Whistleblower
Reformationstag – Hoffnung, deren Energie die Liebe ist
Predigttext: Galater 5, 1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.
Eigene Übersetzung Christoph Kühne:
1 Zur Freiheit hat uns Christus ein für allemal befreit! Also haltet stand, und lasst euch nicht schon wieder unter das Joch der Bevormundung spannen! 2 Seht, ich Paulus, sage euch hiermit: Solltet Ihr Euch beschneiden lassen, nutzt Euch Christus gar nichts! 3 Noch einmal: Jeder, der sich beschneiden lässt, ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten (Var nach Matth 5,17: zu erfüllen)!
4 Dann habt Ihr Christus verloren, wenn Ihr Gesetz und Gerechtigkeit verbinden wollt. Ihr seid außerdem aus der Gnade herausgefallen! 5 Wir hingegen bleiben an der Hoffnung der Gerechtigkeit dran! Das ist unser Grundsatz. 6 Aber eigentlich gilt in Christus weder eine (jüdische) Circumcisio (Beschneidung) noch ein (heidnisches) Präputium (Vorhaut), sondern nur der Grundsatz der Hoffnung, deren Energie die Liebe ist.
Zum Predigttext (I.) und zur Predigt (II.)
I. Der Galaterbrief ist der zweitälteste bekannte Brief des Apostels Paulus, geschrieben Anfang der 50er Jahre in Ephesus, wo Paulus zwei Jahre lang gewohnt hat. Wochen oder auch Monate später wird er Briefe an die Gemeinde in Korinth schreiben. In diesen Briefen wird er jenes „en Christō“ weiter meditieren. Unsere Perikope ist gut überliefert. V 5 ist nicht leicht zu verstehen: Ist die „Hoffnung der Gerechtigkeit“ später in dem Brief an die Römer deutlicher ausgeführt als Sehnsucht der gesamten Kreatur nach Hoffnung (Röm 8, 23ff)? V 6 formuliert Paulus sehr kurz und schön, wie die „Energie“ des Glaubens als Liebe wirksam wird.
Stichworte: - Freiheit - Gesetze, Regeln, die kein sinn-volles Leben fördern - „erhoffte Gerechtigkeit“ - Grundsatz Glauben mit dem Kennzeichen Liebe.
II. Gedanken beim ersten Lesen: Briefstil. Gedrängte Gedanken. Zum Beschluss eine Mitteilung wie eine Faustformel: „en Christō“, eine Formel, die Paulus wohl in Ephesus entwickelt und meditiert hat. Zu Beginn ein ermutigendes, stolzes und selbstbewusstes „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“. Das klingt nach!
Der Eingangssatz der Perikope „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ ist ein Fanal der Reformation Luthers, deren Beginn mit den Hammerschlägen an die Wittenberger Schlosskirchentür verbunden wird. Die 95 Thesen läuten eine Befreiung von dem Joch der Gerechtigkeit durch Gesetzeserfüllung ein. Sie propagieren eine Freiheit des Christenmenschen für ein neues Leben im Grundsatz der Hoffnung, deren Energie Liebe ist. Daraus entstand eine neue „protestantische“ Mitwirkung und Einmischung in Politik und Gesellschaft. Glauben und Tun waren fortan nicht mehr getrennt sondern haben sich gegenseitig definiert: Wer „in Christus“ („en Christō“) ist, lebt aus einer anderen Quelle inmitten dieser Welt. Er lebt aus einer neuen Hoffnung. Ein neuer Geist lebt in ihm, dessen Energie Liebe ist. Das Tätigkeitsfeld ist diese Welt mit ihren Aufgaben und Verpflichtungen und Möglichkeiten. Diese Gedanken der Reformation können in der Predigt eine Rolle spielen.
Ein weiterer Gedanke für die Predigt ist die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“, die sich in einer neuen „Begeisterung“ zeigen kann. Die Freiheit von alten Formen erstarrter gottesdienstlicher Rituale kann sich zeigen in charismatischen Predigten und enthusiastischen Gospel Chören, die Menschen in ihren Bann ziehen und zu spontanen Bekenntnissen für Jesus bewegen können. Erhobene Arme, entrückte Gesichter und lallende Lippen sind nicht selten Kennzeichen einer Begeisterung freier Gemeinschaften. Doch woran kann man die christliche Freiheit ablesen? Am Begeisterungspegel der Gottesdienstteilnehmenden? Wie hängt diese Freiheit, von der Paulus spricht, mit Emotionen zusammen? Wie kann man diesen Geist z.B. in einem Gottesdienst messen? Kann man etwas für diese Begeisterung tun, kann man sie üben? Oder kommt der Geist der Freiheit über die Menschen wie weiland zu Pfingsten? Ist also Geist unverfügbar?
