Mit Augen der Liebe sehen

Der Sichtweise des Vertrauens Raum geben

Predigttext: Lukas 18,31- 43
Kirche / Ort: 23570 Lübeck
Datum: 10.02.2013
Kirchenjahr: Estomihi
Autor/in: Pfarrer em. Hans-Dieter Krüger

Predigttext: Lukas 18,31- 43 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. 37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vorne an gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

 

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Was Jesus seinen Jüngern eröffnete, war für sie schockierend. Ihr Meister geht mit ihnen hinauf nach Jerusalem, um einen schrecklichen Leidensweg anzutreten: Verspottung muss er erdulden. Er wird Misshandlungen ausgesetzt. Man wird ihn anspucken, geißeln und am Ende umbringen.  Das sind deprimierende Aussichten, die die Jünger verstören. Da hilft auch nicht der Trost, den Jesus bereit hält, dass er vom Tode auferstehen wird. Bei den Jüngern kommt das einfach nicht an.  Es ergibt für sie keinen Sinn. „Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.“ Sie konnten sich nicht vorstellen,  wie das dem Kommen des Gottesreiches dienlich sein sollte. Gab es nicht einfachere Möglichkeiten, sozusagen humanere Optionen, um dieses Ziel zu erreichen? – Hier sind wir an einem Punkt, der vielen unserer Zeitgenossen, möglicherweise auch uns selbst, Schwierigkeiten macht. Da wird gefragt, ob Gott nicht auf weniger grausame Weise sein Rettungswerk  hätte vollbringen können. Ein Wort von ihm würde doch genügen, um dem Leid in dieser Welt ein Ende zu setzten, um Schuld zu vergeben, um Krankheit und Tod zu überwinden.

Warum lässt Gott für diese Ziele seinen Sohn, einen Unschuldigen, so entsetzlich leiden und zugrunde gehen? Wenn wir Antwort auf diese Fragen haben wollen, dann werden wir auf den zweiten Teil unseres Textes gewiesen. Das wundert manchen, weil dieser Teil mit der Heilung eines Blinden viel heiterer, freundlicher, positiver ist. Da sind nicht die düsteren Schatten des Kreuzes, sondern da ist die Helligkeit eines Wunders. Freude und Dankbarkeit sind die Antwort des Geheilten, und die Menschen, die das miterlebten, schließen sich dem an. Wenn wir aber tiefer in diese Geschichte hinein horchen, entdecken wir doch sinnvolle Verbindungslinien. Da bemerken wir nämlich, dass nicht nur Jesus von sich spricht als einem, der ins Leiden muss, sondern dass da noch ein anderer ist, der ebenfalls leidet: Es ist der Bettler am Wegesrand. Der kann nichts sehen und ist von der Wohltätigkeit der Vorübergehenden abhängig. Dieses schwere Geschick, das auf ihm lastet, steht für Vieles, was auch uns an Elend, Unglück und Not in der Welt begegnet. Es ist wichtig, dass wir die Verbindung, die Jesus zu dem blinden Bettler herstellt, im Auge behalten. Was hat sich denn ereignet? Jesus hat sich dem armen Mann in Liebe zugewendet. Er hatte ein Herz für ihn. Er verstand ihn. Er konnte sich vorstellen, wie das ist, wenn man nichts sieht und von den Almosen anderer Leute abhängig ist. Er konnte sich so sehr in die Lage des anderen hinein versetzen, dass er unter dessen Not mit litt.

Das verstehen wir doch auch in unserem Lebensbereich unter wirklicher Liebe: Wenn wir jemanden lieben, dann wenden wir uns ihm doch ganz zu. Dann suchen wir ihn zu verstehen in seiner Eigenart, in seinen Schwächen, seinen Sorgen und Ängsten. Wenn er des Lebens nicht froh wird, können wir es auch nicht sein. Wenn er krank ist, leiden wir mit. Nie möchten wir es besser haben als er. Diese liebende, mit leidende  Zuwendung hat auch jener blinde Mann durch Jesus erfahren. Sie gilt uns allen. Denn auch uns sieht und versteht unser Herr. Er kennt unsere Not, weiß um jeden Kummer, der unser Leben trübt. Kein Geheimnis unserer Herzens ist ihm verborgen. Auch die Gedanken, die wir niemandem anvertrauen würden, liegen offen vor ihm da. Er sieht und empfindet mit uns, wenn wir Angst haben vor dem Untersuchungsergebnis, das der Arzt uns mitteilen wird. Er leidet mit uns, wenn wir uns um den Weg eines Angehörigen sorgen. Er weiß, wie es ist, wenn uns der Schmerz um den Verlust eines lieben Menschen quält. Das gilt auch für die weltweiten Nöte, die durch Krieg und Gewalt entstehen. Das alles sieht und weiß er. Aber er registriert es nicht in der Weise, wie es objektiver Beobachter tut, den das letztlich nichts angeht oder der es nicht ertragen kann, so wie es den meisten von uns geht. Nein, er sieht es wie ein Liebender. Darum leidet er mit unter dem, was uns Schmerzen bereitet. Darum ist sein Gang in zum Kreuz so wichtig.

