Weitergeben, was aufrichtet
Authentische, wahre "Hirten" sind gefragt - Rückfragen und Kritik erlaubt
Predigttext: 1. Petrus 5, 1 – 4 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: 2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; 3 nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde. 4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
(5 Desgleichen, ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter. Alle aber miteinander haltet fest an der Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.)
Zum Predigttext
Eine Predigt über 1Petr 5, 1 – 4 steht nach meiner Sicht vor der Aufgabe, die scheinbar divergierende Gemeindetheologie innerhalb des 1 Petr anzusprechen oder wenigstens anzudeuten. Gelten 1 Petr 2, 9 und 1 Petr 4,10 als grundlegende Belegstellen einer basisorientierten Gemeindetheologie, so kann der vorliegende Text eher noch als Parallele zu dem (auf Sukzession beruhenden) Gemeindemodell der Apostelgeschichte angesehen werden. (20, 28.29 u. ö.). Letzteres verstärkt sich, wenn man in V. 2 die Variante mitliest: „…indem ihr euren Bischofsdienst ausübt“.
Predigthörerinnen und – hörer, die sich die biblische Mündigkeit des Zeugendienstes einer Christin / eines Christen zu Eigen gemacht haben, werden beim ersten Hören des Predigttextes möglicherweise eine Blockade verspüren. Darum ist es aus meiner Sicht schwer nachvollziehbar, wenn diese Spannung innerhalb des 1 Petr vor der Gemeinde nicht benannt und eine Klärung versucht wird. Der Text gibt das aus meiner Sicht her. Die Predigt ist ein Plädoyer für das „Allgemeine Priestertum“. Meine Hoffnung ist, dass sie vielleicht darüber hinaus jene Hirtinnen und Hirten stärkt, die an sich arbeiten und ringen, fachlich gute Theologinnen und Theologen zu sein. Der Ton liegt auf einer qualifizierten Weitergabe und Lehre des Wortes. Sie möchte schließlich ein Impuls darin sein, dass sich „die allgemeinen Priester/Priesterinnen“ um ihre Weiterbildung bemühen.
Die Gemeinde, an die 1 Petr gerichtet ist, muss als Gemeinde im Leiden verstanden werden. Nach 4,13 gehört die Teilhabe am Leiden Christi zu ihr. Leonhard Goppelt bezeichnet sie darum als eine „Sondergemeinde“, (die) „einen Dienst nötig (macht), der den einzelnen nachging und Angefochtene wie Irrende zurecht brachte“ (Leonhard Goppelt, Der Erste Petrusbrief, Göttingen 1978, hrsg. von Ferdinand Hahn, S. 325). Darauf nehme ich in der Predigt Bezug. Die abschließende Universalisierung, die ich vornehme, indem ich die Ermahnungen von 1 Petr, die an Amtsträger gerichtet sind, auf jeden „Stand“ im Sinne Martin Luthers übertrage, hinterlässt bei mir Unzufriedenheit. Bis zum Abgabetermin ist mir keine bessere Lösung gelungen.
Predigtlied
"Nun jauchzt dem Herren alle Welt" (EG 288,1-3)
Empfehlung zum Fürbittgebet
- für die Menschen im Heiligen Land, die verschiedenen Religionen angehören
und von denen jede und jeder seine eigenen Vorstellungen von Gott und Hirtentum hat,
- Israel, das Du erwählt und berufen hast,
- für Versöhnung,
- für Beendigung der Kriege,
- für die Schwestern des Ordens „Guter Hirte“ in Syrien, für ihr Ordenshaus, dass es ein Haus der Zuflucht bleibt...
Die alte chinesische Philosophie meinte, dass etwas nur vollständig sei, wenn man es in Gegensätzen denke. Diesen gegensätzlichen Polen gab sie die Namen „Yin und Yang“, was sich (ungenau) mit das „Aufsteigende und das Absteigende“ übersetzen lässt. Beschreibt man das Leben in seiner Ganzheit, so war und ist die Überzeugung der chinesischen Philosophie, kann man es nur tun, wenn man beides zusammenfügt, was dann einen Kreis ergibt. Legen wir neben den Predigttext eine Passage aus dem 1. Petrusbrief, die etwa drei Kapitel zuvor steht, kann man meinen, dass entweder diese oder die Aussage unseres Textes gelten kann. Wenige Verse vor der Epistel aus dem 1. Petrusbrief, die wir gehört haben, wird in (2,9) in unglaublicher Kühnheit auf die Kirche Jesu Christi übertragen, was in 2. Mose 19,6 dem Volk Israel gesagt wurde: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zum Licht”. Nach diesen Worten ist jede Christin / jeder Christ – wie jede Jüdin /jeder Jude – eine Predigerin, ein Prediger der Güte Gottes vor den Menschen. Das Verständnis der Synagogengemeinde, das jüdische Verständnis von Gemeinde, wird auf die christliche Gemeinde übertragen.
