: Hebräer 9,15.26b-28 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
15 Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
26b Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer, die Sünde aufzuheben. 27 Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: 28 so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Vorbemerkungen
Die Denkmuster des Hebräerbriefes sind dem modernen Menschen völlig fremd: Mittler, neuer Bund, ewiges Erbe, ein für allemal, durch sein Opfer Sünde aufheben, Gericht, Heil, ganz zu schweigen von dem Bild des Hohenpriesters in den Versen 19-25. Die Deutung des Todes Jesu mit Hilfe alttestamentlicher Opfervorstellungen (Blutvergießen) stößt heute auf großes Unbehagen. Im Übrigen ist sie e i n Sinnerklärungsmodell für Jesu Kreuzestod unter vielen. Daneben kennt das Neue Testament ua. die Bilder von Loskauf, Lösegeld, Propheten- und Märtyrertod sowie Geschick des leidenden Gottesknechtes.
Anknüpfend an die Aussage des Hebräerbriefes, dass Christi Opfer einmalig ist, thematisiert die Predigt die heutige Opferpraxis und kommt zu dem Schluss, dass ein Opfer nur aus/in Liebe Sinn macht, die einem anderen Menschen unsagbar Gutes tut. Ich empfehle zur Opferthematik den Aufsatz von Werner H. Ritter, Opfert ein liebender Gott seinen Sohn in: DtPfrbl 3/2004 (im Internet zugänglich). F. M. Dostojewski-Zitat in der Predigt aus: Axel Kühner, Zuversicht für jeden Tag, Neukirchen-Vluyn, 2. Aufl. 2002, S. 232f.
Hinführung vor der Predigt
Hohn und Spott unterm Kreuz
(nach Mathäus 27,31-56 und Lukas 23,33-49)
(Die nachfolgenden Personen kommen aus verschiedenen Richtungen, bleiben unter dem Altar-Kreuz stehen, sie sind durch ein Symbol ausgewiesen und sprechen ihren Satz.)
- Ein Volksvertreter (Hut): (zeigt auf das Kreuz) Da seht, wie hilflos und ohnmächtig er da hängt.
- Einer der Oberen (Gewand): Er hat anderen geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.
- Ein Vorübergehender (Stock): Der du den Tempel abbrichst und baust ihn in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!
- Ein Schriftgelehrter (Schriftrolle): Andern hat er geholfen und kann sich selbst nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.
- Ein Ältester (Schriftrolle): Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
- Ein Soldat (Schwert): Bist du der Juden König, so hilf dir selber!
- Ein Volksvertreter (Hut): Seht die Aufschrift über ihm: „Dies ist der Juden König“.
- Einer der Übeltäter (Schild: schuldig): Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns.
- Der andere Übeltäter (Schild: schuldig): Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.
- Der Hauptmann (Helm): Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen. (Oder: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.)
(Instrumentalmusik)
Das Ereignis der Kreuzigung Jesu im Jahre 30 auf dem Hügel Golgatha vor den Toren Jerusalems ist uns wohl vertraut. Ein Mann stirbt auf eine schändliche Art und Weise am Kreuz. Die Römer haben ihn wegen Volksaufhetzung angeklagt, die Juden wegen Gotteslästerung. Seine Anhänger sind ratlos und verzweifelt. Als sie wieder einigermaßen klar sehen können, suchen sie nach einer Deutung für diesen Tod. Er muss doch einen Sinn haben. Nur wenn dieser Kreuzestod einen Sinn hat, ist er nicht umsonst gewesen. Es haben sich im Laufe des ersten und zweiten Jahrhunderts unterschiedliche Deutungen des Todes Jesu herauskristallisiert. Der Hebräerbrief deutet den Tod Jesu am Kreuz als ein einmaliges Opfer. Das Ziel dieses Opfers liegt darin, “die Sünde aufzuheben”. Dazu ist Jesus der Mittler des neuen Bundes zwischen Gott und Menschen. So hat der gewaltsame und schändliche Tod Jesu seinen Sinn in der Aufhebung der Sünde, die Gott und Menschen voneinander getrennt haben.Dieser Gedanke des einmaligen Opfers mag uns befremdlich anmuten. Der Hebräerbrief weiß von dem Opferkult des alten Bundes, der von Menschen stets wiederholt werden musste, um Gott gnädig zu stimmen und das eigene Gewissen zu beruhigen. Diesem Opferwiederholungszwang tritt nun “der Mittler” entgegen. “Ein für allemal” hat er diesen Opferzwang aufgehoben. Jegliche Art von Sühne, die ein Mensch zur eigenen Beruhigung praktiziert, hat damit ihre Bedeutung verloren.
Auch wenn uns heute Opfer im religiösen Sinne fremd erscheinen, kennen wir Menschen, die Opfer bringen oder zu Opfern werden. Männer opfern sich auf für ihre Karriere und opfern dafür auch ihre Freizeit und Gesundheit. Frauen opfern sich auf für die häusliche Pflege eines Angehörigen und denken dabei kaum mehr an sich selbst und ihr Wohlbefinden. Jugendliche opfern ihre Unabhängigkeit und ihr eigenständiges Denken, um Anerkennung in der Clique zu finden. Die gerade veröffentlichte Statistik hat gezeigt, dass die Zahl der Drogenopfer in Deutschland rückläufig ist. Aber wir kennen auch die, die Opfer von Mobbing in der Schule oder von Stalking am Arbeitsplatz werden. Opfer im Straßenverkehr oder durch Gewaltverbrechen sind zu beklagen. Wie viele Menschen fallen Katastrophen zum Opfer und verlieren Hab und Gut oder gar ihr Leben. Es kommt immer wieder vor, dass wir uns selbst in der Opferrolle entdecken und darüber schrecklich entrüstet sind. Manchmal sind wir auch bereit, ganz freiwillig Opfer zu erbringen. Dann nämlich, wenn wir ein bestimmtes Ziel verfolgen. Wenn es auf diesem Wege nötig ist, auf etwas zu verzichten oder eine bestimmte Leistung zu erbringen. Mit dieser Absicht leiden wir auch nicht unter diesem Opfer, sondern erbringen es notwendiger Weise, um etwas zu erreichen, was uns wichtig und wert ist. Wer also aus Liebe bereit ist, ein Opfer zu erbringen, der wird einem anderen Menschen etwas unsagbar Gutes tun.
