Angst vor dem Glauben?
Christen haben der Vergötzung der Staatsmacht ihren Glauben entgegengesetzt, unter Einsatz ihres Lebens jede fremde Herrschaft über ihre Herzen abgewehrt
Predigttext: Johannes 11,47-53 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
47 Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen.
48 Lassen wir ihn so, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute.
49 Einer aber von ihnen, Kaiphas, der in dem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts;
50 ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.
51 Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk
52 und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.
53 Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Hatte Johannes in 11,1-45 eine „Ostergeschichte“ vor der Ostergeschichte erzählt – die Auferweckung des Lazarus -, stellt er, resümierend, gleichzeitig aber auch weiterführend, in den VV 46-53 dar, wie Angst vor dem Glauben in den Tod führt. „Glauben“ verbindet die beiden Teile: V. 48 korrespondiert V. 45. „Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“ Die Befürchtung des Sanhedrin ist, dass jetzt „alle“ an ihn glauben werden (V. 48). Doch neben der Steigerung „viele“ – „alle“ steht der Abstieg „alle“ – „einer“. Denn es sei besser, „ein“ Mensch sterbe für das Volk, als dass das „ganze“ Volk verderbe. Was Kaiphas allerdings weissagt, ohne es zu wissen, ist, dass der „eine“ nicht nur für das Volk stirbt, sondern alle verstreuten Kinder Gottes zusammenbringt. Joh. 11,46-53 ist die in „johanneischer Sehweise“ (Mussner) erzählte Verhandlung vor dem Hohen Rat, abweichend von der synoptischen Tradition. Jesus selbst ist nicht zugegen. In Joh. 18,14 wird Kaiphas’ Votum nur noch zitiert. Gliederung:
VV 46-48 Einberufung und Sitzung des Hohen Rates
VV 49-50 Plädoyer des amtierenden Hohen Priesters
VV 51-52 Deutung des Evangelisten
V 53 Tötungsabsicht im Hintergrund
Der Evangelist zieht zwei Vorhänge weg: Einmal hört er in die entscheidende Ratssitzung hinein, zum anderen jedoch öffnet er das Gesagte als „Weissagung“. Jesus soll nicht nur für das Volk sterben, sondern die verstreuten Kinder Gottes zusammenbringen. Im Hintergrund werden Jes. 49, 6 und Jer. 31,10 sichtbar, aber auch zugespitzt. „Sterben für das Volk“ und „die verstreuten Kinder Gottes zusammenführen“, umschreiben und verdeutlichen das stellvertretende Leiden Jesu als heilvolles Erfüllen der göttlichen Verheißungen. Der Hohe Rat ist von Angst besetzt (Gegenbegriff zu „glauben“), kann aber gerade so das Volk nicht zusammenhalten. Was verhindert werden sollte, geschah: die an Jesus Glaubenden sammeln sich, werden Kirche und überschreiten nationale, ethnische und religiöse Grenzen. Nach Ch. K. Barrett schreibt Johannes „voll tiefster Ironie“ (S. 400), weil die verhängnisvollen Folgen, die an die Wand gemalt werden, dann doch eintreten. Nur anders als vorhergesehen, dramatisiert und instrumentalisiert. Die Römer nehmen Jerusalem ein und Israel wird zerstreut. „Joh lässt Kaiphas gegen sich selbst und gegen sein eigenes Volk weissagen, so wie er an anderer Stelle ihr eigenes Gesetz gegen sie Zeugnis ablegen lässt (z.B. 5,45)“ (S. 401). Die VV 54-57gehören nicht mehr zum Predigttext, variieren jedoch die Tötungsabsicht. Zumindest in der Vorbereitung sollte – neben der Lazarus-Geschichte – auch dieser Kapitelschluss wahrgenommen werden. Der Blick fällt auf Jesus, der weggeht - die Leute, die darüber reden, ob Jesus wohl zum Fest kommen würde - sowie die Hohenpriester und Pharisäer (seltene Wendung!), die Jesus zur Fahndung ausgeschrieben haben. Bevor Jesus „verherrlicht“ wird, wird er zu einem „Fall“, über den die Leute reden.
