Zwiesprache
Woran sich zeigt, wer wir sind und wer wir sein dürfen
Predigttext: Johannes 1, 29-34 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! Dieser ist`s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er Israel offenbart werde, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser. Und Johannes bezeugte und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf wen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist`s, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeuge: Dieser ist Gottes Sohn.
Exegetische Skizze
Der Text ist in seinen beiden Teilen ähnlich aufgebaut. Auf einen berichtenden Satz folgt jeweils eine wörtliche Rede, in der eine andere wörtliche Rede zitiert wird. Der Text ist also durch und durch dialogisch strukturiert. Vom Wort, das im Anfang bei Gott war und durch welches alles geworden ist, handelt das vierte Evangelium in seinem hymnischen Prolog. Gottes Wort (griechisch: logos), so lässt die Perikope schon in ihrem Aufbau erkennen, ist in sich durch und durch dialogisch und immer auch Zwiesprache.
Die Aussage des Täufers vom Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, enthält neben einer Anspielung auf die Passahlämmer einen deutlichen Bezug auf Jes 53,7+12. Doch auch die Begabung mit dem Geist, der in Gestalt der Taube auf Jesus bleibt, verweist an den Knecht Gottes bei Jesaja (vgl. Jes 42,1) bzw. an den Spross aus der Wurzel Isais, auf dem nach Jes 11, 2 Gottes Geist ruht. In ihm sind Gottes hoheitliche Zwiesprache mit aller Welt und seine Zwiesprache auf Augenhöhe mit denen, die schon so gut wie verloren sind, vereint. Nicht von ungefähr ruft Gott gerade bei (Deutero-)Jesaja wiederholt alle Nationen zu einer Art öffentlichen Disputation auf (Jes 41,1ff; 43,9ff; 45,20ff u.ö.).
Zur Bedeutung von „Sünde“ im Johannesevangelium vgl. Joh 8,34;9,41;15,22+24. Sünde ist dort als eine eigendynamische Macht wahrgenommen. Sie vermag umso unkontrollierter zu wirken, je mehr sie geleugnet oder einzelnen Personen zugeschrieben wird (wie etwa dem Blindgeborenen, bzw. seinen Eltern in Kap. 9 oder der auf frischer Tat ertappten Ehebrecherin in Kap. 8). Zum Begriff des „sprachlosen Entsetzens“ vgl. B. van der Kolk u.a., Traumatic Stress, Paderborn 2000, S. 216 u.a.
71°10`21“N – so steht es auf Postkarten, T-Shirts und ähnlichen Souvenirs, die man am Nordkap erstehen kann. Es ist als könne man, anstatt vom „Nordkap“ zu sprechen, ebenso gut diese Koordinaten anführen. Wer wir sind, wird maßgeblich davon beeinflusst, welche Bedeutung wir für andere haben. Wie man von uns spricht und vor allem wie man mit uns spricht, prägt uns von klein auf. Ein Kind redet von sich zunächst in der dritten Person. Erst später beginnt es, „ich“ zu sagen. Doch zweifellos wäre es fatal, wollte man uns deswegen schlechthin damit gleichsetzen, wie man so von uns oder mit uns spricht. Der Predigttext erzählt davon, wie eines Tages zu Johannes dem Täufer Jesus von Nazareth kam. Mit beiden – dem Täufer hier und Jesus dort – verbindet sich im vierten Evangelium die Frage: „Wer bist du?“ Ob aus ihrer Begegnung an jenem Tag auch ein Licht auf die Frage fällt, wer wir sind?
