Leben vor Gott
Wider Mittelmäßigkeit, Gleichgültigkeit und Unentschiedenheit
Predigttext: Offenbarung 3,14-22 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: 15 Ich kenne deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! 16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17 Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, daß du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. 18 Ich rate dir, daß du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! 20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. 21 Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. 22 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
(Vgl. Neue Genfer Übersetzung, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2010)
Vorüberlegungen zum Predigttext
Bei jedem dieser kleinen, unglaublich konzentriert abgefassten Sendschreiben in Offb 2-3 hat man den Eindruck: Hier ist die Situation einer konkreten Gemeinde zu einer ganz bestimmten Zeit genau erfasst. Hier nimmt der erhöhte Herr in Liebe, Ernst und Wahrheit zu dem Leben seiner Gemeinde Stellung. Zu Laodicea: „Die Stadt ist Schnittpunkt wichtiger Handelsstraßen. Von daher erklären sich ihr Reichtum und ihr gedeihliches Bankwesen. Zugleich hat sie eine bedeutende Ausbildungsstätte für Ärzte und ist Sitz einer weltweit bekannten Heilmittelindustrie“. (Heinz Giesen, Die Offenbarung des Johannes, Regensburger Neues Testament, Regensburg 1997, S.137) Es muss der christlichen Gemeinde in dieser Stadt äußerlich gut gegangen sein. „Wie oft bedrückt es uns, dass wir abendländischen Christen in der Welt einen so abgenutzten Eindruck machen. Da ist auf der anderen Seite bei den jungen Kirchen in Afrika und Asien die Taufrische der ersten Generation. Leute, die das unbeschreibliche Glück haben, dem Herrn Jesus Christus zum ersten Mal zu begegnen, die zum ersten Mal die Schönheit der Evangelien, die Kraft der Gedanken der Apostelbriefe, dieses letzte Buch der Bibel gehört und verstanden haben, und die nun mit der Taufrische der ersten Erfahrung antworten.“ (Hanns Lilje, Offb 3,14-21, in: Die Kirche vor ihrem Richter, 25 Jahre Barmer Theologische Erklärung, Wuppertal 1959, S. 91-100, S. 98f)
„Es ist ein Trost, dass am Thron Gottes einer ist, der mit Augen wie Feuerflammen die Situation unserer Kirche insgesamt und meiner Gemeinde im Besondren sieht. Sein Urteil, sein Tadel und seine Weisung sind schon jetzt klar. Wir müssen nur nach seinem Wort, nach seinem Tadel und nach seiner Weisung fragen. Die Schärfe seiner Buß-Rede darf nicht abgewehrt werden. Und dann sollen wir uns von seinen Verheißungen locken lassen. ‚Gott verbindet im Zerbrechen, schafft Gemeinschaft in der Trennung, gibt Gnade durch Gericht. Sein Wort aber hat er in unsern Mund gelegt‘, kann Bonhoeffer schreiben.“ (D. Bonhoeffer, Sätze über Schlüsselgewalt und Gemeindezucht im Neuen Testament, DBW 14. Band, S. 838; H. Frische, Visionen, die aufblicken lassen – eröffnet aus der Offenbarung des Johannes, Neuendettelsau 2008, S. 123) „Es ist Hoffnung da, Gemeinde, auch für uns. Aber eine Hoffnung um den Preis der Entscheidung.“ (Karl Hartenstein, Der wiederkommende Herr, eine Auslegung der Offenbarung des Johannes für die Gemeinde, Stuttgart (1939) 1983, 4. Auflage, S. 47)
Eine Kirchengemeinde hatte zu einem „Offenen Abend“ eingeladen. Es wurde kein Referat am Anfang gehalten; stattdessen stellte man für alle sichtbar einen Tresor und einen Mülleimer vorne in dem Gemeinderaum auf. Die Teilnehmer, die ins Gemeindehaus gekommen waren, wurden begrüßt; einer führte kurz in diesen besonderen Abend ein; dann hatte jeder etwa 20 Minuten Zeit, sich aus seinem eigenen Leben Ereignisse zu vergegenwärtigen, die entweder für den Tresor oder für den Mülleimer geeignet waren, sie dann auf Zettel aufzuschreiben und nun in das eine oder andere Gefäß zu werfen: Ein Wort des vergangenen Tages oder ein Brief aus der letzten Woche; war es eine Kostbarkeit und gehörte es in den Tresor oder war es für den Mülleimer? Eine freundschaftliche Beziehung – ist es ein Glück, dass man mit dieser Freundin oder jenem Freund verbunden ist, oder hat sich das Miteinander zu einer Belastung entwickelt? Hatte sich das letzte Jahr als ein verlorenes Jahr erwiesen oder war es ein erfülltes Jahr? Mein Beruf, meine Ehe, mein Verhältnis zu meinen Geschwistern, mein Umgang mit der Bibel, mit dem Gebet oder mit Gott? Ist das ein Schatz, oder heißt es da nur: „Das kannst du vergessen!“?
