Neuanfang

Vergeben und vergessen

Predigttext: Jeremia 31,31-34
Kirche / Ort: Hamburg
Datum: 20.05.2012
Kirchenjahr: Exaudi (6. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Pastor Christoph Kühne

Predigttext: Jeremia 31, 31-34 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,  32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloß, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;  33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.  34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

(Eigene Übersetzung Christoph Kühne, 2012)

31 Siehe, Tage kommen – Spruch von GOTT -, dass ich mit dem Hause Israel und dem Hause Juda einen neuen Bund schließen werde. 32 Nicht wie der Bund, den ich geschlossen habe mit ihren Vätern, an dem Tag, an dem ich ihre Hand ergriffen habe, um sie aus Ägypten herauszuführen.  Diesen meinen Bund haben sie (!) zerbrochen, und ich (!) ich war doch ihr „Ehemann“ für sie – Spruch von GOTT. 33 Vielmehr ist dies der Bund, den ich mit dem Hause Israel nach (!) diesen Tagen schließe – Spruch von GOTT: Ich lege meine Weisung in ihr Inneres, und auf/in ihr Herz schreibe ich sie, und ich werde ihnen zu(m) Gott, und sie werden mir zum Volk. 34 Und nicht werden sie weiter jeder seinen Nächsten und jeder seinen Bruder belehren: „Erkennt GOTT!“ Denn sie alle erkennen mich von ihren Kleinen bis zu ihren Großen – Spruch von GOTT; denn ich vergebe ihre Schuld, und ihrer Verfehlung gedenke ich nicht weiterhin.

Gedanken beim Lesen (I.), Anmerkungen zum Predigttext (II.), Gedanken zur Predigt (III.)

I.    Anrührende Wort von einem neuen Bund, den Gott mit uns Menschen schließen will, werden hier formuliert: aus den Menschen selbst kommt die Erkenntnis. Es gibt keine Subjekt- Objekt- Beziehungen mehr. „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Es gibt keine (äußere) Lehre von Gott (z. B. Theologie) und den Menschen (z. B. Anthropologie, Psychologie) mehr. Entfremdung der Menschen voneinander ist ein Fremdwort. Wir verstehen uns. Auch durch alle Generationen. Pfingsten.

II.    31 Das hebr. „zwischen zwei Parteien einen Bund schneiden“ wird in LXX zu „eine Verfügung verfügen“. Was ist mit dem „neuen Bund = novum testamentum“ gemeint? Jüdische und christliche Exegeten sprechen hier von der Erneuerung des sinaitischen Bundes, dessen „Kontinuität ... allein bei IHVH (liegt)“ (ThNT I 158).
32ba sie zerbrachen ... LXX: sie blieben (menoo) nicht in meiner Anordnung (Bund); bb ich war ihr „Ehemann“ (baal sonst nicht bei Jer); LXX: ich habe sie verabscheut, aus den Augen verloren (ameleoo; hebr: gaal vs. baal)- vgl. Jer 14,19.
33 Die Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk bekommt eine neue Grundlage: Wenn die Zeit da ist („dann“) legt IHVH seine Thora in ihr Inneres („Gedärme“), in ihr Herz; dagegen LXX: meine Gesetze (pl) werde ich in ihren Verstand (dianoia) geben, und auf ihre Herzen (pl) werde ich sie schreiben; für M ist aber die Thora mehr als eine Sammlung äußerlicher Gebräuche, sondern eine Thora des Herzens und der Seele“ (Gradwol I 302). - Wann sind die kommenden Tage (31 und 33)? 34bb LXX: denn gnädig (hileoos) werde ich sein bei ihren Ungerechtigkeiten, Kränkungen (adikia) (pl), und ihrer Sünden (hamartia) (pl) werde ich nicht weiter gedenken; Jer gebraucht nach LXX  für Schuld und Sünde fast nur adikia und hamartia. Vergebung führt zur Gotteserkenntnis bei jung und alt.

III.   Ich bleibe an dem „Vergeben“ hängen. Ist dieses Wort heute überhaupt verständlich? Gebrauchen wir es in unserer Welt – außer beim Vaterunser: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldner. Wenn eine Dynamik einsetzen soll, wie sie unsere Perikope wie in einem Traumbild schildert, dann geht es nicht nur um „Vergeben und Vergessen von Schuld und Sünde“, sondern auch um ein neues Erkennen des Anderen. Wenn zwei Menschen sich trennen und nach geraumer Zeit wieder zusammen-kommen, können sie nicht mehr wiederholen, was vorher war und was sie in ihre Krise geführt hat. Die beiden Partner sind aufgerufen, auf einer neuen, einer höheren Eben einen „neuen Bund“ zu schließen.

