Da ist noch mehr
Heilgabend - Die verborgene Seite der Weihnachtsgeschichte
Predigttext: Johannes 7,28-29 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
28 Da erhob Jesus, während er im Tempel lehrte, seine Stimme und rief: Und mich kennt ihr und wisst, woher ich bin; doch aus mir selbst heraus bin ich nicht gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den kennt ihr nicht; 29 ich kenne ihn; denn von ihm bin ich, und jener hat mich entsendet.
Einführung zum Predigttext
Drei Stichworte fallen besonders auf: kennen, erkennen, wissen. Viermal taucht das Verb in diesem kurzen Text auf. Wir sollen etwas erkennen. Uns wird etwas bekannt gegeben. Mit dem Stichwort „ein Wahrhaftiger“ wird der zentrale johanneische Begriff der Wahrheit eingespielt. Somit schwingt in dem Text mit, dass Jesus nicht nur von einem Wahrhaftigen gesandt ist, sondern selbst ein Wahrhaftiger, ja die Wahrheit ist. Unser Text verweist auf Joh 14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Zum dritten wird hier einer gesandt, erhält einen Auftrag. Er agiert mit einer Bestimmung, die nicht aus ihm selbst kommt. Der Text spielt mit dem, was die Hörer – damals wie heute – wissen und nicht wissen. Was sie wissen oder vielleicht auch nur zu wissen meinen. Er spielt mit dem, was außen sichtbar ist, und was in einer tieferen Dimension sichtbar ist. Ein Mensch – sichtbar – ein göttlicher Auftrag bis hin zur Einheit von Vater und Sohn – als Tiefendimension. Als Predigttext für Heiligabend mit seinem besonderen „Publikum“ ohne Zweifel eine Herausforderung. Ein Kontrast auch zu der bekannten Weihnachtsgeschichte nach Lukas, dem zuvor gelesenen Evangelium (Lk 2-1-20), das bei der Predigt unmöglich ausgeblendet werden kann.
Ich nehme den Abschnitt aus dem Johannesevangelium als Tiefendimension der Weihnachtsgeschichte und binde so beide Texte spannungsvoll zusammen. Das Bild vom Eisberg mit dem sichtbaren und dem unsichtbaren Teil soll zur Illustration des Zusammenhangs beider Texte dienen. So wird herausgearbeitet, dass Weihnachten mehr ist als eine anheimelnde Geburtsgeschichte. Das Geheimnis der Weihnachtsgeschichte kommt so in den Blick und wird auch als Erklärung für die ungebrochene Anziehungskraft dieses Festes in Anspruch genommen. Das Geheimnis besteht letztlich aus der christologischen Frage: Wer ist Jesus? In welcher Verbindung steht er zum Vater? Auch wieder die Spannung: Viele möchten in Jesus gerne nur einen besonders guten Menschen sehen. Damit aber lässt sich in meinen Augen die Anziehungskraft des Weihnachtsfestes gar nicht erklären. Ich sehe hinter den hohen Besucherzahlen die Ahnung: da ist noch mehr.
Lieder:
„Tochter Zion“ (EG 13)
„Vom Himmel hoch, da komm ich her“ (EG 24)
„O Bethlehem, du kleine Stadt“ (EG 55)
„Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37)
„Lobt Gott, ihr Christen all gleich, in seinem höchsten Thron“ (EG 27)
„Es ist ein Ros entsprungen“ (EG 30)
„O, du fröhliche“ (EG 44)
Literatur:
Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament 6,, Tübingen 2005. - Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 4, Stuttgart 2000. - Rainer Stuhlmann, Auf Bescheid warten – statt Bescheid wissen, Göttinger Predigtmeditationen 2012/11, S. 35ff. - Axel Töllner, Hinter der Krippe liegt der Tempel, Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Dialog, Wernsbach 2012, S. 25ff.
Sichtbares und Verborgenes
Wenn ich die Weihnachtsgeschichte nach Lukas, die wir eben gehört haben, und diese kurze Episode aus dem Johannesevangelium zusammen sehe, dann kommt mir das Bild eines Eisbergs. Ein Eisberg ragt mit seinem hellen Licht aus dem Wasser. Je nach Sonnenbeleuchtung ein phantastisches Bild. Wir wissen aber auch: Viel größer ist der Eisberg unter Wasser. Der weitaus größere und tiefere Teil ist unseren Blicken verborgen. Was hat dieses Bild mit den beiden biblischen Texten zu tun? Den sichtbaren, in der Sonne funkelnden Teil des Eisbergs, nehme ich für die Weihnachtsgeschichte nach Lukas, mit all ihren vielen, uns bestens bekannten Elementen: Kaiser Augustus, die Volkszählung, Josef und Maria, die Engel und die Hirten, das neugeborene Kind, in Windeln gewickelt. Der unter Wasser verborgene Teil ist für mich unser Predigttext aus dem Johannesevangelium. So gar nicht weihnachtlich kommt dieser Text daher. Hier ist Jesus schon ein erwachsener Mann. Dieser Text ist so etwas wie die verborgene Seite der Weihnachtsgeschichte.