Im Leben ist es wie in einem Wohnhaus. Ständig wird Müll produziert. Aber da findet man auch Schränke, Schatzkassetten und Tresore, in denen Kostbarkeiten verwahrt werden. Die Erfahrung bei jenem „Offenen Abend“ war: Der Mülleimer wird voller und voller; aber man wagt es kaum, Zettel mit Erfahrungen, die man benennen kann, zu beschriften und in den Tresor zu werfen. Die Frage ist: Wie bekommen wir die Schätze unseres Lebens in den Blick? Psychologen sagen: Erst einmal mutig den Mülleimer füllen; dann zeigt sich von selbst, was in den Tresor gehört und welche Kostbarkeiten sich hier sammeln! Von der Bibel, von dem soeben verlesenen siebten Sendschreiben der Offenbarung des Johannes her, will ich vier Antworten geben, die – wie ich meine – eine große Hilfe sind.
Bei Jesus abladen
Die Juden haben in Jerusalem die Klagemauer. So viele Menschen aus aller Welt fahren dahin, um dort zu beten und um dann kleine Zettel mit ihren Nöten in die Ritzen des Mauerwerkes zu stecken und sie so bei Gott abzugeben. Konkret für uns: Ich darf im persönlichen Gebet, beim Singen des „Kyrieeleison“ im Gottesdienst und bei dem Beten der 5. Bitte des Vaterunsers, „und vergib uns unsere Schuld…“, alles Zerbrochene vor Gott bringen. Ich darf bei einem Menschen, von dem ich weiß, er steht vor Gott, beichten. Auch in der evangelischen Kirche gibt es das. Wenn jemand es möchte, dass er in den Blick bekommt, wie sich der Tresor seines Lebens mit Schätzen füllt, dann muss er im Gebet um Ehrlichkeit ringen, dann kann er um Vergebung bitten und dann darf er bei Jesus abladen.
Sich dem Urteil Jesu stellen
Wenn jemand bewusst in unseren Gottesdienst kommt, erwartet er das Urteil Jesu über sein Leben, über die Situation seiner Gemeinde und über die Welt, in der wir leben. Hier in der Offenbarung heißt es: „Der, der treu ist, … der lässt der Gemeinde sagen: Ich weiß, wie du lebst und was du tust; ich weiß, dass du weder kalt noch warm bist. Wenn du doch das eine oder das andere wärst! Aber weil du weder warm noch kalt bist, sondern lauwarm, werde ich dich aus meinem Munde ausspucken“. Eines der glühendsten Worte der Heiligen Schrift! Der erhöhte Herr, der jetzt zur Rechten Gottes sitzt, über jede seiner Gemeinden wacht, sein Lob und seinen Tadel ausspricht und weiß, was für seine Gemeinden gut ist, der nimmt hier zum Leben seiner Gemeinde in Laodicea Stellung. Alle Mittelmäßigkeit, alle Gleichgültigkeit und alle Unentschiedenheit werden hier aufs Korn genommen. Mit Jesus Christus Gemeinschaft zu haben, bedeutet auch, sich sein Urteil gefallen zu lassen. Freuen wir uns daran, dass Jesus einen leidenschaftlichen Glauben will und dass er ein radikales, ein aus der Wurzel unserer Existenz gelebtes Leben vor Gott ermöglicht. Auch wenn das zunächst verwundet und schmerzt, hier sind wir in der Hand des Arztes unserer Seelen.
IHN einlassen
In V. 20 heißt es: „Merkst du nicht, dass ich vor der Tür stehe und anklopfe? Wer meine Stimme hört und mir öffnet, zu dem werde ich hineingehen, und wir werden miteinander essen – ich mit ihm und er mit mir“. Der Herr der Kirche, der Wanderprediger von Galiläa, der Weltenrichter, steht vor mir und möchte die Schlüsselfigur meines Lebens sein. Er klopft an, und seinem Anklopfen entspricht das Klopfen in meinem Inneren. Bevor sich entscheidet, ob mein Leben für den Müll ist oder ob da Kostbarkeiten, Schätze hineingelegt worden sind, die in den Tresor gehören, muss klar entschieden sein, ob Jesus eintreten darf. Hat er das Wohnrecht in mir? Gehören er und ich zusammen? Stehen ihm alle Kammern meines Lebens offen? Wenn Jesus dann eintritt, dann ist das ein Fest. Wie zeigt es sich, dass sich der Tresor meines Lebens füllt?
