Unterwegs – wohin?
Gottes Segen weiter geben, so ist Zusammenleben mit allen Unterschieden möglich
Predigttext: 1. Mose / Genesis 12,1-4 (Übersetzung nach Matin Luther, Revision 1984)
1 Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. 2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. 4 Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm.
Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.
Lot erinnert sich: Ich wollte der Erste sein… Nein, nicht beim Aufbruch. Die Initiative ging von Abraham aus, beziehungsweise – ich will es genauer sagen: Sie ging von Gott aus. Ich fühlte mich von Gott nicht gerufen, aber ich wollte dabei sein. Ob Abraham Sarah gefragt hat? Ich glaube eher nicht. Für Abraham war klar: Gott hat ihn gerufen, da geht die Frau selbstverständlich mit. Wie Gott das Abraham mitgeteilt hat? Ich habe mich mit meinem Onkel nie darüber unterhalten. Wie spricht Gott? Wo? Ist es Abraham in seinen Träumen immer deutlicher zur Gewissheit geworden? Vielleicht hat er auch zunehmend eindeutiger gespürt: Dort, in Ur, kann und will er nicht bleiben; das ist kein Ort für seinen Gott, kein Ort für seine Religion, kein Ort für ihn und Sarah. Nun, die anderen aus unserer Sippe sind, außer mir, nicht mit aufgebrochen, die haben sich im Leben am Euphrat und Tigris eingerichtet. Auch eine Religion kann sich einrichten – oder soll ich sagen: Der Gott unserer Sippe, unserer Vorfahren, ist in die neuen Lebensumstände eingerichtet worden?
Möglicherweise hat Abraham am deutlichsten den Bruch empfunden, das Unvereinbare gespürt zwischen dem Gott, der seit Generationen mit uns unterwegs ist als unser Schutz und Beistand, und den Göttern dort, bei denen es vor allem um die Fruchtbarkeit von Mensch, Tier, Pflanze geht und darum, wie die Kreisläufe der Natur erhalten bleiben. Also egal, wie mein Onkel Gott begegnet ist, es ist ihm zur inneren Gewissheit geworden: Der Aufbruch ist Gottes Weg mit ihm. Du fragst, wem Abraham gehorcht hat? Ich kann sagen: Er hat Gott gehorcht! Ich kann sagen: Er hat einer inneren Stimme gehorcht! Das macht am Ende keinen Unterschied. Es war kein blinder Gehorsam, er hat immer deutlicher gesehen, welcher Weg von Gott her sein Weg werden würde. Ihr macht euch falsche Vorstellungen: Abraham hat nicht das Abenteuer gesucht. Er hat sich nicht aus einer sicheren Lebenssituation blind ins Wagnis gestürzt. Abraham ist letztlich zurückgekehrt:
Unsere Vorfahren sind, so weit die Erinnerung reicht, Wanderhirten gewesen, immer unterwegs von Weideplatz zu Weideplatz, von Wasserquelle zu Wasserquelle. Viele der früheren Wanderer und Viehzüchter haben sich inzwischen in der Ebene von Euphrat und Tigris angesiedelt; abgesehen von Katastrophen, die überall geschehen können: Es kann im Land der beiden großen Ströme in der Regenzeit Überschwemmungen geben oder auch Perioden der Dürre – abgesehen von möglichen Katastrophen lässt es sich dort gut leben, es ist eine fruchtbare Landschaft; was hier wächst und gedeiht, reicht für viele Stämme und Völker. Wen wundert es, wenn auch unsere Sippe sich dort niedergelassen hat und es sich in diesem Land gut gehen lässt, nicht mehr ständig auf der Suche nach Weideland und Wasserstellen. Doch Abraham ist wieder aufgebrochen. Die Welt dort, dieses Leben passt nicht zu ihm. Ich denke, es waren vor allem religiöse Gründe: Wo sollte sein Gott wohnen in einer Welt, die voll ist von Göttern und Göttinnen! Wer aber unterwegs ist, der hat Gott als seinen Reisebegleiter. Der Gott unserer Familie, der Gott unserer Sippe, ist mit uns unterwegs gewesen. Dieser Gott schien uns dort in Ur verloren zu gehen. Die Rückkehr ins Nomadenleben war für Abraham wohl die Rückkehr zu seinem Gott, zu seiner, unserer Religion.