In der Tat gibt es Situationen, in denen die Liebe gefragt ist. Liebe, die sich hingibt an einen Menschen. Liebe, die in dieser Hingabe dem Anderen etwas unsagbar Gutes tut. Die für einen Moment, ohne nachzudenken, selbstlos handelt und nicht danach fragt, was für einen selbst dabei herausspringt. Vielleicht ist das nicht unbedingt die Regel in unserem menschlichen Denken und Trachten. Wo aber eine solche Hingabe aus Liebe geschieht, da wird unsere Sehnsucht nach Erlösung und Heil gestillt. Christus sei für uns gestorben, sagt der Hebräerbrief in seinen althergebrachten Denkmustern, die wir heute kaum nachvollziehen können. Das heißt nichts anderes, als dass er vor Gott für uns eintritt. Darum hat er mit Zöllnern und Sündern zu Tische gesessen, Menschen geheilt und ihnen die Vergebung ihrer Sünden zugesprochen. Darum hat er die frohe Botschaft verkündet, dass Gott uns wie ein Vater seine Kinder liebt. Auf diese Weise hat er Menschen ihre verlorengegangene Handlungsfreiheit wiedergegeben. Diese Handlungsfreiheit lässt uns unsere Lebensmöglichkeiten erkennen. Wir müssen uns nicht ständig mit einem schlechten Gewissen herumschlagen. Das Suchen nach Sündenböcken können wir uns sparen. Der Perfektionismus in uns hat keine Macht mehr über uns. Das Schwarze-Peter-Spiel ist ausgespielt. Damit wir selbst nicht Opfer sind und andere nicht zu Opfern machen. So sind wir entbunden von jeglichem Opferzwang und befreit zur Liebe – zu uns selbst und zu anderen Menschen.
Eindrücklich erzählt der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski in seinem Roman “Die Brüder Karamasow”, wie eine junge Bäuerin in ihrer Verzweiflung den berühmten Starzen Sosima aufsucht. Sie hat ihren Mann, der ihr viel Böses angetan hat, in einer schweren Krankheit sterben lassen. Nun ist sie voller Angst und Schuld und wendet sich Rat suchend an den Starzen. Und der hat tröstliche Worte für sie:
“Fürchte nichts und fürchte dich niemals, und gräme dich nicht. Wenn nur die Reue in dir nicht erlahmt – dann wird Gott dir alles vergeben. Solch eine Sünde gibt es nicht in der ganzen Welt und kann es gar nicht geben, die Gott der Herr einem wahrhaft Reuigen nicht verziehe. Ein Mensch kann gar nicht eine so große Sünde begehen, dass sie die unendliche Liebe Gottes erschöpfe. Oder kann es eine so große Sünde geben, dass sie Gottes Liebe überwöge? Um Reue sei nur besorgt, um unablässige Reue, die Furcht jedoch scheue gänzlich von dir. Glaube daran, dass Gott dich so sehr liebt, wie du es dir nicht einmal vorstellen kannst, dich sogar mit deiner Sünde und in deiner Sünde liebt. Über einen Sünder, der Buße tut, wird im Himmel mehr Freude sein als über zehn Gerechte, so steht es seit langem geschrieben. Geh also und fürchte dich nicht. Lass dich nicht erbittern gegen die Menschen; ärgere dich nicht, wenn dir Unrecht geschieht. Dem Verstorbenen vergib in deinem Herzen alles, womit er dich gekränkt hat; versöhne dich mit ihm in Wahrheit. Wenn du bereust, so liebst du auch. Liebst du aber, so bist du auch schon Gottes Kind. Durch Liebe wird alles erkauft, alles gerettet. Wenn schon ich, ein ebenso sündiger Mensch wie du, deinetwegen Rührung und Mitleid empfand, um wie viel mehr wird es dann Gott tun? Die Liebe ist ein so unsäglich großer Schatz, dass man damit die ganze Welt kaufen könnte; nicht nur die eigenen Sünden kannst du damit loskaufen, sondern auch fremde. Geh denn und fürchte dich nicht”. Er segnete sie dreimal mit dem Zeichen des Kreuzes.
Auch wenn die Opfervorstellungen des Predigttextes zuerst fremd erscheinen oder unter manchen Theologen und Zeitgenossen heute in Frage gestellt werden, gelingt es Pfarrer Klein, sie lebendig zu aktualisieren. “Wer aus Liebe bereit ist, ein Opfer zu erbringen, der wird einem anderen Menschen etwas unsagbar Gutes tun.” Jesus hat sich in seinem Leben bis zum Kreuz so eingesetzt für Zöllner und Sünder und Außenseiter, hat Menschen geheilt und ihnen die Sündenvergebung zugesprochen, sich Feinden fair gestellt und sich aufgeopfert für uns. Zum Schluss erzählt der Prediger dazu etwas sehr Eindrückliches aus den Brüdern Karamasoff von Dostojewski.