Räume der Freiheit

Inmitten aller Härte und Brutalität der Welt gibt es trotzdem immer wieder Befreiungserfahrungen

Predigttext: Apostelgeschichte 12,1-11
Kirche / Ort: Protestantische Kirche / 66989 Nünschweiler
Datum: 23.09.2012
Kirchenjahr: 16. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Anke Andrea Rheinheimer

Predigttext: Apostelgeschichte 12,1-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln.
2 Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
3 Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.
4 Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen.
5 So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.
6 Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis.
7 Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen.
8 Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!
9 Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen.
10 Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel.
11 Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.

Exegetische und homiletische  Anmerkungen

Der Predigttext aus Apg 12 mit der wundersamen Befreiung des Apostels Petrus aus dem Gefängnis trägt legendenhafte Züge, leugnet aber nicht die brutale Realität der Welt. Beleg dafür ist die im gleichen Textzusammenhang berichtete grausame Enthauptung des Zebedaiden Jakobus, des Bruders des Johannes, durch Herodes Agrippa I. Er ist eines von vielen Beispielen einer brutalen Herrschergewalt und stand dabei seinem Großvater Herodes dem Großen, der durch den Kindermord von Bethlehem im Zusammenhang der Weihnachtsgeschichte bekannt ist, in nichts nach. 37 n.Chr. wurde er König über die ehemalige Tetrarchie seines Onkels Philippus, bekam 39 die Tetrarchie seines abgesetzten Onkels Herodes Antipas und 41 die Provinz Judäa zu seinem Herrschaftsbereich hinzu, den er bis zu seinem Tod 44 n.Chr. grausam regierte (BigS, S. 1769 Anm. 752). Sein trauriges Ende (Apg 12,23), biblisch als Strafgericht Gottes gedeutet, wird auch vom antiken jüdischen Schriftsteller Josephus bestätigt.

Die Predigt greift das Freiheitsparadigma auf. Wo gibt es inmitten aller Gewalt, Brutalität und Unterdrückung in der Welt Befreiungserfahrungen? Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und ganz brandaktuelle werden genannt (Nelson Mandela, Aun San Suki). Das Festhalten an der Vision der Freiheit und das Gebet für Freiheit und Frieden ist und bleibt Auftrag der christlichen Gemeinde – gegen all die manchmal sehr entmutigenden Nachrichten aus der Welt. Die Leipziger Friedensgebete, die vor mehr als 20 Jahren zur friedlichen Revolution in der DDR geführt haben, sind ein Beispiel für dieses beharrliche Gebet, das sich nicht entmutigen lässt.

Literatur

Bibel in gerechter Sprache, hg. von Ulrike Bail, Frank Crüsemann u.a., Gütersloh 2006.- Sylvia Bukowski, 16. Sonntag nach Trinitatis: Apg 12,1-11 (12-17), Predigtmeditationen im jüdisch-christlichen Kontext. Zur Perikopenreihe IV, hg. von Studium in Israel e.V., Wernsbach 2011, S. 321-325.- Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin 42012.- Ernst Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK, 3. Abt., 12. Aufl., Göttingen 1959.

Lieder

„Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen“ (EG 272)
„Ich lobe meinen Gott der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe“ (EG 628, RT Pfalz)
„Ist Gott für mich so trete gleich alles wider mich“ (EG 351)
„Dona nobis pacem“

 

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Was für ein Wechselbad der Gefühle! Was für Gegensätze: Eine Hinrichtung und eine Befreiung; ein brutaler Diktator und zwei ohnmächtige Opfer; eine machtverliebte religiöse Elite und eine verfolgte Gemeinde; zwei Handlanger des Teufels und ein Engel des Herrn; hohe Gefängnismauern und eine offene Tür; Solidarität und schadenfroher Applaus; Macht und Ohnmacht; Traum und Wirklichkeit. Und mittendrin die Apostel Jakobus, der Bruder des Johannes, und Petrus als Objekte und Subjekte des Geschehens. Eine Geschichte, die wundersame und wunderbare Züge trägt, die aber die Härte und Grausamkeit der Realität nicht leugnet. Eine Befreiungsgeschichte, die den Schmerz der Ohnmacht nicht verdrängt: Einer der beiden Apostel muss sterben, und einer darf leben. Jakobus, einer der beiden Zebedaiden, wird mit dem Schwert hingerichtet; für Petrus öffnen sich die Gefängnistore wieder. Das ist Lebenswirklichkeit in all ihrer Gegensätzlichkeit, ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Schicksalshaftigkeit. Inmitten aller Härte und Brutalität der Welt gibt es trotzdem immer wieder Befreiungserfahrungen – unerwartet und unverhofft; erbeten, aber so unglaublich, dass sie anfangs gar nicht geglaubt und gedanklich realisiert werden können. Wach‘ ich oder träum‘ ich? Geschieht mir das wirklich? Ist die Tür in die Freiheit wirklich offen? Petrus wusste es am Anfang seines Weges in die Freiheit gar nicht so genau. Er braucht lange, bis er überhaupt realisiert, dass er noch einmal in die Freiheit darf, noch einmal davongekommen ist. Er erkennt den Boten Gottes nicht auf Anhieb, sondern meint anfangs, er habe eine Vision gehabt, er würde bloß träumen. Und doch, es ist Wirklichkeit! Er erlebt reale Befreiung.