Ein dritter Gedankengang kann sich darauf richten, inwieweit jene Freiheit sich zeigen kann in heutigen modernen Techniken und Methoden, die mit alten Handhabungen nicht mehr zu händeln sind. Zu denken wäre z.B. an neue communities wie Facebook. Kann sich die neue Freiheit auch in Graffitis äußern oder in neuer Musik? Zeigt sich der neue Geist im Zerbrechen alter Strukturen von Kirchen, Parteien, Vereinen, Staaten? Wie können wir als Christen auf solche Phänomene eingehen?
Viele Menschen befinden sich zwischen dem Alten und dem Neuen. Sie wagen es nicht, vertraute Kulturgüter zu verlassen und haben Angst z.B. vor der neuen digitalen und virtuellen Welt. Wie ist es, in diesem „Zwischen“ zu leben? Was bedeutet es, mit Paulus den ersten Schritt in die Freiheit zu tun - und den Zwischenraum zu verlassen? Vielleicht versucht die „Lutherdekade“ zwischen der Würdigung Luthers und der bereits angebrochenen Veränderung der Welt („Reformation“) zu vermitteln und Zeichen zu setzen für den Schritt in das „Semper reformanda“ der Kirche, Gesellschaft und Welt.
Am 31. Oktober 2017 – in 5 Jahren – werden wir 500 Jahre Reformation feiern. Die Vorbereitung laufen bereits. Lieder werden gedichtet und vertont, Kompositionen verfasst. Immerhin hat die Reformation den musikalischen Bereich der Welt in ungeahnter Weise befruchtet. Es wird viele Studien über die Bedeutung der Reformation und ihre Leistungen geben. Kann uns das interessieren? Der Reformationstag als Feiertag ist in vielen Ländern abgeschafft. Wer kann uns erzählen, welche Bedeutung die Reformation oder auch ihr Urheber, Martin Luther, für uns heute hat?! Vielleicht kommen wir zu einer neuen Sicht der Reformation, wenn wir uns auf die heutige Perikope einlassen. Es ist ein Text aus einem Brief, den der Apostel Paulus in Ephesus, 70 km südlich vom heutigen Izmir, an christliche Gemeinden in Galatien, also vielleicht auch nach (heute:) Ankara geschrieben hat. Es ist ein sehr dichter Text, in dem es um Freiheit geht, um Gesetz und Beschneidung und eine Hoffnung, deren Kennzeichen Liebe ist:
(Lesung des Predigttextes).
Der Eingangssatz wird uns noch in den Ohren klingen: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ – der Messias! „Ein für allemal befreit!“ Vielleicht kommt ein wenig Wehmut auf: Eine solche christliche Freiheit möchte ich mal erleben! Vielleicht hat der eine oder die andere enthusiastische Gottesdienste miterlebt. Da spricht ein charismatischer Prediger, ein Gospelchor singt. Die Menschen heben die Hände, Bekenntnisse werden laut: Die Begeisterung kommt durch das Fernsehgerät rüber. Manche berichten Ähnliches von Kirchentagen, wo man den Eindruck hat: Hier möchte ich ewig bleiben! Hier bin ich frei – und bereit, mich auf das einzulassen, was Gott von mir will!
Wer möchte nicht frei sein? Wer möchte nicht aus dem Geiste Gottes leben? Wer will nicht von dem Joch der Gesetze, Verordnungen, Traditionen befreit werden? Paulus sagt das so einfach: „Lasst euch nicht schon wieder unter das Joch der Bevormundung spannen!“ Das mag er einer Gemeinde geschrieben haben, die im heutigen Ankara gelebt hat. Die war hin und her gerissen zwischen der Tradition und dem Neuen. Die Rituale der Tradition waren bekannt und vertraut. Das Zeichen der Circumcisio, der Beschneidung, gliederte die Menschen ins alte System ein. Die Gesetze und Regeln waren vertraut. Dann kam die neue Nachricht, ein neues Evangelium, das berichtete, dass der Messias gekommen sei, der Christus. Und zwar in einem Menschen aus dem israelitischen Dörfchen Nazareth. Viele werden verwundert gefragt haben: Na und? Was wurde denn anders seit ihm? Außerdem soll er ja hingerichtet worden sein! Doch dann wurde berichtet, was im „Schatten des Galiläers“ (G. Theißen) alles geschehen ist: Da sind Gelähmte wieder auf die Füße gekommen! Da haben Blinde wieder einen Sinn in ihrem Leben gesehen! Da sind von Aussätzigen Schrunden und Eiter ungelebten Lebens abgefallen! Sogar Tote hätten den ersten Schritt ins Leben getan! Mit diesem Jesus sei ein neuer Geist in die Welt gekommen. Überhaupt könne man jetzt erst von Leben sprechen nach dieser Reformation.