Die Predigt hat eine große Aufgabe: zum Glauben einzuladen, den Verstrickungen der Angst nachzugehen und die göttliche Verheißungsgeschichte zu erzählen – als Zuschauer im Hohen Rat, im verantworteten Leben und bei den vielen Opferritualen, in denen Menschen höherem Kalkül preisgegeben werden. Die alttestamentliche Lesung erzählt von Abrahams Gehorsam und dem Einspruch Gottes: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts …“ Die Epistel kennzeichnet den Weg Jesu: Flehen zu Gott – Errettung vom Tode, „weil er Gott in Ehren hielt“ – Gehorsam, durch Leiden erlernt – für alle, die ihm gehorsam sind, „Urheber ewigen Heils“. Das Evangelium erzählt von den Jüngern, die rechts und links neben Christus im Reiche Gottes sitzen wollen. Der Menschensohn aber ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen. Der Sonntag Judika hat seinen Namen von dem Psalmwort: Gott, schaffe mir Recht … (Ps. 43). Karl-Heinrich Bieritz erinnert daran, dass nach der alten Ordnung mit „Judika“ die eigentliche Passionszeit begann. „Die Lutherische Agende von 1955 macht hier noch einen deutlichen Einschnitt: Nicht nur das Halleluja und Ehre sei Gott in der Höhe verstummen, auch das Ehre sei dem Vater (Gloria patri) zum Introitus wird nicht gesungen. Gebete und Lesungen – dazu eine eigene Präfation – weisen deutlich auf das Opfer Jesu am Kreuz hin“ (S. 99). Die katholische Tradition kennt den seit dem 11. Jahrhundert geübten Brauch, Altarkreuz und Bilder mit Tüchern zu verhüllen (bis zum Gloria in der Osternacht) – ein Brauch, der an Judika auch im Evangelischen Gottesdienst übernommen werden könnte. In vielen Gemeinden wird das „Hungertuch“ gezeigt.
Literatur: Charles Kingsley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Berlin 1990; Ernst Koch, in: Evangelische Predigtmeditationen 1988/89 Bd. I, Berlin 1988, 101-104; Eduard Berger, in: GPM 96 (2007), 158-163; Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, BsR 447, München 1991
Ich habe alles versucht! Das Protokoll habe ich nicht gefunden. Das Protokoll jener Sitzung, in der beschlossen wurde, Jesus hinzurichten. Ich wusste keinen Tag, kein Jahr, keinen Ort. Die Archivare schüttelten nur den Kopf. Ich müsste sie schon mit mehr Informationen versorgen, wenn sie mir helfen sollten. Sagten sie. Das war’s dann … bis zu dem Tag, an dem mir ein Text in die Hände fiel – viel später verfasst und auch nur von dritter Hand – der genau die Ratssitzung beschreibt. Die Ratssitzung, hinter der ich her bin.
