Beschlossene Sache
Trost - die uns schon heute bestimmende Wirklichkeit
Predigttext: Jesaja 40,1-8(9-11) (Übersetzung Martin Luther, Revision 1984)
1Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. 2 Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. 3 Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! 4 Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; 5denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet. 6 Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle steine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. 7 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! 8 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. 9Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; 10 siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. 11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
Hinführung zum Predigttext
Hier hat ein Mensch etwas gehört, was er nicht wusste und hat es anderen Menschen zu Gehör gebracht, Menschen, die in einem Ghetto leben. Sie bewegen sich in einem elementaren Kreislauf von Essen, Lieben, Sterben. Aber keiner ist da, wo er lebt daheim. Es gibt eine fremde Macht, gegen die sich zu wehren sinnlos ist. Keiner kann weg. Fragen steigen auf. Was ist aus meinem Besitz geworden? Wie soll man Psalmen singen ohne Zion und ohne Jerusalem? Gerüchte gehen um. Schuldgefühle steigen auf. Weshalb haben wir nach dem Willen Jahwes nicht gefragt? Weshalb geglaubt, was im Gesangbuch steht und Jahwe darüber vergessen? Eine Wende ist nicht in Sicht. Wo ist Jahwe? Babylon ist stärker als er. Es gibt keine Brücke nach daheim. Dazwischen liegt die Wüste. Raus, aber wie? Da hört einer etwas. Da geht der Himmel auf. Nahrung für Hoffnung auf eine Wende. In seinen Worten kehrt Jahwe zurück zu seinem Volk.
Gattung und Aufbau des Textes, hermeneutische Überlegungen: Der Text gliedert sich in vier Teile. Der erste Aufruf (V 1.2) blickt auf Israel: Die Fronzeit ist zu Ende. Der zweite (V 3-5 ) blickt auf Jahwe: Gott (nicht die Menschen) kehrt heim. Der dritte (V 6-8) bezieht Israel in Gestalt des Propheten ein. Der Prophet soll rufen, setzt seine Einrede aber dagegen. Der vierte Aufruf (V 9-11) bezieht Israel mit ein: Jahwe kehrt heim mit seiner Herde, Israel. Gattungsgeschichtlich handelt es sich um die Vergabe von Aufträgen im himmlischen Raum. Teilgattung ist die Berufung des Propheten mit Auftragsvergabe in V 6a, Einrede des Propheten (V 6b.7), göttlich-himmlischer Zurückweisung der Einrede (V 8) und Auftragesinhalt für den Propheten (V 9-11).
Hermeneutisch ist zu berücksichtigen: Erzählt wird ein Auditionsvorgang in der himmlischen Welt. Der Prophet ist Ohrenzeuge. Die erzählten Vorgänge entspringen definitiven Beschlüssen des Königs Jahwe. Die Ausführung der Beschlüsse wird in Aufträge verwandelt. Das beschlossene Geschehen bewegt sich rein auf der Wortebene, nicht, noch nicht, auf der Geschehensebene. Das beschlossene Geschehen ist allerdings schon im Gang und sucht sich Mitwirkende an seiner Ausführung. Schlüssel zum Verständnis des Textes ist das Realitätsverständnis des Deuterojesaja: Nicht die Empirie macht die Realität eines Geschehens aus. Vielmehr ist die Realität in ihrem Kern dort erfasst, wo ein Geschehen beschlossen ist. Bei Jesaja 40 handelt es sich um die Wahrnehmung eines Geschehensablaufes in nuce. Mit dem Beschluss ist die Sache in Gang gesetzt. Die Wende, auch wenn sie noch nicht in Sicht ist, ist in Gott beschlossen.
Tröstet, tröstet mein Volk, spricht unser Gott“, dieses Wort hat es mir angetan. Gibt es etwas Schöneres als zu trösten? Gibt es aber auch etwas Schwereres als zu trösten? Liegt das überhaupt in unserer Hand zu trösten? Ich spreche jetzt nicht von dem kleinen Trost. Den gibt es. Schon der ist etwas ganz ganz Schönes. Wobei ich unter kleinem Trost verstehe: Z. B. wenn sich zwei Menschen hinsetzen, und der eine dem anderen zuhört, es dem anderen nach und nach leichter ums Herz wird, bis er wieder einen Weg sieht und den Mut hat, ihn zu gehen. Kleinen Trost nenne ich es auch, wenn einer dem anderen die Hand hält, und der spürt und erfährt: Ich bin nicht allein. Kleiner Trost, das ist auch, wenn einer zum anderen sagt: „Ich denk an dich. Wenn du möchtest, ruf mich doch an, oder ruf mich, ich komme gern“. Kleinen Trost nenne ich das, obwohl es etwas ganz Großes ist, wenn einer das in seinem Leben erfährt. Und doch ist es nur etwas Vorläufiges. Etwas, was nur vorübergehend trägt, sich verzehrt, auch wenn es noch so schön gewesen ist und wir in der Erinnerung vielleicht immer wieder dahin zurückkehren.