Dann sind wieder Bedenken gekommen: Ist dieses neue Leben nicht ein Wagnis? Was sagen denn die Anderen? Glauben die vielleicht, wir wären religiös „besoffen“ wie die Jünger damals im Tempel zu Jerusalem, als dieser neue Geist der Freiheit über sie gekommen ist? Die Fragen mögen weiter gegangen sein: Welche Kennzeichen hat dieser Geist? Hängt die neue Freiheit mit einem neuen Gefühl zusammen? Oder ist diese Freiheit nicht – frei?! Also unverfügbar? Auch in der heutigen Zeit stellen wir solche Fragen. Wo ist der Geist heute? Welche Kennzeichen können wir erkennen? Wenn wir an die Geschichten um Jesus denken, dann ist in seinem „Schatten“ Neues geschehen und aufgewachsen. Menschen haben wieder leben gelernt. Vielleicht sollten wir als Christen neugierig sein auf das Neue, das heute geschieht und das wir nicht so schnell mit alten Kategorien begreifen können: das World Wide Web, die neuen digitalen und virtuellen Dimensionen, in denen wir schon jetzt leben. Vielleicht tut sich Neues in den Communities von z.B. Facebook auf. Auch die neue Musik und Kunst ist oft nicht mit den alten Vorstellungen kompatibel. Vielleicht ist es ein wenig ketzerisch, wenn ich an dieser Stelle einen Blick in das Programm der Piraten werfe und sehe, dass sie genau mit diesen heutigen Themen umgehen wollen.
Vielleicht würde sich hier auch ein Martin Luther zu Worte melden als „Whistleblower“ und würde „Missstände und illegales Handeln, wie beispielsweise Korruption, Insiderhandel oder allgemeine Gefahren, von denen er an seinem Arbeitsplatz, bei medizinischen Behandlungen oder bei anderen Gelegenheiten erfährt, an die Öffentlichkeit“ bringen – und das im Namen eines neuen Geistes der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Denn die Welt hat sich verändert, eine Reformation besonderer Art ist schon im Gange. Viele fragen sich hier, wo denn der Glaube bleibt? Wo der Sinn in dem Auseinanderbrechen von Vereinen, Parteien, Kirchen, Gesellschaften, Staaten liegt? Wo haben wir einen Halt? Paulus ruft uns zu: „Wir haben einen Grundsatz der Hoffnung, deren Energie die Liebe ist“. Wir bleiben nicht zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, nicht im Zwischenbereich von Tradition und Neuem, sondern treten aus diesem Zwischen heraus mit der Energie der Liebe.
Was heißt das? Die Reformation hat uns gezeigt, wie sich fortan Menschen engagiert haben in der Gesellschaft. Wie sie sich eingemischt haben in die Politik. Die Reformation hat entscheidende Breschen für Demokratie gelegt. Sie hat den Menschen im Namen Gottes für mündig erklärt und damit für fähig, im Namen Jesu Christi Menschen auf die Füße zu helfen! Ihnen zu helfen, ihrem Leben einen Sinn zu geben! Ihre Freiheit für diese Welt zu nutzen! Also lasst uns das Fest der Reformation Martin Luthers feiern mit allen Sinnen und Stimmen! Lasst uns in Christus heute Menschen begegnen und Strukturen schaffen, die den Menschen dienen. Es gibt nichts Wichtigeres als Menschen. Darum wurde Gott Mensch! Er hat uns befreit zur Freiheit. Also halten wir stand! Bleiben wir dran an der Hoffnung der Gerechtigkeit! Lassen wir uns leiten von Seiner Energie: der Liebe!