(Lesung des Predigttextes)
Ein richtiges Protokoll, das auch formal allen Ansprüchen gerecht würde, ist das hier nicht. Dafür lässt der Text sehr viel von dem sichtbar werden, was sozusagen hinter seinen Worten liegt. Bei Lichte besehen: das gefällt mir dann doch noch besser als ein Protokoll. Ich habe es geahnt! Jesus – ein Bauernopfer! Im Schachspiel ist der Bauer eine Schachfigur unter anderen, eher unbedeutend, aber seit alters her Manövriermasse. Diese Figur muss sich nichts vormachen. Sie muss als erstes daran glauben, wenn eine wertvollere Figur bewahrt werden soll – oder dem Spiel Luft zu verschaffen ist. Ein Bauer wird dann einfach geopfert. Dabei ist das Wort „Bauernopfer“ schon sehr verräterisch! Nicht nur, dass Bauern tatsächlich in Kriegen massenweise geopfert wurden, nein, dass überhaupt ein Opfer gebracht wird – oder gebracht werden muss, um zu gewinnen oder oben zu bleiben. Ein altes Spiel bringt es an den Tag. Menschen werden auch heute noch geopfert. Wenn der Vorgesetzte geschützt werden muss, die hungrige Meute einen fetten Happen braucht oder dunkle Kanäle dunkel bleiben sollen. In vielen Situationen werden Opfer gebraucht, zu vielen Gelegenheiten werden Opfer gebracht. Opfer lassen sich immer auch rechtfertigen. Sie dienen höheren Zwecken, sie begrenzen den Schaden. Fragt sich nur, für wen. Wir haben uns längst daran gewöhnt. Nichts Neues unter der Sonne! Im Evangelium begegnen wir dem Herrn Kaiphas, Hoher Priester und Sprecher eines illustren Gremiums. Gewandt, weltmännisch, diplomatisch tritt er auf: „Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ So schnell geht das. Und auch fast schon protokollarisch knapp. Leider weiß ich nicht, welche Gefährdungen Herr Kaiphas sieht. Dass Menschen an Jesus glauben – bringt das die Welt durcheinander? Ruft das die römische Besatzungsmacht auf den Plan? Ist das – ein Umsturz, eine Revolte, eine Revolution? In späterer Perspektive erweist sich Herr Kaiphas jedoch als Prophet: Christen haben tatsächlich der Vergötzung der Staatsmacht ihren Glauben entgegengesetzt, sie haben unter Einsatz ihres Lebens jede fremde Herrschaft über ihre Herzen abgewehrt. Sie waren nicht einmal bereit, sich auf faule Kompromisse einzulassen. Herr ist Jesus. Das ist das kleinste, größte, gewichtigste und schönste Bekenntnis von Anfang an. Wir brauchen nicht einmal die fünf Finger an der Hand. Hier blinkt
zum ersten Mal
in dieser Ratsversammlung durch, dass alles, was hier gesagt wird, von Anfang an eine neue Bedeutung bekommt. Dabei spielt Herr Kaiphas die Rolle des Wissenden nahezu perfekt und professionell. Haben Sie seine Weisheit noch im Ohr? Blättern wir noch einmal im Protokoll, das dann am Ende doch keins ist: „Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ Es ist besser für euch! Hier weiß einer, was gut ist. Hier weiß auch einer, was zu machen ist. Die Herren dieser Welt bleiben mit diesem Wissen immer unter sich. Einen Widerspruch höre ich nicht. Ich muss annehmen, dass alle einverstanden sind. Einverstanden mit dem – Bauernopfer. Ich schäme mich, ich möchte Einwände geltend machen, treffe aber auf Kalkül und Geheimwissen. Um größeres Unheil zu vermeiden, müsse das kleinere Übel in Kauf genommen werden. Um Frieden zu finden, müsse man auch Krieg führen. Um Demokratie zu schaffen, seien auch Menschenrechte auszusetzen. Schulterzucken. Vielsagender Blick … Herr Kaiphas ist ein aalglatter Machtpolitiker. Das auf der Visitenkarte steht: „Hoher Priester“ – macht das was? Aus ihm? Ja, ich rege mich über diesen flapsigen Satz des Herrn Kaiphas auf – und doch: dieses eine Mal hat er Recht bekommen: Jesus wurde geopfert – jetzt können wir alle leben. Im Evangelium heißt es denn auch: „Jesus sollte sterben für das Volk und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.“ Hier blinkt