Sich von IHM beschenken lassen
Auch die Schärfe des 17. Verses ist rasant. Das völlig übersteigerte Selbstbewusstsein der Gemeinde in Laodicea damals wird von Christus selbst angesprochen, aufgedeckt und durchkreuzt: „Du sagst: ‚Ich bin reich und habe alles im Überfluss, es fehlt mir an nichts‘ und dabei merkst du nicht, in was für einem jämmerlichen und erbärmlichen Zustand du bist – arm, blind und nackt.“ Die Gemeinde von Laodicea hatte sich in der wohlhabenden Stadt eingerichtet. Man hatte sich dem Leben, in dem man mit allem versorgt war, zufrieden gegeben. Aber sofort nach diesem demaskierenden Wort Christi folgt das Angebot: „Ich rate dir: Kaufe bei mir Gold, das im Feuer gereinigt wurde, damit du reich wirst, und weiße Kleider, damit du etwas anzuziehen hast und nicht nackt dastehen und dich schämen musst. Kaufe auch Salbe und streiche sie dir auf die Augen, damit du wieder sehen kannst“. Jesus bietet der Gemeinde in Laodicea keine stringente Glaubenslehre, kein Frömmigkeitsschema und kein Aktionsmodell an. Nein, er ruft sie auf, das zu vollziehen, was Martin Luther einen fröhlichen Wechsel nennt: Sie darf, so wie sie ist, zu Gott kommen mit ihrer Armut und mit ihrer Angst, mit ihrer Schuld und mit ihrer Blindheit und ihm all das vor die Füße legen. Gott beschenkt sie mit seiner Nähe und mit seiner Vergebung, mit seiner Treue und mit geöffneten Augen.
Was Gott mir und Ihnen schenkt, wenn wir uns all das Zerbrochene aufdecken lassen, ist nichts Aufgepfropftes und Übergestülptes. Es ist uns persönlich sorgfältig angepasst. Ein drastisches Beispiel: Offensichtlich haben der amerikanische Gerichts-Psychologe Gustav M. Gilbert und der amerikanische Militärpfarrer während des Nürnberger Prozesses 1946 eng zusammengearbeitet. In dem Buch von Gilbert ist berichtet, was sich der Pfarrer bei seiner Seelsorge in den Gefängniszellen unter den Hauptverantwortlichen des „Dritten Reiches“ zur Aufgabe machte: „Diese Männer sollten erfahren, wie der Heiland auf Erden segensreich gewirkt, wie er gelitten hatte und für sie am Kreuz gestorben ist“. Nicht mehr und nicht weniger! Als der Pfarrer kurz vor der Hinrichtung mit einem dieser Männer, dessen Name viele von uns kennen, betete, hörte er ihn sagen: „‘…dass er sein ganzes Vertrauen auf das Lamm setze, das die Sünden der Welt hinwegnimmt‘. Noch in seiner Zelle bat er Gott, Erbarmen mit seiner Seele zu haben“. Ein Mann, der es gelernt hatte, mit den Bergen seiner Schuld und mit seiner Armut auf Jesus zu sehen und dann mit dem Zuspruch der Vergebung zu sterben. Auch wenn er wegen seiner Schuld zum Tode durch den Strang verurteilt wurde und unmittelbar danach die Hinrichtung erlebte.
Der Predigtaufbau und die innere Dramaturgie dieser Predigt ist bis aufs Ende sehr gelungen. Der Einstieg mit dem Schatzkästchen und dem Mülleimer ist überaus originell. Schritt für Schritt gelangt die Predigt seelsorgerlich und Christus-bezogen zu dem Ziel, dass Jesus Wohnrecht in unserer Seele bekommt. – Sehr fragwürdig ist dagegen für mich der Schlußsatz dieser Predigt. Da die letzte pointierte Aussage einer Predigt pastoralpsychologisch gesehen emotional lange nachwirkt sollte man für die Predigt einen anderen Schlußsatz wählen.
Und was sollte sich in unsern Gemeinden heute ändern? – Und in unserm Volk?
Wenn wir dazu am Bußtag nichts zu sagen haben, brauchen wir wirklich keinen Bußtag mehr.