Untauglich?
Exempel Jeremia
Predigttext: Jeremia 1,4-10(11-19), Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
4 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 5 Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. 6 Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. 7 Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. 8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. 9 Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. 10 Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, daß du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Literatur
Kommentare: W. Rudolph, Jeremia, 3. Aufl., Tübingen 1968. – A. Weiser, ATD 20/21, 7. Aufl., Göttingen 1977. – W. Thiel, Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 1-25, Neukirchen-Vluyn 1973. – G. Wanke, Jeremia, Teilband 1: Jeremia 1,1-25,14, Zürich 1995. – W. H. Schmidt, Das Buch Jeremia, Kapitel 1-20, ATD 20, Göttimgen 2008. – Roman: Franz Werfel, Jeremias. Höret die Stimme (1981/1987. Fischer Taschenbuch 2064, Erstausgabe 1937).
Es fällt mir nicht leicht, Baruch, darüber zu sprechen, wie es dazu kam, dass ich „Prophet“ für mein Volk und die Völker wurde. So etwas wie „Mund Gottes“ zu sein – welcher Mensch könnte diesem Auftrag und Anspruch gerecht werden. Im engsten vertrauten Kreis habe ich auf Nachfrage schon öfters auszusprechen versucht, was mich auf diesen Weg brachte. Einiges darüber habe ich später auch aufgeschrieben. Ich merkte dabei, wie Vieles ungesagt bleibt, wenn in Worte gefasst werden soll, was eigentlich unaussprechlich ist: die Erfahrung mit Gott. Sie ist für mich ein Mysterium, ein tiefes Geheimnis. Um es von vornherein klarzustellen: Gott hat zu mir nicht so gesprochen, dass es ein anderer Mensch in meiner Nähe hätte hören können. Ich habe ihn nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. Das Ereignis seines Sprechens zu mir und meines Erlebens kann ich auch nicht anders als ein Mysterium bezeichnen. Es ist, wie wenn Worte, die ein Mensch zu dir spricht, etwas Gutes in dir auslösen. Denke einmal darüber nach: Wann hat in letzter Zeit ein Mensch so zu dir gesprochen, dass du dich zutiefst berührt, angesprochen fühltest?
Dass ich mich von Gott angesprochen und berührt fühlte, hat eine lange Geschichte. Ich muss dir noch mehr von mir erzählen. Ich wuchs in Anatoth, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Jerusalem, in einer Familie auf, in der ich im israelitisch-jüdischen Glauben erzogen wurde. Mein Vater hatte eine höhere Beamtenstelle im näheren Umfeld des judäischen Königshauses, dem er loyal ergeben war. Wie oft pilgerte ich mit meinen Eltern zum Tempel in Jerusalem. Dort beeindruckten mich besonders die Tempelfeste. Die Tora begleitete mich seit meiner frühen Kindheit. Schon der Anblick der großen Schriftrolle faszinierte mich. Was daraus vorgelesen wurde, fand einen besonderen Anklang bei mir. Eine Phase kritischer Auseinandersetzungen mit den religiösen Traditionen, in denen ich aufwuchs, begann in meiner Jugend, besonders mit dem religiösen Leben vor Ort in meiner unmittelbaren Umgebung. Diese Auseinandersetzung vollzog sich bei mir mehr in der Stille, in mir selbst. Diskutieren war nicht meine Stärke. Ich galt zu Hause und in meinem Freundeskreis eher als zurückhaltend.
Stark berührte mich eines Tages im Jerusalemer Tempel eine Lesung aus dem Propheten Hosea. Ich hörte von der Liebe Gottes zu seinem Volk, wie Gott es wie ein Mann seine Frau liebte und wie es seine Liebe verschmähte. Ich hätte weinen können, und ich meinte, Gott traurig über sein Volk klagen zu hören. Schon länger empfand ich, wie das religiöse Tun (um nicht zu sagen: Getue), die Opferdarbringungen, die Gottesdienste, die täglichen Riten mit dem alltäglichen Leben oft nicht zusammenpassten. Da gab es eklatante Ungerechtigkeiten hochstehender und begüterter Menschen, besonders gegenüber den ärmeren Schichten in der Bevölkerung. Zuweilen erschien mir die Frömmigkeit wie ein Deckmantel, der die Bosheiten zudecken sollte, und der Tempel wie eine Räuberhöhle. Welch eine Perversion. Aber ich hätte nie gewagt, diese meine Empfindungen auszusprechen. Ich empfand mich selbst keineswegs als vollkommen. Irgendwie mochte ich die Menschen, zu denen ich gehörte.