zum zweiten Mal
in dieser Ratsversammlung durch, dass alles, was hier gesagt wird – und unwidersprochen bleibt – , von Anfang an eine neue Bedeutung bekommt. Dabei gerät Herr Kaiphas in die Rolle eines – Lumpen. Ich rege mich immer noch über ihn auf. Sie möchten die Vorgeschichte kennen? Die Hintergründe für die Sonder-Sitzung? Ich traue mich kaum, den Anlass zu nennen: Viele Menschen glauben – glauben an Jesus. Das ist wohl auch der einzige Tagesordnungspunkt an diesem Tag, der die Honoratioren verschreckt und herausfordert. Nicht, dass Jesus zum ersten Mal auffällig geworden wäre, aber diesmal hat er alle Grenzen gesprengt. Die Geschichte ist auch schnell erzählt, sofern sie nicht ohnehin wie ein Lauffeuer die Dörfer in der Umgebung und dann auch ganz Jerusalem in Atem gehalten hat. In Bethanien, einem Nest in der Nähe von Jerusalem, lebte Lazarus. Nach kurzer Krankheit ist er verstorben. In tiefer Trauer, so steht es in der Anzeige: die beiden Schwestern, Maria und Martha. Wäre doch Jesus da gewesen! Die Schwestern sagen das immer wieder. Als er dann kommt, ist es zu spät. Die Beerdigung war vor vier Tagen. Alles ist noch so frisch: die Erinnerung, die Trauer, die Einsamkeit. Aber Jesus ruft seinen Freund aus dem Grab, gebietet dem Tod, ihn freizugeben. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt“, sagt Jesus. Wie viel Hoffnung, wie viel Kraft in diesem Wort liegt! Hier nimmt es einer mit dem Tod auf und gewinnt das Leben. Für einen anderen Menschen. Jesus nennt es – ein Zeichen. Ein Zeichen für den Machtwechsel. Ein Zeichen für die Liebe. Die zwar verwundet werden kann, aber nicht verloren geht. Die Menschen aufrichtet, aber nicht an Menschen zerbricht. Johannes, der die Geschichte erzählt, beschließt sie dann auch mit dem Lebenszeichen schlechthin: viele Menschen glauben an Jesus. Zu späterer Zeit wurde er dann auch so genannt: „Anführer ins Leben“. Es ist eine Ostergeschichte geworden – ein Vorgeschmack auf den Weg, den Jesus geht. Den Anspruch, das Leben zu sein, trotzt er dann selbst dem Tode ab.
Aber anstatt einfach nur Freude, Gelassenheit, Vertrauen – nein, im Hohen Rat geht die Angst um. Es ist der Glaube, der Angst macht. Weil der Glaube die Angst nicht mehr fürchtet, ihr keinen Respekt mehr zollt, ihr das letzte Wort nimmt. Es ist, als ob im Hohen Rat eine Götterdämmerung aufzieht. Denn wer Angst braucht, um Menschen klein und gefügig zu halten, muss sie bewahren, um sie kämpfen, sich ihr verschreiben – und mit ihr untergehen. Was alles in dieser Stunde geschieht, ist mit Worten nicht mehr einzufangen. Wenn der Glaube Angst macht, stirbt die Hoffnung. Trotz der markigen Worte Herrn Kaiphas fällt auf, wie in diesem Hohen Rat die Angst regiert. Ist Ihnen das auch aufgefallen? Man kann richtig daran fühlen! Angst vor Jesus, Angst von den Menschen, die sich auf Jesus einlassen, Angst vor der Botschaft, die mit seinem Namen verbunden ist – und dann Angst vor der Besatzungsmacht Rom, Angst vor den eigenen Lands-Leuten, Angst vor der Wahrheit, gar Angst vor sich selbst. In dieser Sitzung ist fast alles – angstbesetzt. Wir könnten die Probe aufs Exempel machen: Was entzieht sich hier der Angst, wenigstens einer Angst? Ich finde keine Spur. Wird denn die kleine Welt, für die der Hohe Rat steht, wieder heil, wenn Jesus umgebracht wird? Wenn ein Bauernopfer gebracht wird? O Gott, so ein einfaches Strickmuster! Das ist doch noch nie gut gegangen!