Verträgt sich damit ein Verständnis von Gemeinde, bei dem es „Hirt und Herde“ gibt: „Die Ältesten unter euch ermahne ich …: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist“. Nimmt der Autor des 1. Petrusbriefes hier zurück, was er zuvor über das Priestertum aller Gläubigen schrieb? Beginnt mit dem 5. Kapitel des Petrusbriefs die frühkatholische Zeit? Es ist für uns als Christinnen und Christen der Reformation eine Aussage, mit der unser Kirchenverständnis steht und fällt: das „Allgemeine Priestertum aller Gläubigen“. Wird das hier eingeschränkt und relativiert durch „Hirt und Herde“? Wie verhält sich ein Hirte nach der Überzeugung des Verfassers des 1. Petrusbriefes? Er bezeichnet sich selbst als „Zeuge des Leidens Christi“, womit er seine leidvollen Lebenssituation am Ende des 1. Jahrhunderts umschreibt. Er weiß, was Leiden und Verfolgung sind, und kann das „bezeugen“. Er schreibt seinerseits an Christinnen und Christen, die unter Verfolgung und Schmach leiden. Seine Worte sollen zum Ausdruck bringen, dass er, wie sie, das gleiche Schicksal hat. Er ist „Zeuge des Leidens Christi“ als „Tatzeuge“, als einer der durch die Tat seines Lebens für Christus zeugt (Norbert Brox, Der erste Petrusbrief, Zürich 1979, S. 227). Was ihn offenbar selbst aufrichtet, schreibt er den Geschwistern. Was ihm Kraft gibt, gibt er weiter. Was er selbst angenommen hat, sagt er: „So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Ehre empfangen.“
Wie verhält sich ein Hirte nach der Überzeugung des Verfassers des 1. Petrusbriefes? Beurteilen wir Stil und Worte, so erkennen wir trotz ihrer Knappheit das deutliche Bemühen, den Glaubensgeschwistern nahe zu sein und das weiter zu geben, was ihm selbst hilft und tröstet. Entscheidend ist, was das Kennzeichen eines guten Hirten ist: Er fühlt mit, ist ganz dicht bei den ihm Anvertrauten. Ich möchte dazu kurz von Schwester Georgina Habbache erzählen (Bericht des kath. Hilfswerks „missio“, vgl. Klaus Böllert, Morgenandacht des DLF am 2.4.2012). Schwester Georgina und andere Schwestern ihrer Kongregation haben trotz des schweren Bürgerkrieges die syrische Stadt Homs nicht verlassen. Das Ordenshaus bleibt für verfolgte, als Geisel genommene, vergewaltigte Frauen als Zufluchtsstätte offen. Solange es nicht zerstört wird, halten die Schwestern aus. Ihre Lebensweise, niemanden auszugrenzen und im Gebet zu verharren, geben sie weiter. Werden Sie nach dem Motiv ihres Handels und ihrer Solidarität gefragt, so antworten sie: Der Name unseres Ordens ist „Der Gute Hirte“. In seinem Sinn bemühen wir uns zu leben.
