Schuld annuliert?

Vergebung - radikale christliche Botschaft

Predigttext: Matthäus 27,33-54
Kirche / Ort: Melanchthonkirche / Mannheim-Neckarstadt / Ev. Landeskirche in Baden
Datum: 29.03.2013
Kirchenjahr: Karfreitag
Autor/in: Pfarrer Dr. Vincenzo Petracca

Predigttext: Matthäus 27,33-54 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 

33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,  34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken.  35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.  36 Und sie saßen da und bewachten ihn.  37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.  38 Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.  39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe  40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!  41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:  42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.  43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.  44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.  45 Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.  46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?  47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.  48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.  49 Die andern aber sprachen: Halt, laß sehen, ob Elia komme und ihm helfe!  50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.  51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von oben an bis unten aus.  52 Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf  53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.  54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Exegetische Vorüberlegungen

Der Predigttext ist folgendermaßen zu gliedern: VV 33-38 (Kreuzigung); VV 39-44 (Verspottung); VV 45-50 (Tod Jesu); VV 51-54 (Gottes Reaktion auf Jesu Tod). Mt folgt im wesentlich dem mk Passionsbericht. Die wichtigste Veränderung ist die Erweiterungen in VV 51-53 (mt Sondergut). Die Kreuzigung wird sehr knapp beschrieben, die Schmerzen Jesu werden nicht erwähnt. Wichtiger als Details sind Anspielungen auf das Alte Testament, die das Geschehen in den heilsgeschichtlichen Plan Gottes stellen sollen: Mt 27,34 spielt mit dem Gallentrank auf Ps 68,22 LXX an (bei Mk lehnt Jesus den Trank ab), Mt 27,35 spielt mit dem Kleiderlos auf Ps 21,19 LXX (= Ps 22 in unserer Zählung) an; ebenso: Mt 27,39 auf Ps 21,8 LXX (Kopfschütteln); Mt 27,43 auf Ps 21,9 LXX (Worte der Gottlosen) und Mt 27,46 auf Ps 22,2 (aramäisch und griechisch: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“).

Jesu Sterben geht eine dreistündige Finsternis voraus, bei der der Kosmos sozusagen den Atem anhält, bevor Jesus mit dem Verlassenheitsruf aus Ps 22,2, der herausgehoben wird, in dem er sowohl auf Aramäisch als auch auf Griechisch zitiert wird (Mt 27,46), und einem weiteren unartikulierten Gottesruf stirbt (Mt 27,50). Auf den Tod Jesu antwortet der bisher abwesend scheinende Gott (Deus absconditus), indem er in Mt 27,51-53 plötzlich handelt (Deus revelatus): Gott (im Text steht das Passivum Divinum) zerreißt den Vorhang des Allerheiligsten, sendet ein Erdbeben, öffnet die Gräber vieler Gerechten („Heiligen“), lässt sie auferstehen und in Jerusalem erscheinen. Diese Zeichen sind als Vorboten der Auferstehung Jesu (expliziter Verweis in V 53) und der allgemeinen Totenauferstehung zu verstehen, es klingt aber wohl als Konnotation auch die Ankündigung des Unterganges Jerusalems an. Mit dem Sohn-Gottes-Bekenntnis der römischen Soldaten (V 54) wird auf den Missionsbefehl des Auferstandenen vorgeblickt (Mt 28,19f.).

Das Besondere am mt Kreuzigungsbericht im Vergleich zu den anderen Evangelien ist: Die Kreuzigung ist nicht ein verhüllter Lichtglanz, sondern tiefste Finsternis. Das göttliche Licht scheint erst nach Jesu Tod, in der Retrospektive von Ostern her auf das Kreuz. „Jesus stirbt ganz allein, verlassen von allen, sogar von Gott. Erst dann, nach seinem Tod, geschieht die große Wende: Gott greift machtvoll in das Geschehen ein. Matthäus unterscheidet also deutlich zwischen dem ohnmächtigen Sterben des Menschen Jesus und dem machtvollen Eingreifen Gottes“ (Luz, S. 370).