Es geht noch einmal etwas gut, was schon verloren geglaubt war. Die Hinrichtung war schon beschlossene Sache gewesen, wenn auch der damalige Herrscher Herodes Agrippa I. und seine Schergen eine Art „Feiertagsruhe“ über das Pessachfest einhalten wollten, um den frommen religiösen Schein zu wahren. Es ist jener Agrippa, der als brutal herrschender  Machtmensch nicht minder grausam war wie sein Großvater, der Bethlehemer Kindermörder Herodes der Große, der aus der Weihnachtsgeschichte bekannt ist. Er hatte bei den treibenden Kräften in seinem Umfeld, der herrschenden religiösen Elite der damaligen Zeit, volle Unterstützung und Applaus gefunden für seine Politik der Härte und der grausamen Verfolgung. Ein brutaler Herrscher wie im Blutrausch. – Jakobus bezahlte ihn mit dem Leben. Es gab aber auch Menschen, die trotz eigener Gefährdung an der Seite der Verurteilten blieben, betend, fürbittend, solidarisch: die erste christliche Gemeinde in Jerusalem, in der Jakobus und Petrus Leitungsfunktionen übernommen hatten, ihre Brüder und Schwestern im Glauben, die zu ihnen hielten. Die Gläubigen der Gemeinde bangten um den verhafteten Petrus und beteten Tag und Nacht für ihn zu Gott, wie uns die Apostelgeschichte erzählt. Sie ließen sich nicht entmutigen, trotz der unheilvollen Nachricht über die Enthauptung von Jakobus. Inständig blieben sie im Gebet verbunden mit Petrus und mit Gott.

Eine solche Arroganz der Macht und die willigen Claqueure dazu, wie sie in der Apostelgeschichte erzählt wird,  gibt es auch heute noch. Demonstrative Machterweise einer unumschränkten Herrschermacht, die keine Rücksicht auf Menschlichkeit und Humanität nimmt. Brutale Diktatoren wachsen bis heute nach – all die Lukaschenkos, Charles Taylors und Assads dieser Welt. Drangsalierung bis hin zur brutalen Ermordung unliebsamer Kritiker  gibt es nach wie vor in der Welt – ein Blick nach Syrien genügt. Menschenrechtsaktivisten werden verhaftet, um sie mundtot zu machen – ein Blick nach China genügt. Aber immer wieder gibt es auch Befreiungserfahrungen, offene Gefängnistore, gesprengte Fesseln. Nelson Mandela in Südafrika ist so ein Beispiel, der mehr als sein halbes Leben als ANC-Aktivist hinter Gittern gesessen hatte, bis das Apartheid-Regime endlich abdanken musste. Gerade reiste die jahrelang unter Hausarrest gestellte  ehemalige birmanische Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Aun San Suki nach Amerika, um die höchste zivile Ehrung des US-Kongresses in Empfang zu nehmen. Hinter ihr liegt ihr langer Weg in die Freiheit: erst vor zwei Jahren, 2010, hatte das Regime in Rangun nach Jahrzehnten ihre häusliche Gefangenschaft, das Reise- und Kontaktverbot zu westlichen Politikern und Medienvertretern aufgehoben. Auch Christenverfolgung gibt es nach wie vor in vielen Regionen der Erde – in unserer westlichen Welt meist viel zu wenig wahrgenommen. Weiterhin sind statistisch gesehen die Christen die am meisten verfolgte Religionsgruppe auf der Welt. Organisationen wie „Open doors“ listen die traurigen Fälle auf, in Nordkorea, in Papua, in Nigeria und in vielen, vielen anderen Ländern und Regionen der Erde.

Es gibt aber zum Glück auch überall Menschen in Solidarität, eine fürbittende Gemeinde, die auch in aussichtloser Situation nicht aufhört zu beten – und sie wird gebraucht! Menschen braucht es, die inmitten all der Drangsalierung, Brutalität und Propaganda nicht aufhören, für das Gute einzutreten und es bittend vor Gott zu bringen, immer wieder, ohne nachzulassen. Menschen, die sich nicht entmutigen lassen, auch wenn die arroganten Mächtigen, auch wenn das herrschende Regime mit den üblichen Mitteln der Einschüchterung, der Bespitzelung und der Zermürbung arbeitet. Auch aus unserem Land, aus unserer unmittelbaren Vergangenheit, gibt es dafür ein bewegendes Beispiel: die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche, die den Auftakt zu den Leipziger Montagsdemonstrationen bildeten. Hier hat die friedliche Revolution in der DDR ihren Ausgang genommen, die schließlich nach 40 Jahren Diktatur in die Freiheit, in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und in die Wiedervereinigung des geteilten Deutschland geführt hat. Eine Revolution, die in der Kirche einen ihrer Ursprungsorte hatte und die ohne Kirchenvertreter wie den Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, wohl nicht so friedlich und gewaltfrei verlaufen wäre. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt er, wie die Kirche damals inmitten der Unterdrückung auf ebenso überraschende wie überwältigende Weise ein Raum der Freiheit hat werden können:

„Das Gespräch am Kreuz sollte der Einstieg zu Friedensdekade sein, entwickelte sich jedoch schnell zu einem der markantesten Geschehnisse. Der Plan für den Abend wurde durch die Länge der Diskussion gesprengt, die Gesprächsrunde wurde zum Hauptteil, und jeder neue Beitrag vermittelte den Jugendlichen eine neue Erkenntnis…Die Kirche war ihr Raum der Freiheit geworden“ (Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin, 4. Aufl., 2012, S. 115).  Der Weg hat am Ende in die Freiheit geführt und die Revolution ist dabei friedlich und gewaltlos geblieben. Keiner derer, die damals dafür gebetet haben, konnte um diesen glücklichen Ausgang wissen. Es hätte auch alles ganz anders kommen können. Sie blieben trotzdem im ständigen Gebet. Bis heute gibt es das Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, denn Grund zum Beten für unschuldig Verfolgte und Inhaftierte in der Welt gibt es nach wie vor mehr als genug. Befreiungserfahrungen; ein sich eröffnender Weg in die Freiheit, wie er überwältigender nicht sein kann. Wie der Apostel Petrus ihn erlebt hat und viele aufrecht für das Gute kämpfende Menschen nach ihm, so gibt es ihn Gott sei Dank immer wieder, bis heute, inmitten all der Unterdrückungserfahrungen und der brutalen Realität dieser Welt.

Nicht jeder Kampf für das Gute geht gut aus, das wissen wir, leider. Das verdrängt auch die Bibel nicht. Jakobus wurde ermordet – nur Petrus entkam seinen Häschern. Und doch erfahren wir durch diese biblische Befreiungsgeschichte mit all ihren wunderbaren Zügen Ermutigung und Motivation, gerade als christliche Gemeinde im Gebet für bedrängte und unterdrückte Menschen nicht nachzulassen – gegen allen Augenschein. Beten wir für Menschen, die Freiheit brauchen – sei es die äußere Freiheit, Bewegungs-, Meinungs-, Religionsfreiheit oder sei es auch innere Freiheit, wenn Menschen durch Süchte, Seelenkonflikte, Selbstzweifel und Selbsthass gefesselt sind. Manche Mauern um das eigene Ich scheinen ebenso hoch wie Gefängnismauern, unüberwindbar hoch. Trotzdem die Hoffnung auf Befreiung, auf Freisein nicht aufgeben. Betend füreinander eintreten, für alle Menschen, die äußerlich oder innerlich unfrei sind. „So saß Petrus also streng bewacht im Gefängnis. Aber die Gemeinde betete Tag und Nacht für ihn zu Gott.“ Beharrlichkeit im Gebet – ein Auftrag auch für uns als Christinnen und Christen. Nicht Nachlassen darin, miteinander die Vision der Freiheit zu teilen, äußerer und innerer Befreiung – wider alle Erwartung. Trotz aller schlechten Nachrichten, trotz aller Rückschläge, trotz aller Widrigkeiten am Gebet und der Vision der Freiheit festhalten im Vertrauen auf Gottes Mitsein. Gott, der ein Gott der Freiheit ist, der das Volk Israel aus der Gefangenschaft im Sklavenhalterstaat Ägypten geführt hat, Gott, dessen Kraft stärker ist als alle Mächte und Gewalten der Finsternis, ja auch der Gewalt des Todes.

 

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Ein Kommentar zu “Räume der Freiheit

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    “Eine Befreiungsgeschichte, die den Schmerz der Ohnmacht nicht verdrängt.” Das ist das Thema der engagierten Predigt von Pfarrerin Rheinheimer. Ganz mitreissend erzählt sie zuerst vom Tod des Jakobus und von der Befreiung des Petrus. Dann bringt sie parallele Beispiele aus der Gegenwart mit brutalen Diktatoren wie Assad. Sie erinnert auch daran, dass die meisten religiös Verfolgten in unserer Zeit Christen sind. “Es gibt aber zum Glück auch eine fürbittende Gemeinde, die auch in aussichtslos scheinenden Situationen nicht aufhört zu beten.” Ein unglaubliches Gebetswunder war auch die Wiedervereinigung Deutschlands durch die Leipziger Friedensgebete. Bis zum Schluß verliert die
    Pfarrerin die Menschenrechts-Verletzungen in unserer Zeit nicht aus den
    Augen. Aber eindringlich ermutigt sie, sich für die Freiheit heute
    einzusetzen und dafür beharrlich zu beten. Gott befreit seit je aus
    ägyptischer Gefangenschaft und ist stärker als alle Gewalten und der
    Tod. – Eine mitreissende Predigt.

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