In der Weihnachtsgeschichte können wir uns einfach an einer nachvollziehbaren Geschichte erfreuen, an der Geburt eines Kindes. Wen lässt das schon kalt? Hier, im Johannesevangelium, wird vertieft, was bei Lukas durchaus schon anklingt. „Euch ist heute der Heiland, der Retter geboren“, sagt der Engel. Wie sollen wir das verstehen: ein neugeborenes Kind der Retter? Wir ahnen: Da ist noch eine ganze Menge unter der Oberfläche verborgen. Das greift das Johannesevangelium hier auf mit Fragen wie: Kennen und nicht kennen? Wer ist der, den wir heute feiern? Ist das eine ganz normale Geburt, so wie sie tagtäglich stattfindet? Ein entzückendes Baby? Oder, um es zu steigern: ein besonderer Mensch? Gar ein einzigartiger? Ein besonderes Ereignis ist die Geburt eines Kindes natürlich immer. Aber die Geburt Jesu hat eine Sonderstellung. Schließlich ist sie 2000 Jahre her. Noch heute füllt dieses Ereignis weltweit die Kirchen und zieht die Menschen in ihren Bann. Da muss also noch mehr sein.
Geheimnis
Während das Lukasevangelium dieses „Mehr“ eher anklingen lässt, wird es in unserem Predigttext aus dem Johannesevangelium direkt zum Thema gemacht. Nun wird deutlich: Dieser Mensch ist einzigartig. Er erhebt einen ungeheuren Anspruch: „… es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den kennt ihr nicht; ich kenne ihn; denn von ihm bin ich, und jener hat mich entsendet“. Jesus ist nicht einfach in diese Welt gesetzt wie andere Neugeborene. Er wurde vielmehr von Gott in diese Welt gesandt. Das ist mit Variationen die Botschaft des ganzen Neuen Testaments in seinen verschiedenen Teilen. Jesus ist gleichzeitig ein Mensch wie wir und ein ganz besonderer, einzigartiger Mensch. Hier stoßen wir im wahrsten Sinne des Wortes an die unteren, nicht sichtbaren Bereiche des Eisbergs. Hieran stoßen sich viele Menschen. Ein besonderer Mensch? Einer, den man sich in vielem zum Vorbild nehmen kann? Ja, vielleicht. Aber einzigartig? In Verbindung mit Gott, von Gott herkommend wie sonst keiner? Das geht vielen zu weit. Aber das Johannesevangelium setzt hier nur konsequent um, was die Weihnachtsgeschichte nach Lukas andeutet. Über wen könnte man denn sagen: Heiland, Retter der Welt? Das heißt auch nichts anderes als: er ist einzigartig. In diesem Kind schlägt Gott ein neues Kapitel auf in seiner Geschichte mit uns Menschen. In diesem Kind gehören alle Ängste, wir könnten in dieser Welt verloren sein, von Gott verlassen, endgültig, ein für allemal der Vergangenheit an.
Der dicke Brocken des Eisbergs unter Wasser. Vor unseren Blicken verborgen. Die Tiefendimension der Weihnachtsgeschichte. Das Geheimnis Jesu, Gottes, des Menschen, der Welt. Wo es um die Einzigartigkeit Jesu geht, lässt sich nicht alles ergründen. Da lässt sich nicht alles mit unserem Verstand erfassen. Das ist anstößig. Gleichzeitig liegt wohl gerade darin der Zauber von Weihnachten, der Zauber dieser Geburtsgeschichte. Wir spüren: da ist noch etwas. Da ist ein Geheimnis. Da ist etwas Besonderes, Einzigartiges. Es allzu sehr mit unserem Verstand erfassen zu wollen, macht den Zauber kaputt. Es ist gut, das Unergründliche stehen zu lassen, sich ihm zu überlassen. Aber wir können das Unergründliche umkreisen, abtasten. Das wollen wir jetzt tun und dazu noch einige genauere Blicke auf unseren Abschnitt aus dem Johannesevangelium werfen. Da ist deutlich: Jesus ist mit einem besonderen Auftrag in unsere Welt gekommen. Er wurde von Gott gesandt. Eine ganz besondere Geschichte, ein ganz besonderes Leben, das mit der Weihnachtsgeschichte seinen Anfang nahm.