Das Kreuz, an dem Jesus starb, ist unverzichtbar für die Deutung unseres Lebens. Es gibt keinen größeren Trost für das Leiden und die Not der Menschen, als das Geschehen auf Golgatha. Wie unter einem Brennglas konzentrieren sich alle Schrecken, alle schaurigen Möglichkeiten, auf dieses Kreuz. Dieses Kreuz hat eine wunderbare, liebevolle und trostreiche Botschaft: Du bist nicht allein. Du bist nicht verloren, Du bist nicht verlassen und Du bist nicht vergessen. Im Gegenteil: Der Gekreuzigte umfasst Dich mich seiner unendlich großen und tiefen Liebe. Er zweifelt und klagt mit Dir, wenn er die düstere Melodie der scheinbaren Sinnlosigkeit des Leidens aufnimmt und am Kreuz ruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er nimmt Dich mit in sein Erlösungswerk, wenn er seinen Auftrag auf dieser Erde mit den sieghaften Worten krönt: „Es ist vollbracht“. Sind wir in der Lage, das Kreuz gültig zu deuten? Ich wünsche uns, dass Gott uns dafür die Augen öffnet. Geistliche Blindheit bleibt bei der Frage nach dem „Warum?“ stehen. Sie möchte das Kreuz am liebsten abschaffen.  Aber wenn wir hier Heilung erfahren, wenn uns die kranken, in geistlicher Hinsicht verschlossenen Augen geöffnet werden, wenn Glaube und Vertrauen bei uns Einzug halten, erkennen wir, dass Jesus am Kreuz Großes vollbracht hat: Heil und Erlösung für die Menschheit, die Natur, die Schöpfung, den ganzen Kosmos.

Der Blinde vor Jericho hat damals die liebende Zuwendung Jesu erfahren. Verständnis, Mitgefühl, Mitleid, das war schon eine große Hilfe für ihn. Aber dabei blieb es nicht. Ihm wurde darüber hinaus auch noch konkret geholfen. Ihm wurde das Augenlicht wieder gegeben. Jesus war nicht nur bei ihm, teilte nicht nur seine missliche Lage, zeigte nicht nur Mitgefühl, sondern er besaß auch die Möglichkeit, ihn daraus zu befreien. Das ist für uns und unser Ergehen von Bedeutung: Jesus leidet nicht nur mit uns, er teilt nicht nur mitleidig unser Geschick, sondern er hat auch die Macht, es zu unseren Gunsten zu wenden. Der Blinde hat es an sich selbst erfahren, und auch wir empfangen in unserem Leben solche Signale. Wie schön, wenn unsere inneren Augen das entdecken und wir dankbar in den Choral einstimmen können: „In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet“.

Jesus hatte  sein irdisches Ende vor Augen. Er wusste, wie schwer der Weg sein würde. Gern hätte er weiter am Leben teilgehabt. Er war ja noch so jung, Anfang 30. Einmal hat er im Gebet gefragt, ob der Todeskelch nicht an ihm vorübergehen könne. Die Antwort war niederschmetternd: Nein. Er musste diesen Weg gehen. Dieses „Muss“ hatte aber einen tiefen  Sinn. Es war göttlicher Beschluss. Er diente zur Rettung der Menschheit, zur sichtbaren Darstellung der Erlösung, zur Offenbarung des Heilsplanes, den Gott von Anfang an für uns vorgesehen hatte. Das hat Jesus erkannt. Darum konnte er so gelassen, so tapfer, so kraftvoll, so unbeirrt den Weg gehen, der ihm verordnet war. „Vater, nicht mein sondern dein Wille geschehe“, das waren seine Worte, mit denen er sich ganz und gar in die Obhut Gottes begab. Noch am Kreuz bestätigte er dieses Vertrauen mit  einem Gebet aus den Psalmen: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“.  Es ist wunderbar, wenn wir uns dieser Sichtweise anschließen, diesen Worten in unseren Herzen Raum geben, dieses Vertrauen uns zu Eigen machen können.