Ich lese die Einheitsübersetzung.

Literatur: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), EKK I/4, Neukirchen 2002,  S. 308-371.

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Meine Stimme kam ins Stocken. Dieses Zögern brannte sich in meine Erinnerung ein, als sei es gestern gewesen. Es war mein erster Gottesdienst in der Neckarstadt. Es sollte noch Jahre dauern, bis ich Pfarrer in der Neckarstadt wurde. Ich war noch ein junger Vikar. Bereitwillig hielt ich einen Vertretungsgottesdienst an Karfreitag. Ich hatte gemäß der Karfreitagsliturgie die Beichtfrage gestellt: „Begehrst du die Vergebung all deiner Sünden um Jesu Christi willen? So antworte: Ja“.  Die eigenartige Gemeinde, die nur aus Männern bestand, hatte mit „Ja“ geantwortet. Die Liturgie sah nun die Absolution vor: „Auf Befehl unseres Erlösers Jesus Christus verkündige ich dir die Vergebung aller deiner Sünden“.  Doch ich kam vorher ins Stocken. Mein Blick wanderte nochmals über die Gemeinde. Sollte das wahr sein? Jedem dieser Männer, die aufrichtig bereuten, sollte die Schuld vergeben werden? Vor Gott annulliert? Unwiederbringlich ausradiert? Mit einem Schlag wurde mir klar, wie radikal die christliche Botschaft von der Vergebung war. Und wie wenig ich sie bisher begriffen hatte… Der Gottesdienst, von dem ich erzähle, fand in der Justizvollzugsanstalt hier in der Neckarstadt statt. Und ich wusste von den Männern, die vor mir standen: Dieser da ist ein verurteilter Mörder. Dieser dort ein Vergewaltiger. Jener dort ein Kinderschänder. Und ihnen allen galt das Versöhnungsangebot Gottes!

Das Geheimnis von Karfreitag

Meine Stimme kam ins Stocken. Vielleicht ist uns dies an Karfreitag etwas verloren gegangen. Auf die Frage, was wir an Karfreitag feiern, kommt manchmal zu schnell über die Lippen, was man uns seit Kindesbeinen an beigebracht hat: Wir feiern die Vergebung der Sünden durch den Kreuzestod Jesu. So dogmatisch richtig dieser Satz auch sein mag, manche sagen ihn so schnell herunter, dass man den Eindruck gewinnt, er sei so klar, wie dass 1+1=2 ist. Aber ist dieser Satz tatsächlich so einsichtig? Kann man ihn so erklären wie eine mathematische Formel? Der größte Theologe, den die Christenheit je hervorgebracht hat, meint „Nein“. Paulus hat sich in seinen Briefen immer wieder mit dem Kreuz Jesu auseinandergesetzt. Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit für die intelligenten Köpfe, meint er. Ganz in seinem Sinne heißt es nachher in der Abendmahlsliturgie über den Tod Jesu: „Geheimnis des Glaubens.“ Der Tod Jesu ist nicht mit dem Verstand zu begreifen. Er ist ein Geheimnis. Die ersten Christinnen und Christen verstanden den schmachvollen Tod Jesu am Kreuz nicht. Unverständnis begegnet uns auch an vielen Stellen in unserem Predigttext: Die führenden Männer des Volkes verlachen Jesus. Er solle sich doch selbst vom Kreuz befreien! Nur so könne er beweisen, dass er der von Gott gesandte Retter sei. Sie fordern einen Beweis seiner göttlichen Kraft. Auch die Leute, die vorbei kommen, schütteln den Kopf, fordern Jesus auf, vom Kreuz herabzusteigen, und verhöhnen ihn. Die, die unter dem Kreuz stehen, warten darauf, ob der Nothelfer Elia kommt und ihn rettet, nachdem er sich nicht selbst retten könne. Selbst die Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt werden, beschimpfen ihn. Ja, Jesus selbst scheint nicht richtig zu verstehen. Er wendet sich betend an seinen Gott und ruft: Warum hast du mich verlassen? Karfreitag ist ein finsteres Geheimnis. Ein Tag voller dunkler Rätsel und bitterer Fragen.