Der große Trost ist etwas anderes. Er verzehrt sich nicht. Er ist da. Er lässt getrost leben. Er lässt auch getrost sterben. Er gibt dem Leben eine wunderbare Ausrichtung und Kraft. Der große Trost ist auch nicht nur in schweren Zeiten da. Da besonders. Er ist auch in schönen Zeiten da. Wir brauchen ihn, wenn wir fröhlich sind, damit unsere Fröhlichkeit nicht aufgesetzt ist. Wir brauchen ihn, wenn wir traurig sind, damit unsere Traurigkeit nicht in der Verzweiflung endet. Der große Trost ist so etwas wie ein Fundament, über dem sich jeder Tag erhebt und über den sich die Nacht legt, aber er ist immer, immer da. Das Schwierige an diesem großen Trost: Er ist nicht Sache von uns Menschen. Er liegt nicht in unserem Können. Er ist Gottes Werk. Wer das besonders erfahren hat, ist der Mann, der später einmal den Namen „der Tröster“ erhalten wird. Und das, weil er eigentlich nur eine Botschaft hat und die heißt: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“. Was dieser Mann genau erlebt hat, werden wir nie herausfinden. Die einen nennen es eine Entrückung, die anderen halten es für eine Vision. Auf jeden Fall findet er sich plötzlich wieder in der himmlischen Thronversammlung, also im Kreis der Engel, die wir uns um Gott vorstellen dürfen. In diese himmlische Thronversammlung ist Bewegung gekommen. Unruhe ist entstanden. Ein Engel treibt den anderen an. Eine Straße soll gebaut werden. Eine Wunderstraße, eine Art Prozessionsstraße. Durch die Wüste soll sie führen. Über Berge und durch Täler soll sie führen. Eben soll sie sein. Gott selbst möchte auf ihr gehen.
Das Aufregende an dieser Vision ist: Nur der Prophet weiß das alles. Nur er bekommt das alles mit. Auf der Erde ist von alledem nicht das Geringste zu spüren. Da rührt sich nichts. Im Himmel aber werden die letzten Vorbereitungen zum Kommen Gottes in seine Welt getroffen. Das ist noch nicht alles, was der Prophet erlebt. Es geschieht noch mehr. War der Prophet bisher Zuschauer oder Zuhörer, so wird er jetzt in das Geschehen hineingezogen. Er hört eine Stimme: „Predige“, hört er und er bekommt einen Schreck. Was soll er denn predigen? Braucht er nicht selber Trost? Gehört er nicht selber zu den Menschen, die – von Gott enttäuscht – mutlos geworden sind? Wo war Gott denn, als Jerusalem zerstört wurde? Wo war Gott denn, als die Israeliten verschleppt wurden? Wo war er denn, als die Babylonier den Tempel zerstörten, das Allerheiligste, die Wohnstatt Gottes?
O ja, der Mann, der später einmal der Tröster genannt wird, geht noch in den Gottesdienst. Er betet noch, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. Aber diese Gottesdienste sind eine einzige Klage. Manchmal kann er auch die verstehen, die wegbleiben und sich andere Götter suchen. Sind sie nicht viel mächtiger als der Gott, der sich ewig nicht blicken lässt und sich nicht kümmert um die, die ihm einmal vertraut haben? Nun hört er: „Predige“, und er wehrt sich. Was soll er denn predigen: Ist’s nicht so: „Alles Fleisch ist Gras und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, denn des Herrn Odem bläst herein“. Es ist als ob der Prophet ein Gespräch auf dem Friedhof belauscht hätte. Da steht eine Urne. „Das also ist alles, was von einem Menschen übrig bleibt“, sagt eine Frau. „Wie furchtbar“, sagt sie und wendet sich erschrocken ab. Das also ist alles, was von einem Menschen übrig bleibt.
Es ist als ob der Prophet ein Geschichtsbuch studiert hätte. Es erzählt vom Leben der Mächtigen und Herrscher. Was haben sie nicht alles erreicht. Aber dem Tod entgehen sie nicht. Und es ist als ob der Prophet einen Besuch im Pflegeheim gemacht hätte, kranke Menschen gesehen hätte, mühselig und beladen. Ach nein, was soll er damals, was sollen wir heute predigen? Die Welt ist wie sie ist, und sie bleibt wie sie ist, und damit müssen wir uns abfinden. Die Welt ist vom Tod durch und durch gezeichnet. Die Einrede des Propheten ist doch auch unsere Einrede. Im Tiefsten ist es doch das, was alles so trostlos macht. „Ja, alles Fleisch ist Gras und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.“ Aber da ist wieder diese Stimme, und da ist noch immer dieses: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“. Auf den Widerspruch des Propheten folgt der Einwand der himmlischen Thronversammlung: „Ja, du hast recht: Das Gras verdorrt und die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“.