Da begann es auf einmal, in mir zu gären. Waren es trügerische Stimmen, die mich manchmal bis in meine Träume umtrieben oder war es vielleicht die Stimme Gottes? Ich wusste nicht, was in mir vorging. Alltägliche Erscheinungen fingen symbolische Bedeutung für mich zu bekommen, transparent zu werden für Gott. So fiel eines Tages mein Blick auf einen Zweig eines Mandelbaumes, eines SCHaQeD, in unserem Garten. Was ich sah, wurde mir zur Botschaft, die ich deutlich zu hören glaubte: “Ich werde wachsam (SCHoQeD) darauf bedacht sein, dass ich mein Wort in die Tat umsetze“. Da war auch das Erlebnis mit dem Kochtopf, unter dem gerade ein Feuer entfacht wurde und dessen Öffnung von Norden her zu unserem Volk hin geneigt war und anfing überzukochen. Dieses Mal lief mir ein Schauder über den Rücken. Das anheimelnde Bild verwandelte sich in die drohende Botschaft: “Von Norden her wird Unheil entfacht über alle Bewohner des Landes”. Nein, mit Gott wollte ich diese seltsamen Erlebnisse nicht in Verbindung bringen. Beim Nachdenken über das Geschehen kamen mir aber wieder jene Worte des Propheten Hosea von Gottes enttäuschter Liebe in den Sinn. Der Wunsch erwachte in mir, für Gott etwas zu tun, für mein Volk, das Volk, zu dem ich gehörte, zur Besinnung zu rufen. Doch spürte ich gleichzeitig ein starkes inneres Sträuben, und ich hatte auf einmal tausend Ausreden, um mich dem zu entziehen, was ich für Gott sein und tun könnte. Vor allem: “Du bist einfach noch zu jung” – und: “Du bist nicht redegewandt genug, um in der Öffentlichkeit für Gott zu sprechen”, redete ich mir fast pausenlos ein.
Was letztlich den Ausschlag für meinen Weg gab und damit für mein öffentliches Auftreten als Prophet in Jerusalem, bleibt und gehört zu jenem Mysterium, von dem ich schon zu dir sprach. Aber ich weiß, dass ich nicht darauf aus war, Prophet, ein Bote Gottes, zu werden. Ich habe diese Aufgabe nicht gesucht. Ich bin überzeugt und glaube, dass Gott selbst mich gesucht und trotz meines inneren Widerstandes gefunden hat. Meinem Volk habe ich mich bis zuletzt verbunden gefühlt, habe es geliebt. Oft war ich enttäuscht und ratlos, dass mein FürGottRufen so wenig Gehör fand. Zeitweise habe ich mich von Gott wirklich verraten, sogar verführt gefühlt. Jedoch seine Worte und der Zuspruch seines Beistandes – wie oft habe ich davon im Tempel gehört – hat mich in den schwersten Zeiten getragen, zuletzt im unsagbaren Schmerz um mein Volk, das trotz vieler ungezählter Rufe aus dem Tempel der Liebe Gottes ins Verderben rannte. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass Gott sein Volk aufgibt, auch nicht die anderen Völker, sie alle gehören zum großen QaHaL, zur weltweiten Familie Gottes. In diesem Sinn galt für mich: Fanden sich Worte von Gott, verschlang ich sie, und Gottes ’Wort’ war mir Wonne, und die Freude meines Herzens war es, dass Gottes Name über mir genannt ist“ (Jeremia 15,16, Übersetzung nach W. Rudolph). Solche Erfahrungen mit Gottes Wort sind selten – und ein Geschenk, wenn sie uns zuteil werden.
Inzwischen kann ich im Rückblick und im Gespräch mit dem Apostel Paulus verstehen, was dieser an die Gemeinde in Korinth schrieb (1.Kor 9,16): “Dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!”