Die Perikope versetzt diesen „paradiesischen Zustand“ in die Zukunft: Siehe, Tage kommen ... (31a)! Der neue Bund geschieht „nach diesen Tagen“ (33aa). Vielleicht ist das Wesen des neuen Bund die Zukunft, während der „alte Bund“ zunächst einmal Vergangenheit und insbesondere die Gegenwart sichern will, was für eine Phase des Lebens durchaus seine Berechtigung hat. Aber irgendwann wird jeder erwachsen, und dann bricht dieser „alte Bund“ und ruft nach Erneuerung! In der Predigt könnte dieses Bild von der Geschichte einer Ehe mit ihren Krisen und Brüchen hilfreich sein. Vielleicht gelingt die Transposition auf die Ebene eines immer mehr wachsenden und erwachsen werdenden Glaubens. Wie gut, dass in dieser Perikope weder Drohungen noch Gerichtsankündigungen vorkommen sondern Bilder einer gelingenden Ehe zwischen dem Volk Gottes und IHM.

Meditation

es gibt zeiten, in denen die gewohnheiten tragen
in denen du mich und ich dich sehe, wie wir es gewohnt sind
und es ist gut so, dass unser leben dahingleitet
wie ein schiff über untiefen und dunkle abgründe

und dann weicht einer ab und kostet fremden honig
gesetze brechen, gewohnheiten lösen sich auf
freiheit bricht an wie das sonnenlicht am morgen
und neu ist der tag, neu ist die nacht, neu ist der weg

und wenn wir einander vergeben, vergessen unsere schulden
wenn wir, hand in hand, uns aus ägypten führen, der großen fremde
dann finden wir uns neu, von herz zu herz, erkennen uns,
wie wir gemeint, erkennen IHN, der längst uns erkannt

 

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“Vergeben und vergessen!”, sage ich zu meiner Frau und hoffe, dass jetzt alles wieder gut ist. Dass alles wieder so läuft wie bisher. O.k., es war ein Fehler, den ich gemacht habe. Aber daran muss man ja nicht ewig hängen! Also: Schluss! Neubeginn! Eine „Sache“ muss schließlich auch mal abgehakt werden können! Wenn ich unseren Predigttext von heute höre, habe ich den Eindruck, dass Gott von sich aus ebenso anbietet: Vergeben und vergessen! Alles ist wieder gut! „Kommt her zu mir alle, ich will euch erquicken!“, ruft Jesus den Menschen zu, nachdem er ein Donnerwetter gegen gewisse Städte und ihre Bewohner losgeworden ist (Mt 11,28). Doch unser Predigttext ist aus dem Alten Testament, von dem  Propheten Jeremia, der gute 600 Jahre zuvor gelebt und gewirkt hat. Hören wir ihn noch einmal! Vielleicht ergeben sich neue Gedanken zu diesem „Vergeben und Vergessen“! (Predigttext)

Vielleicht ist Euch das vierfache „Spruch von Gott“ aufgefallen. Es klingt wie von außen eingegeben, wie im Traum oder in der Meditation. Wenn ihr die Worte noch einmal nachklingen lasst, dann sind es Gedanken aus der Tiefe, Bilder der Anmut, geheimnisvolle Worte. Zu Beginn steht: Siehe! Das ist wie ein Hinweis auf etwas Besonderes und Neues: Siehe! Jeder von uns hat schon Situationen erlebt, in denen er gefangen war. Die Grübelkreise haben uns um den Schlaf gebracht. Es gab kein Vor oder Zurück. Eben gefangen in einem Problem, Konflikt. Hilfe könnte nur von außen kommen. Jeremia, der auch der Leidensprophet genannt wird, lebte in einer gefährlichen und unsicheren Zeit. Wird er bleiben können, wo er wohnt? Mit seiner Familie, seinen Freunden? Wer den Mund aufmacht, könnte nach Babylon deportiert werden. So ist es dem letzten König, Zedekia, ergangen. Gut, er hatte sich gegen die babylonische Siegermacht aufgelehnt, woraufhin der Babylonier Nebukadnezar kurzen Prozess mit ihm und seinen Getreuen – und vielen anderen! – gemacht hat. Jeremia hat Kontakt zu den Exilanten. Er weiß, dass sie nichts lieber wollen, als in die Heimat zurückzukehren. Doch die Deportation war die Strafe für Aufsässigkeit. Jeremia schreibt ein Trostbüchlein an die Weggeführten: Siehe, Tage kommen … Was dann kommt, erinnert an den Psalm: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden…“ (126)