Wir heute wissen: Der Prophet hat sich überzeugen lassen. Was hat er verstanden? Was hat ihn überzeugt an diesem: „Ja, du hast recht: Das Gras verdorrt und die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“. Es waren mindestens zwei Dinge. Das eine: Er hat diese harte Gegenübersetzung verstanden. Hier „alles Fleisch“, wie er das nennt, das menschliche Leben, das auf den Tod zueilt, das vergänglich ist und deswegen auch immer nur einen vergänglichen oder, wie ich das genannt habe, einen kleinen Trost geben kann. Da, „das Wort Gottes“, das nicht vergeht, das dem Tod gewachsen ist, das schafft, was es sagt, und das wirkt, wozu es Gott sendet und das deswegen ein großer Trost ist, mit dem es sich auch getrost leben und sterben lässt.
Dann hat er noch etwas anders verstanden. Er hat nämlich verstanden, dass die Realität im Kern dort verstanden ist, wo etwas beschlossen ist. Noch ist nichts von dem kommenden Heil zu sehen. Die Menschen damals leben noch im Exil. Von der Straße ist noch nichts zu sehen. Die Israeliten stehen noch nicht vor den Toren Jerusalems. Bis heute leben und sterben die Menschen wie sie immer gelebt haben und gestorben sind. Aber das ist nicht das alles Entscheidende: Sondern das alles Entscheidende ist: Im Himmel ist Trost beschlossen und bei Gott ist Trost beschlossen, und deswegen ist Trost auch die uns schon heute bestimmende Wirklichkeit. „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“, das ist die uns alle bestimmende Wirklichkeit. Das ist nicht leicht zu begreifen, denn das, was wir erfahren, ist auch das, was sich uns einprägt. Aber das ist das, was den Propheten so bewegt hat, dass er sich dann doch getraut zu predigen. Zu predigen aus dem heraus, was er in Gott als beschlossen gesehen und gehört hat und wovon doch noch nichts zu sehen und zu hören war auf dieser Erde.
Mit diesem Glauben ist er dann vor die Menschen getreten, hat um ihr Ohr geworben und hat die Verzweifelnden gefragt: „Warum sprichst du: Mein Weg ist verborgen vor meinem Gott? Weißt du es nicht. Er gibt den Müden Kraft. Also: Fürchte dich nicht, so spricht der Herr: Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Einer hat von diesen Worten des Propheten gesagt, sie hätten etwas schlechthin Hinreißendes. Derselbe hat von einem Tanz der Worte gesprochen, in dem der Prophet wie ein Tänzer dem Kommen Gottes voraus läuft. Ich selbst glaube, dass seine Worte der Weg sind, auf dem Gott dann selbst zu uns kommt. Ich schlage deswegen vor, immer wieder auf diese Worte zu hören, damit sie der Weg sind auf dem der große Trost Gottes zu uns kommt. Lasst uns also noch einmal die entscheidenden Worte hören. In Gott beschlossen bestimmen sie schon heute unsere Wirklichkeit. „Tröstet, tröstet mein Volk spricht euer Gott. Predige. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“
Es gibt den kleinen und den großen Trost. Mit dieser Unterscheidung beginnt die Predigt von Pfarrerin Boehme. Der große Trost des zweiten Jesaja stammt nicht nur aus mitmenschlicher Zuwendung, sondern aus einer göttlichen Vision. Wie andere Propheten hatte der Deuterojesaja Zugang zu der himmlischen Ratsversammlung mit den Engeln. Er hörte vom festen Plan Gottes, die im Exil mutlosen, verbannten Israeliten wieder in ihre Heimat zu führen. Der Prophet vernimmt dabei den Auftrag an sich, diese tröstliche Vision den Verbannten zu predigen. Er zögert erst und blickt auf die allgemeine Vergänglichkeit. Aber Gottes Wort ist ewig. Deswegen geht der Prophet los und predigt die göttliche Botschaft in Babylon. “Im Himmel ist Trost beschlossen und und deswegen ist er die bestimmende Wirklichkeit.” Als “der Evangelist des AT” und ein Vorläufer von Jesus ist der zweite Jesaja durch Babylon gegangen und hat überall diesen Trost verkündet. Wahrscheinlich wurde er zum leidenden Gottesknecht (Jes 53 ). Die Worte des Propheten haben dabei etwas Hinreißendes. Wie ein Tänzer läuft der Prophet Gottes Kommen voraus. Die Predigerin schlägt deswegen vor, diese tröstlichen Worte immer wieder zu bedenken. Sie stimmt dabei mit Eugen Drewermann überein, für den diese Worte dazugehören, falls man die Bibel auf wenige Kapitel konzentrieren müsste. Durch die intensive tröstliche Predig werden die Hörenden in die erwartungsvolle und tröstliche Adventsstimmung hineingezogen, auch wenn der Advent nicht ausdrücklich benannt wird.