Gott habe ihm ein neues Land versprochen, betonte Abraham unterwegs immer wieder. Manchmal fürchtete ich, er sagt das, um zu begründen, warum er nicht in Ur geblieben ist. Doch was heißt „neu“? Menschenleer war keine Gegend, in die wir gekommen sind; nicht so dicht besiedelt wie die Ebene von Euphrat und Tigris, aber Städte gibt es auch sonst in Flusstälern und an der Küste und viele kleinere menschliche Ansiedlungen überall. Wir merkten, wir würden uns überall an das Zusammenleben mit anderen Volksgruppen gewöhnen müssen. Ein neues Land! „Anders“ vielleicht, aber neu? Wie gesagt, ich denke, Abraham wollte unterwegs bleiben oder musste unterwegs bleiben: durch die innere Stimme, durch Gottes Stimme. Nein, der erste in diesem neuen Land wollte ich auch nicht sein. Was bringt es, wenn ich als erster von uns Dreien eine Landschaft betrete, die längst bewohnt ist von anderen Menschen, anderen Völkern? Abraham zog los, weil er gerufen wurde. Ich zog mit, weil ich neugierig war auf Gegenden, die ich noch nicht kannte. Ich bin zwar einiges jünger als Abraham; damals noch eher der Draufgänger als mein Onkel, meine Tante, aber alt kamen mir beide nie vor: unterwegs als Wanderer. Dazu kommt noch etwas:
Abraham betonte immer neu, nach dem Willen seines Gottes, unseres Gottes, solle er zum Segen werden für viele Völker. Das setzt voraus: Das kann kein leeres Land sein, wo wir hinkommen. Abraham kann nur zum Segen werden, wenn da Menschen, andere Sippen und Völker leben. Mir ist darüber deutlich geworden: Abraham soll segnen, um auch selber gesegnet zu werden, Segen geschieht wechselseitig: Wenn andere spüren: Mit uns kommt Segen zu ihnen!, heißen sie uns gerne willkommen und lassen uns ihre Nachbarn sein. Dann kommt der Segen auf uns zurück. Gott habe ihm versprochen, er wolle ihn groß machen. Auch das betonte Abraham immer neu. Nun, was heißt „groß“ bei uns Dreien? Ich habe damals schon meine Familie mitgenommen und aller biologischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz hat Abraham später, also unterwegs, zwei Söhne bekommen, einen von seiner Magd, einen von seiner Frau. Aber von „Größe“ kann dabei nicht gesprochen werden. Gut, unsere Herden wurden immer größer, wir mussten uns trennen bei dem bescheidenen Graswuchs in der Steppe. Abraham ließ mir die Wahl und ich habe mich für das wasserreichere Jordantal entschieden. Ich stelle mir vor: Abraham war sich so sicher, ein selber von Gott Gesegneter zu sein, und konnte darum mir die Entscheidung überlassen und auf das fruchtbarere Tal verzichten. Aber auch die Tiere, unsere Schafe und Ziegen, können von Gott her nicht mit Größe gemeint sein.
Vielleicht geht es um Größe in einem anderen Sinn: Wer für andere zum Segen wird, der wird groß – von Gott her und für diejenigen, die diesen Segen bekommen. Jetzt kann ich dir deine Frage endlich beantworten: Ich wollte der Erste sein, der diesen Segen bekommt. Abraham ein Segen für viele Völker, damit musste etwas Anderes gemeint sein als das Erbe, das immer nur der Älteste bekommt. Ich wollte erleben, wie das ist, was da mit mir passiert: gesegnet werden. Selbstverständlich frage ich mich bei allem, was mir zuteil wird: Ist das nun der Segen? Für die Leute in Sodom und Gomorra bin ich nicht zum Segen geworden. Oder haben die den Segen nicht angenommen? Vielleicht wollen manche Menschen sich auf keinen Fall segnen lassen, von Gott beschenken lassen. Immerhin bin ich zumindest mit meinen beiden Töchtern aus der Katastrophe von Sodom und Gomorra heil heraus gekommen. Sicher hat Abraham auch seine zwei Söhne als Segen empfunden. Aber das ist wieder die umgekehrte Richtung: Da ist der Segen auf ihn zurückgekommen. Jedenfalls ist Segen etwas, was Abraham und was ich weiter geben soll. Wo ich jemanden segne, wachsen wir zusammen, werden wir miteinander Empfänger der Gaben dieses segnenden Gottes. Wo von mir Segen ausgeht auf andere, von anderen auf mich, können wir zusammen leben mit allen Unterschieden. Wo ich jemanden segne, spüren wir beide: Gott begleitet uns. Gleichgültig, zu welcher Sippe von Wanderhirten ein anderer gehört, im Segen ist Gott mit ihm und mit mir unterwegs.
Sympathisch an dieser Predigt ist die Grundidee, das biblisch erzählte Geschehen aus der Sicht einer “Nebenrolle” zu reflektieren. Der Prediger wählt Lot aus der Folgegeneration des Abram und setzt somit Vorwissen bei den Hörenden voraus, “nutzt” allerdings die Rolle einzig als Transporteur seiner eigenen Ansichten zur biblischen Erzählung. Selbst Hörende ohne Vorwissen erkennen hier sofort den dringend notwendigen Bedarf an kultur- und religionsgeschichtlicher, historisch- kritischer sowie theologischer Vergewisserung. Bezeichnend dafür ist der Satzzusammenhang: “Er (Abram) hat Gott gehorcht!…Er hat einer inneren Stimme gehorcht! Das macht am Ende keinen Unterschied”. Narrativ zu predigen bietet sich zur Textstelle an, verlangt aber in besonderer Weise gedankliche und sprachliche Klarheit und Richtung, um nicht in seichte Fabulierfreude abzudriften.