So klingen auch die Bilder des Jeremia: Das Volk Gottes, die Braut, die Geliebte, die Ehefrau, die Gott, ihr Geliebter, ihr Ehemann an die Hand nimmt. Sie verlassen Ägypten, wo sie sich fast schon an das Leid und die Heimatlosigkeit gewöhnt hatten. Sie bilden ein Paar, das durch die Wüste des Lebens geht. Doch das Volk, der Mensch, geht fremd, bricht die Ehe. Gott ist zur Gewohnheit geworden. Die vertrauten Regeln engen ein. Was galt, wird zu einem erdrückenden Bündel von Gesetzen. „Ich will frei sein von dir! Mein eigenes Leben erstickt mit dir!“ Gedanken an die Vergangenheit, als es noch richtig schön war … Ägypten war doch nicht so schlecht!? Szenen einer Ehe. Wie soll es jetzt weitergehen? Scheidung ist heute nichts Besonderes mehr. Worin liegt der Wert des Bleibens, des Aushaltens neben dem alten Partner? Kann es noch ein gemeinsames Ziel, eine verbindende Aufgabe geben? Wie im Traum schaut der Prophet, wie Gott das Herz, das Innere des Menschen berührt. Wenn es mit beiden weitergehen soll, helfen keine äußeren Gesetze oder Regelungen mehr. Über diese Phase sind sie hinausgewachsen. Wechselseitige Projektionen, Bilder von früher und „Wie du mal warst! Dein Lachen, deine Verrücktheiten!“ sind Vergangenheit. Warum will der andere auch nicht so, wie ich wohl will? Dann wäre doch alles prima! Oder? Nein, Ende mit gegenseitigen Belehrungen, mit „Du bist schuld!“ und „Du hast doch …!“ Vielmehr ein neues Sehen und Erkennen des Anderen, des Partners, Gottes.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt der Fuchs zum kleinen Prinz. Denn es gibt ein „Gesetz“, das ist ins Herz geschrieben und das sieht vom Anderen her, sieht ihn, wie Gott ihn gemeint hat. Diese Ehe zwischen Gott und den Menschen ist neu, als hätten sie neu geheiratet. Da gelten die alten Gewohnheiten und Gesetze nicht mehr. Denn jeder ist für sich verantwortlich. Das bedeutet, erwachsen zu sein. Erwachsen zu sein – auch im Glauben – schließt Vergebung mit ein. Der Fehler des Anderen, durch den er an mir schuldig geworden ist, hat mir vielleicht gezeigt, wo bei mir Schattenseiten sind, wo ich den anderen nicht „mit dem Herzen“ gesehen habe sondern mit Regeln und Gewohnheiten von Gestern.  Daraus entsteht im Privaten wie im Gemeinschaftlichen großes Leid, sodass Menschen „auswandern“ müssen, „deportiert“, ausgesondert werden. Der Traum des Propheten aber sieht keine „Schöne neue Welt“, sondern eine Gemeinschaft zwischen Menschen wie zwischen uns und Gott, in der Seine Weisung, Seine Thora, Sein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Dann teilen wir unser  tägliches Brot. Wir nehmen Versuchungen und „das Böse“ an, weil wir wissen, dass Gott seinen Bund=Ehe mit uns nicht aufgibt. Oder wie es ein Kollege des Jeremia später einmal den Deportierten zurufen wird: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer“ (Jes 54,10). Das ist der neue Geist des neuen Bundes.

 

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Ein Kommentar zu “Neuanfang

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Die Liebe zwischen Gott und seinem Volk bekommt eine neue Grundlage. So legt Pastor Christoph Kühne den Predigttext aus. Wenn ein Partner (bei Jeremia das Volk)sich von Gott getrennt hatte und beide jetzt wieder die alte, gute Beziehung anstreben, müssen die Partner auf einer höheren Ebene einen neuen Bund schließen, bei dem einer vergibt. Das ist die Botschaft des Jeremia. Sehr eindringlich und existentiell parallelisiert der Pastor die Krise und den Neuanfang zwischen Gott und Volk mit den Krise und dem Neuanfang in einer schwierigen Ehe. Die äußeren Gesetze und Regelungen, die schon einmal versagt haben, gelten nicht mehr. Ein neues “Einander mit dem Herzen Sehen” kann den Neuanfang, den neuen Bund, schaffen. Im Visier hat der Predigt-Text
    eine gelungene Liebe und Ehe zwischen dem Volk Gottes und Gott. Alle Paare werden durch diese Predigt seelsorglich angesprochen. Sollte man nicht auch darüber sprechen, dass durch Jesus etwas von einem neuen Bund in die Welt gekommen ist?

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