Der Blick von Ostern zurück auf das Kreuz

Die Urchristenheit suchte im Geheimnis von Karfreitag den rätselhaften Plan Gottes. Sie tat es nicht, weil alles im Leben einen Sinn haben muss. Auch das finsterste Geheimnis. Vielmehr tat sie es aus einer Erfahrung heraus, die unser Predigttext andeutet. Er erzählt, dass beim Tod Jesu die Erde bebte, die Felsen sich spalteten und die Gräber ihre Toten frei gaben. Dies alles sind Zeichen der Auferstehung. Sie sollen darauf hinweisen, dass mit dem Tod und der Auferstehung Jesu die Macht des Todes gebrochen ist. Der Schluss des Predigttextes blickt auf die Zeit „nach der Auferstehung Jesu“ (V 53). Und so muss man den ganzen Predigttext begreifen: Es ist der Blick von der Auferstehung zurück auf das Kreuz. Mit anderen Worten: Der Tod des unschuldigen Jesus für sich allein genommen, macht keinen Sinn. An einen Sinn glaubten die ersten Christinnen und Christen erst von der Erfahrung her, dass Jesus auferstanden ist und manchen von ihnen erschienen war. Erst nach der Auferstehung konnten die Jünger auf ihr eigenes Versagen am Kreuz blicken. Keiner von ihnen stand unter dem Kreuz, nur die Frauen in der Ferne. Sie konnten beschämt auf ihre Feigheit blicken und stellten fest: Der Auferstandene hat sich dennoch nicht von ihnen abgewandt, sondern vergibt. Erst nach der Auferstehung waren sie fähig mit dem Hauptmann und den Soldaten unterm Kreuz zu bekennen: „Jesus war Gottes Sohn!“ Zum Kopfschütteln ihrer Umwelt. Wir wissen von Paulus: Die Philosophen lachten die Christinnen und Christen aus. Sie sagten: Ein Gott, der am Kreuz stirbt, das ist Narrheit. Die Rechtschaffenden und Frommen dagegen ärgerten sich. Sie sprachen: Wer wie ein Verbrecher am Kreuz stirbt, kann nur ein Verbrecher sein, kein Unschuldiger. Das Kreuz ist in den Augen der Welt ein Irrsinn, stellt Paulus zusammenfassend fest (1 Kor 1,23f.).

Wenn die ersten christlichen Gemeinden von der Vergebung des Auferstandenen sprachen, ist dies nicht als dogmatische Verklärung zu verstehen. Der Kreuzestod Jesu war und blieb ihnen  eine harte Anfechtung. Es ist auch nicht etwa so, wie man es im Mittelalter verstand: Der Vater bräuchte das Blutopfer des Sohnes, um Satisfaktion zu erlangen. Sollte dies ein gütiger Vater im Himmel sein? Niemals! Nein, bei der Aussage der Vergebung des Auferstandenen handelt es sich um das Suchen und Fragen der Jünger vor dem Geheimnis des Kreuzes. Angesichts von Karfreitag stockten ihre Stimmen. Sie versuchten von Ostern her wieder sprechen zu lernen. Sie redeten von einem Unrechtsurteil am Kreuz und von Feigheit und Spott unterm Kreuz. Sie sprachen von Schuld und Vergebung. Von der Freundschaft Jesu, die sich für sie in den Tod gibt. Ja, für alle! Von der Liebe des Vaters, der nicht zulässt, dass die böse Tat der Kreuzigung der Schlusspunkt ist, sondern der neues Leben schafft. Aber, das ist entscheidend, sie redeten immer von der Erfahrung der Auferstehung her. Vom Licht her.