Als Jesus zu ihm kommt, äußert der Täufer im Blick auf ihn zwei Dinge. Das erste ist: „Siehe Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“. Das zweite lautet: „Dieser ist der Sohn Gottes“. Zwischen dem Einen und dem Andern liegen ganze Welten. So wie ganze Welten dazwischen liegen, dass jemand am Kreuz in Schimpf und Schande stirbt, aber Gott ausgerechnet ihn zum Urheber neuen Lebens einsetzt. Oder wie sich dazwischen ganze Welten auftun, wie Jesus seinen Jüngern die Füße wusch, aber es im Evangelium von ihm heißt: „Wir sahen seine Herrlichkeit“. Denn die Füße der Tischgäste zu waschen, war normalerweise Sache von Sklaven. Ganze Abgründe liegen jeweils zwischen dem Einen und dem Anderen. So tief und unüberwindlich sind sie wie jene Kluft, die sich zwischen Leben und Tod auftut. Nur das Wort, das von Gott ausgeht, kann sie für uns überbrücken. Was der Täufer über Jesus sagt, wird auch nur durch das Wort von Gott zusammengehalten, das uns in jenem Mann begegnet, der damals zu Johannes kam. Ist es doch in ihm Fleisch geworden und teilt ein Menschenleben mit uns, damit unsere Geschichte nicht am Ende in einer Art monströsem schwarzen Loch ohne Worte untergehen muss. Zwiesprache hält Gott in ihm mit uns – so wie wir Gott immer in Zwiesprache vorfinden, wo er uns begegnet. Denn nur, indem er uns in eine solche hinein nimmt, ist verbürgt, dass wir nicht verlorengehen, eines Tages einfach von der Bildfläche verschwunden sein werden, so als wären wir nie einer Rede wert gewesen.
„Siehe Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“. Was Johannes der Täufer im Blick auf Jesus sagt, als dieser eines Tages zu ihm kommt, spielt auf eine Geschichte an, in der es an entscheidender Stelle nur noch ganz stumm zugeht, so als würde jedes Wort stören. Beim Propheten Jesaja wird sie erzählt: „Als er misshandelt wurde, tat er seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf“. Von einem Knecht, den Gott für einen ganz besonderen Auftrag ausgewählt hat, handelt diese Geschichte bei Jesaja. Seinen Geist hat Gott auf diesen Knecht gelegt. Er wird den Vielen Gerechtigkeit schaffen, indem er ihre Sünde trägt. Denn in diesem seinem Knecht, der hier verstummt, fordert Gott zugleich hoheitlich alle Welt zum Zwiegespräch mit sich, so ähnlich wie ein Souverän, der zu einer Unterredung einbestellt.
Sünde hat es hier sehr eng mit einer unheimlichen Macht zu tun, die uns zuletzt zum Verstummen bringen will. Sie wird in der Bibel ähnlich beschrieben wie ein Sog, der alles, was in Zwiesprache lebt und letztlich nur in ihr leben kann, in tödliches Verstummen zieht. Die Spuren ihrer Macht hinterlässt sie nirgends so deutlich wie an Menschen, denen von anderen schwere körperliche oder seelische Verletzungen zugefügt wurden. Zwar drängt es sie förmlich, anderen mitzuteilen, was sie erlebt haben. Denn darüber könnten sie wenigstens ein kleines Stück einer inneren Vereinsamung loswerden, die sie zusätzlich quält. Doch die Worte, die solches leisten können, wollen sich einfach nicht einstellen. Man hat für solche inneren Zustände einen eigenen Ausdruck gebildet: „Sprachloses Entsetzen“, weil die Betroffenen um Worte ringen wie um Luft, aber dann ist es, als seien sie wie gelähmt. Wie in ein Niemandsland verbannt fühlen sie sich, in dem man überhaupt keine Zwiesprache mehr halten kann. Ein Schatten des Todes ragt in allen solchen Geschichten des zwangsweisen Verstummens hier und des sprachlosen Entsetzens dort.