Ein weiteres Kennzeichen eines Hirten im Sinn des 1.Petrusbriefes hört sich fast gleich an, meint aber doch Anderes. Der Briefschreiber sagt: „Weidet die Herde Gottes … nicht als die, die über die Gemeinde herrschen!“ Womit und worin “weiden” Älteste, Gemeindeleiter, Katechetinnen, Religionslehrer, Pastoren / Pastorinnen die Gemeinde? – Sie „weiden“ mit ihren Worten. Kriterium eines guten Hirtenwortes ist nach Meinung des Briefautors, dass es in gar keiner Weise ein Wort „von oben herab“ ist, sondern ein solches, das ganz neben den Worten der Hörerin und des Hörers seinen Platz hat, sich auf einer Ebene mit ihnen weiß. „Weidet die Herde Gottes … nicht als die, die über die Gemeinde herrschen!“ Das bedeutet: Rückfragen und Kritik gegenüber den Worten des Hirten sind erlaubt, ja erwünscht. Denn der wahre Diener im Hirtenamt weiß: Nur derjenige, der sich seinen Standpunkt in Rede und Gegenrede erarbeitet hat, kann selbständig „königlicher Priester“ sein und des Herrn Wohltaten in der Welt verkündigen. Je offener, je spannungsreicher das Gespräch über die Worte derer ist, die den Hirtendienst ausüben, desto besser bewegt es sich darum in der Spur des 1. Petrusbriefes: „Weidet die Herde Gottes … nicht als die, die über die Gemeinde herrschen!“
Ob sich die Überzeugung vom königlichen Priestertum aller Gläubigen mit dem Bild von Hirt und Herde verträgt, ob es sich wie Yin und Yang zusammenfügt oder ob es sich um Gegensätze handelt, die sich ausschließen? Wir sind nun in der Lage, eine Antwort zu geben. Versteht sich der Hirte als ein „Oben“, der eine Herde „unten“ leitet, ist sein Verständnis vom Hirtenamt so, dass er Gehorsam und Unterwerfung erwartet, so sind beide Texte in der Tat unvereinbar. Ist der Hirte aber der, wie er hier beschrieben wird, einer, der „nicht von oben weidet“, sieht es anders aus. Der erste Petrusbrief hat ganz offenbar eine Vorstellung vom Hirtenamt, die sich sehr wohl mit der vollkommenen Selbständigkeit der Geleiteten verträgt. Es gibt aus seiner Sicht Hirten, die ihr Hirtenamt ausüben, „die Schafe weiden“ ohne dass die von ihnen Geweideten ihrer Autonomie beraubt werden. Umgedreht, und von der „Herde“ aus gedacht, gilt andererseits ohne Einschränkung: Wer das wirklich angenommen hat, als „königlicher Priester“ an seinem Platz „die Wohltaten Gottes zu verkündigen“, wünscht, ja fordert es, dass es Hirten gibt, die ihn und seinesgleichen mit ihren Worten „weiden“. Er will den Hirten nicht, weil er sich nach einer starken Hand und Führung in seinem Leben sehnt, sondern, weil er es für sich selbst als vorteilhaft und förderlich ansieht, wenn es Hirten gibt, die ihn unterweisen.
Wiewohl sich der Predigttext an „Amtsträger“ richtet (Norbert Brox, Der erste Petrusbrief, Zürich 1979, S. 226 und passim), geht es aber schließlich nur in dem Sinn um sie, indem sie transparent gesehen werden und Weiteres hinter ihnen gesehen wird. Es geht um die „Amtsträger /Amtsträgerinnen“, aber es geht nicht allein um sie. Es geht, sozusagen durch sie, um uns alle, denn wir sind zumeist alle an irgendeinem Ort „Hirten“: (So bereits Wilhelm Stählin, Predigthilfen Band II, Kassel 1959, S. 416) Eltern sind „Hirten“ gegenüber ihren Kindern. Großeltern sind „Hirten“ gegenüber ihren Enkelkindern. Lehrer, Vorgesetzte und Meister, Vereinsvorsitzende und Leiter einer Gemeinschaft sind „Hirten“ für ihre Gruppe. Vater und Mutter, Großvater und Großmutter, Lehrer und Vereinsvorsitzender … sollen sich verhalten, wie der Apostel es hier in Blick auf die Ältesten schreibt. Sind sie Hirten nach biblischer Qualität, so sind sie solidarisch „unten“. Sie geben ihre persönlichen Erfahrungen weiter und vermitteln ihre ureigenste Lebensüberzeugung. So werden sie authentische, d. h. wahre Hirten. Ihre Umgangsform ist geprägt von der Kenntnis ihrer „Materie“, denn nur so können sie „weiden“, d. h. anleiten. Ihre Verortung „da unten“ bedeutet, dass sie Kritik annehmen, sich ihr aber auch stellen und zurück weisen, aber nie und nimmer von oben herab. Der lateinische Name dieses Sonntags bedeutet „Barmherzigkeit des Herrn“, eingebürgert hat sich „Sonntag des Guten Hirten“.