Verklären wir das Kreuz?

Kreuze. Kritiker werfen uns heute vor: Wir Christen würden in unseren Wohnungen Kreuze aufhängen und verdrängen, dass wir einen Gehenkten aufhängen. Verniedlichen wir die Kreuzigung? Oder verklären wir die Kreuze dieser Welt? Das Kreuz der Alleinerziehenden, die gegen Ende des Monats vor dem leeren Kühlschrank steht, weil der Hartz IV-Satz nicht reicht? Das Kreuz der ermatteten Frau, die den Kampf gegen den Krebs schließlich doch verliert? Das Kreuz des einsam Sterbenden, dessen Leiche man im Hochhaus in der Neckarstadt erst Wochen später finden wird? Das Kreuz des bulgarischen Mädchens, das die Armut auf den Straßenstrich in der Neckarstadt zwingt? Das Kreuz des ausgewiesenen Asylbewerbers, der sich im Abschiebegefängnis in der Neckarstadt erhängt? Nein, liebe Gemeinde, wir verklären die Kreuze nicht. Jesus, der ungerecht  Leidende, ist da, wo Menschen leiden. Er wird dort von neuem gekreuzigt! Jeden Tag. Die Leidensgeschichte der Menschen ist im Kreuz Jesu präsent. In einem Brief aus dem Gefängnis schrieb der Theologe Dietrich Bonhoeffer an einen Freund: „Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ Im Gefängnis machte Bonhoeffer selbst die Erfahrung, dass Gott ihm nahe ist. Gott ist den Opfern nahe. Den Ohnmächtigen. Den an den Rand Gedrängten. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Dafür steht das Kreuz.

Aber das Kreuz ist noch mehr! Das Kreuz ist für uns Christinnen und Christen das Symbol, dass die Kreuze überwunden werden. Wir tragen ein Kreuz als Kette um den Hals als Zeichen der Hoffnung. Wir haben Hoffnung selbst angesichts von Unrecht und Zerstörung. Denn es gibt Auferstehung. Wir stellen Kreuze auf den Friedhöfen auf als Zeichen des Glaubens. Wir glauben, dass der Tod das Nadelöhr ins Licht ist. Denn es gibt Auferstehung. Wir hängen Kreuze in unseren Wohnungen auf als Zeichen der Wandlung. Wir erinnern uns, dass die Liebe Gottes den Fluch der Kreuzigung in Segen gewandelt hat. Denn es gibt Auferstehung. Und wir vertrauen darauf: Gott kann alle Kreuze in unserem Leben und in dieser Welt verwandeln. In Auferstehung…

Das Wort der Vergebung

Meine Stimme kam ins Stocken. Aber ich sprach damals das Wort der Sündenvergebung in der Justizvollzugsanstalt. Ich sprach es, weil durch die Auferstehung Versöhnung und neues Leben ermöglicht wurde. Liebe Gemeinde, Gott will neues Leben in der Neckarstadt schenken: Heute am Karfreitagmorgen, hier in der Melanchthonkirche – genauso wie wenige Meter entfernt im Gefängnis!

 

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Ein Kommentar zu “Schuld annuliert?

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Im Gefängnis bekommt die Sündenvergebung besonderes Gewicht. Pfarrer Dr. Petracca zeigt schon zu Beginn, wie radikal die christliche Botschaft für Strafgefangene und für uns alle ist und wie geheimnisvoll das Kreuz Christi. Nur von der Auferstehung Christi her ist Jesu Kreuz zu verstehen. Sehr schön sagt der Prediger: “Gott kann alle Kreuze in unserem Leben und in dieser Welt verwandeln in Auferstehung”. Zusammenfassend am Schluss: Durch Kreuz und Auferstehung wird Versöhnung und neues Leben möglich – im Gottesdienst und im nächsten Gefängnis!

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