„Siehe Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ Der Täufer Johannes bezieht sich in dem, was er im Blick auf Jesus sagt, auf jenen Knecht Gottes, der unter uns wohnte und solches Verstummen mit uns teilte, auf den Gott aber seinen Geist gelegt hat. Unsere Sünde will er ja tragen, sie auf sich nehmen, damit sie von uns genommen wird. Die Sünde der Welt, unter der unser Leben verloren zu gehen droht, so als seien wir im Grund nie einer Rede wert gewesen, wird sich vor ihm und somit vor Gottes Geist einmal erklären und ihren Mund zur Zwiesprache mit Gott auftun müssen. Von dem Lamm Gottes bezeugt Johannes daher auch: „Dieser ist der Sohn Gottes“. Konnte sich der Täufer bis dahin zur Bekräftigung seines Bekenntnisses nur auf sein bisheriges eigenes Zeugnis berufen und sagen: „Dieser ist`s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist“, so wendet sich das nun. Es ist, als könne er nun getragen von einem himmlischen Rückhalt reden und Zeugnis geben. Da erklingt es dann auch in vollem strahlenden Glanz: „Johannes bezeugte“, so erzählt es der Predigttext, „und sagte: Ich sah den Geist wie eine Taube vom Himmel herabkommen und sich auf ihm niederlassen. Ich kannte ihn nicht. Aber der, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, hat zu mir gesagt: Auf wen du den Geist herabkommen und sich niederlassen siehst, der ist es, der mit Heiligem Geist taufen wird. Und ich habe es so geschaut und bezeuge: Dieser ist der Sohn Gottes.“
Da sprudeln uns Worte, die in Zwiesprache leben und nur in ihr leben können, regelrecht wie aus ihrer ursprünglichsten Quelle entgegen. Sie überschlagen sich förmlich davor, wie sie aus lebendiger Zwiesprache stammen und lebendige Zwiesprache suchen. Der Täufer bezeugt öffentlich, was sich ihm aufgetan hat. Er tut das ähnlich wie ein Berichterstatter von einer Szene erzählt, deren Augenzeuge er geworden ist. Johannes sucht Zwiesprache mit seinen Zuhörern. Er sucht sie auch mit uns, die wir heute zu seinen Zuhörern zählen. Doch mehr noch: In seinem Zeugnis beruft sich Johannes darauf, wie der, der ihn gesandt hat, mit ihm zuvor geredet hat. Welch wundersames Gespräch war das, auf das er verweist! Gott hatte mit ihm, Johannes, Zwiesprache gehalten – gerade so wie man auf Augenhöhe miteinander spricht. Wie mit jemanden, den man in eine ureigenste Angelegenheit einweiht, hatte Gott mit ihm gesprochen und ein unverwechselbares Erkennungszeichen verabredet. Daraufhin weiß der Täufer erst voll und ganz, zu welchem unverwechselbaren Zeugnis er berufen ist. Darum sprudeln Worte voller Zwiesprache und ein strahlendes Zeugnis nun so lebendig hervor. Hier ist es ganz umgekehrt, wie dort, wo es einem alle Worte verschlägt oder einem alle Worte fehlen. Es ist, als habe sich eine Quelle von neuen Worten gegen all jenes zwangsweise Verstummen und sprachlose Entsetzen aufgetan. Das liegt nicht etwa daran, dass besonders viele Worte gemacht würden oder dass Johannes ausgesprochen eloquent zu reden verstünde. Vielmehr: Gott hatte mit ihm Zwiesprache gesucht, wie man mit jemandem auf Augenhöhe redet.
An einer Quelle ist Johannes da angekommen. Er ist an der Quelle aller Quellen angelangt. Es ist jene Quelle, wo Jesus von Nazareth uns als das Mensch gewordene Wort Gottes begegnet oder – was dasselbe ist – als der einzig geborene Sohn, der im Schoß des Vaters war und uns Gottes lebensschaffende Herrlichkeit neu zeigt. Denn er offenbart Gottes Zwiesprache mit uns wie an ihrer Urquelle. In ihm nimmt Gott alle Welt in einen Dialog hinein, damit einmal alle Welt auch miteinander auf eine Weise Zwiesprache halten soll, in die sich kein zwangsweises Verstummen und kein sprachloses Entsetzen mehr einmischen wird. Wer wir sind und wer wir sein dürfen, zeigt sich in der Zwiesprache, die Gott mit uns hält. Die dürfen wir ruhig ganz für uns eintreten lassen.
In dieser Predigt sprudeln uns Worte aus der ursprünglichen Quelle des Glaubens entgegen. Johannes der Täufer ist demnach an der Quelle aller Quellen angelangt. Auf dem Weg dieser Predigt findet ein Prediger, eine Predigerin, sicher viele Anregungen, den Weg zur Quelle des Gaubens aufzuzeigen.