Es ist bemerkenswert, dass Jesus die Blicke der Jünger immer wieder über das irdische Geschehen hinaus lenkt. Er spricht über sein Lebensende und lässt doch die große Hoffnung aufleuchten, die ihn beseelt: Am dritten Tage kommt die Auferstehung und das neue Leben in Gottes Ewigkeit. An dieser Art, die Zukunft zu betrachten, lässt er seine Jünger und auch uns teilhaben. An anderer Stelle wird er noch deutlicher, wenn er den Seinen ein Versprechen gibt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“,  oder: „Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt“ (Johannes 14,19; 11,25). Bis wir die letzte Grenze erreicht haben, müssen wir vielleicht noch einige dunkle Wegstrecken hinter uns bringen. Aber auch hier möchte er uns einen Blickwinkel eröffnen, der Trost und Hoffnung gibt: Wenn ihr Schweres durchmacht, lasst den Kopf nicht hängen. Im Gegenteil: Erhebt eure Häupter, weil eure Erlösung naht (Lukas 21,28). Mit dieser Erlösung ist nicht nur das Ende von den Lasten und Nöten, die uns bedrücken, gemeint, sondern eine Erlösung, die in einem Gotteswort aus Jesaja 43,1 zum Ausdruck gebracht wird: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“. Zum Leben berufen und unverlierbar Gottes Eigentum zu sein – hier auf Erden und eines Tages in der Ewigkeit. Was könnte uns mehr Trost und Lebenskraft geben, als diese Zusage. Möchte Gott uns die Augen für diese wunderbare Wirklichkeit öffnen.

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2 Kommentare on “Mit Augen der Liebe sehen

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Direkt und zielstrebig geht Pastor Krüger auf den Predigttext ein. Schnell kommt er auf die immer wieder zentrale Frage für die Jünger damals und für viele Christen und Zeitgenossen heute: Warum lässt Gott Jesus so leiden ? Sehr stimmig verbindet der Prediger die Heilung des blinden Bettlers mit dem Leiden Jesu. Jesus hat sich in Liebe dem Armen zugewendet. Er konnte sich hineinversetzen in sein Leiden. Gott öffnet uns die Augen dafür, dass nur ein mitleidender Jesus uns helfen kann. Nur Blindheit im Geist will das Kreuz abschaffen. Sie sieht nicht, dass ein Liebender es einfach nicht besser haben will als der geliebte Mensch, wenn es dem schlecht geht. “Der Gekreuzigte umfasst auch Dich mit seiner unendlich großen und tiefen Liebe.” – Jesus hat aber auch die Macht, unser Geschick zu wenden und zum Beispiel den Blinden zu heilen. Jesus spricht über das “Muss” seines Leidens, aber der Pastor lenkt zum Schluss den Blick auch auf Jesu ewige Hoffnung. Die Predigt schließt mit wunderbar poetischen Worten von Deutero-Jesaja und vom Prediger. Überhaupt ist die ganze Predigt bemerkenswert gut in Worte gefasst: Sie ist spannend und fortschreitend aufgebaut. Es gibt deswegen wohl keine Schlenker in aktuelle Ereignisse. Die Sätze sind recht kurz und prägnant. Die Formulierungen sind aber dabei oft auch poetisch, tiefsinnig und emotional anrührend. Dadurch strahlt die Predigt etwas aus von Jesu Geist.

  2. Pfr.i.R. Manfred Günther

    Die Predigt von Pastor Krüger hat mich nicht nur als Mensch und Christ getröstet, sondern auch als Theologe. Wir leben in einer Zeit manigfaltiger Angriffe von Theologen auf die Kreuzestheologie. Aber Pastor Krüger stellt mit Recht fest: “Das Kreuz, an dem Jesus starb, ist unverzichtbar für die Deutung unseres Lebens.” Er bleibt bei dieser Deutung aber nicht dabei stehen, dass uns das Kreuz Jesu sagt: “Du bist nicht allein. Du bist nicht verloren, Du bist nicht verlassen und Du bist nicht vergessen.” Er spricht auch vom “Erlösungswerk”, in das uns der Mann am Kreuz mit hineinnimmt. Und in der Tat, es ist “geistliche Blindheit” , die “das Kreuz am liebsten abschaffen” und den Gedanken der Erlösung durch Jesu Opfer am Kreuz nicht wahrhaben will.
    Ich bin froh und dankbar, dass es noch Theologen gibt, die es aussprechen, was ich schon im Konfirmandenunterricht gelernt habe: “Jesus (hat) am Kreuz Großes vollbracht: Heil und Erlösung für die Menschheit, die Natur, die Schöpfung, den ganzen Kosmos.” Danke Pastor Krüger für diese Predigt!

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