Herr Kaiphas, ein kluger Kopf, weiß noch nicht, was an ihm hängenbleiben wird, mit seinem Namen verbunden bleibt, von Generation zu Generation erzählt wird. Während Herr Kaiphas – recht gekonnt – seine Angst verbergen kann, redet er über Jesus, der tatsächlich für das Volk, für die Menschen, für alle sterben wird. Er redet über den, der aus Liebe stirbt. Der in seiner Liebe sogar den Tod überwinden wird. Herr Kaiphas, der doch weiß, was gut ist – er weiß davon nichts. Und sagt es doch. Alles, was hinter dem Tod Jesu versteckt wird oder sich mit ihm schmückt, wird ans Licht gebracht. Jetzt kommen die vielen Ängste, die Hoffnungslosigkeit, die Rachestrategien, aber auch die Überlebensstrategien und das Kalkül der Menschen an den Tag. Der Hohe Rat verliert seine Aura – und seine Autorität. So überzeugt Herr Kaiphas jetzt redet – er ist nicht Herr des Geschehens. Es ist darum tatsächlich so: von dieser Sitzung kann es kein Protokoll geben. Vielleicht wird im Himmel eins aufbewahrt. Vielleicht. Einer ist nicht dabei, hat weder Sitz noch Stimme. Jesus. Über ihn wird geredet, man fürchtet sich vor ihm, glaubt, sich seiner entledigen zu können. Aber im Gerede geht unter, was in Bethanien geschehen ist. Dass der eine, den man zu opfern bereit ist, dem Tod Zug um Zug die Macht nimmt. Wenn doch Herr Kaiphas nur wörtlich genommen hätte, was er großspurig von sich gab: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.
Auch die Weisheit, die aus der Angst geboren wird, ihr aber nicht zu entkommen vermag, spricht die Verheißungen Gottes aus: die Verheißung, dass alle Angst überwunden wird. Dass alle Tränen abgewischt werden. Dass der Tod nicht mehr ist. Es gehört zu den überraschenden Zügen dieser Ratssitzung, dass der Hohe Priester Kaiphas, ohne es zu wollen, zu ahnen oder auch verdient zu haben, zum Propheten einer neuen Zeit wird. Mit verschlossenen Augen sieht er die Zukunft. Der Hohe Rat tagt. Es tagt. Die Sonne geht auf! In menschlicher Perspektive geht die Sonne jedoch unter. Im Hohen Rat wird Jesus fallengelassen, aber … alles, was Angst macht, geschieht dann auch oder trotzdem: Die Römer erobern Jerusalem, zerstören den Tempel und zerstreuen ein ganzes Volk. Die Wunde schmerzt bis heute. An der Klagemauer in Jerusalem legen Juden ihren Schmerz ab. Ein Sitz bleibt leer. Genauer: für ihn war kein Sitz vorgesehen. Jesus hatte draußen zu bleiben. Aber wenn er hätte reden dürfen, hätte er, an diesem Ort, die Geschichte Gottes mit seinem Volk erzählt. Die Geschichte einer großen Liebe. Die Geschichte mit Lazarus hätte dazu gepasst. Gut gepasst. Als Zeichen, wie Liebe den Tod überwindet – und einen großen Glauben schafft. Am Ende brauche ich dafür kein Protokoll: Opfer sind ab jetzt nicht mehr zu rechtfertigen, zu veredeln oder auch nur in Kauf zu nehmen. Kaiphas hat – ihr werdet es kaum glauben – tatsächlich das letzte Wort gefunden: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. Die Geschichte Jesu – reicht. In den nächsten Wochen werden wir ihr immer näher kommen …
Wie das Protokoll der Ratsversammlung beim Todesurteil Jesu erscheint der Predigttext. Darauf macht Pfarrer Wussow am Beginn seiner Predigt aufmerksam. Im Mittelpunkt steht das Wort des Hohenpriesters Kaiphas: “Es ist besser , dass einer sterbe, als dass das ganze Volk verderbe”. Ungewollt wird Kaiphas zum Propheten einer neuen Zeit: Durch Jesu Kreuz und Auferstehung rettet Jesus die Zukunft der Menschheit und befreit schon jetzt von übergroßer Angst. Eingewoben ist in die Predigt der Auslöser der Versammlung des Rates: die Auferweckung des Lazarus durch Jesus und seine Vrheißung: “wer an mich glaubt, wird leben, wenn er auch stirbt”. Auf diese hoffnungsfrohen Gedanken kommt diese farbige und interessante Predigt mit prägnanten Formulierungen und großer Nähe zum Predigttext zurück.