Wahrheit
Der ihn gesandt hat, wird „ein Wahrhaftiger“ genannt. Hier sind wir nahe dem Auftrag, den Jesus zu erfüllen hat: uns mit diesem wahrhaftigen Gott bekannt machen. Das ist nötig, weil wir diesen Wahrhaftigen nicht kennen, wie Jesus im Tempel sagt. Weihnachten nach dem Johannesevangelium, das ist die Begegnung mit dem wahrhaftigen Gott. Wahrhaftigkeit und Wahrheit sind im Johannesevangelium zentrale Begriffe, in denen sich die ganze Botschaft des Evangeliums verdichtet. Dabei geht es nicht um einen abstrakten Wahrheitsbegriff. Mit Wahrheit ist hier Treue, Zuverlässigkeit gemeint. Wahrhaftig ist einer, bei dem wir wissen, wie wir mit ihm dran sind. Wir begegnen also hier in Jesu Worten dem treuen und zuverlässigen Gott. Dem Gott, der zwischen uns und sich nichts kommen lässt. Wie es mit unserer menschlichen Treue und Zuverlässigkeit aussieht, ist eine andere Frage. Aber von Gottes Seite aus ist die Sache eben klar. Auf seine Treue und Zuverlässigkeit können wir uns verlassen. Das heißt nicht, dass das jetzt ein neuer Gott wäre, den Jesus uns da nahe bringt. Er stellt viel mehr klar, wie Gott schon immer war.
Nur ist die Geschichte der Menschen mit Gott, wenn man sie durch das ganze Alte Testament hindurch betrachtet, so wechselvoll, so ein Auf und Ab, dass den Menschen hier immer wieder die Klarheit fehlte oder abhanden gekommen ist. Immer wieder sind bis heute Menschen unsicher: ob Gott nicht doch auch ein strafender Gott ist, einer der auch vernichtet, verwirft, Menschen in die Hölle wirft. Immer wieder ist Gott einer, vor dem Menschen Angst haben und mit dem Menschen anderen Menschen Angst machen. Heute aber ist der Tag der großen Klarstellung: Unser Gott ist ein wahrhaftiger, ein zuverlässiger, treuer Gott, einer der mit uns schon lange seinen Frieden geschlossen hat. Einer, der nichts sehnlicher hofft, als dass wir Menschen aus vollem Herzen und ohne jeden Vorbehalt uns auf diesen Frieden einlassen. Diesen Gott macht uns Jesus bekannt. Dazu ist er auf die Welt gekommen. Ganz von vorne, ganz klein hat er angefangen. Aber er ist kein Nachrichtensprecher. „Von ihm bin ich“, sagt er. Gott und Jesus gehören ganz eng zusammen, sie bilden eine unlösliche Einheit. Noch deutlicher wird das später im Johannesevangelium, wenn Jesus von sich sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“.
Jesus macht uns nicht nur Gott bekannt, in ihm macht vielmehr Gott sich bekannt. Jesus ist die Gestalt, mit der Gott sich uns bekannt macht. Diese Einheit des Menschen Jesus mit Gott ist mit dem Verstand nicht zu erfassen. Hier werden die Einteilungen, die wir so gerne vornehmen, aufgehoben. Aber wenn wir das fallen lassen, dann ist auch schnell der Zauber von Weihnachten weg. Denn das ist doch gerade das Besondere, Geheimnisvolle: ein Kind wird geboren – und Gott ist mit dabei, untrennbar nahe. Der zuverlässige, treue Gott, der dafür steht, dass wir nie mehr verloren gehen. Denn er ist unser Retter.
Mit dem Bild vom Eisberg erklärt Pfarrer Friedrich die Tiefendimension des Heiligen Abends. Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas mit Krippenkind, Hirten und Königen ist ja die verbreitetste Erzählung der ganzen Weltliteratur. Wie die Spitze eines Eisbergs leuchtet sie hell. Sie bewegt die Herzen der Christen. Der Predigttext aus dem Johannes-Evangelium erschließt den gewichtigen intellektuellen und tiefsinnigen Teil der Weihnachtsbotschaft. Durch diese beiden Perspektiven vertieft der Prediger sehr originell und überzeugend die Weihnachtsbotschaft und verhindert die Gefahr einer rein emotionalen Weihnachtsidylle.