Erwartungsvoll in den neuen Morgen
Mein Ostern - sich von der Vergangenheit lösen und sich der Zukunft zuwenden
Predigttext: Johannes 20,11-18 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab 12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. 13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. 14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, daß es Jesus ist. 15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen. 16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! 17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. 18 Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.
Zu Gemeindesituation und Predigttext
Ganz intim werden wir am Ostermorgen um 10 Uhr zusammensitzen. Vielleicht 30 Personen in einem ehemaligen Schulraum, der zu einer Kapelle umgebaut ist. Der Posaunenchor wird sich mühen, die Osterlieder nicht zu laut zu schmettern in dem kleinen Raum. Aber fröhlich wird es klingen: „Er ist erstanden, Halleluja“ (EG 116), „Wir wollen alle fröhlich sein“ (EG 100) und „Auf, auf mein Herz mit Freunden“ (EG 116).
Im Predigttext finde ich nichts von dem Jubel und der Freude der Osterlieder. Stattdessen: Tränen und nochmals Tränen. Maria Magdalena sieht nichts vor lauter Tränen. Aber Hilfe erwartet sie. Wen sie auch durch den Tränenschleier sieht, sie fragt nach ihrem Herrn, nach ihrem Lehrer oder nach ihrem Geliebten. (Luise Rinser, Mirjam) Maria bekommt keine Antwort auf ihre Frage nach dem Toten. Aber sie wird angesprochen. Zärtlich, so scheint es mir, aus ihren trüben Gedanken geweckt: „Maria!“ Was geht in Maria vor, als Jesus sie anspricht? Der Text schweigt sich aus. Doch so wie Maria muss wohl jeder Mensch angesprochen werden, um dem Auferstanden zu begegnen. Ganz persönlich mit Namen. Glaube entsteht, wenn ein Mensch erkennt: Ich bin gemeint. Christus ist für mich gekommen, will mich lehren, meine Fehler und Schwierigkeiten ans Kreuz tragen (hier vermeide ich ganz bewusst den Begriff Sünde, der heute so missverständlich geworden ist), und er ist für mich auferstanden. Wird es gelingen, den Hörern die Botschaft der Auferstehung persönlich und zärtlich ins Ohr zu flüstern? Ich will es versuchen.
Maria Magdalena wird meine „Identifikationsfigur“. Natürlich nicht ohne die Mitte des Predigttextes zu treffen. „Halte mich nicht fest“. „Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zum Vater zurückgekehrt.“ Der Satz ist schwer verständlich. Wenn Maria Jesus festhalten kann, dann jetzt. Wenn er zum Vater zurückgekehrt ist, wird das ja nicht mehr möglich sein. Also kann nur gemeint sein: „Du sollst mich überhaupt nicht festhalten“. Jesus erteilt Maria den Auftrag, den Jüngern von der Auferstehung zu berichten. Das heißt doch in der Konsequenz: Maria war auch nicht besser dran als wir. Auch sie kann Auferstehung nicht „begreifen“ und den Glauben ein für alle Mal festhalten. Glaube ist damals wie heute nicht ein in Stein gemeißeltes Ding, sondern eher vergleichbar mit dem Wetter in Norddeutschland: heute so, morgen so, immer unberechenbar und niemals „richtig“. Maria geht mit leeren Händen zu den Brüdern und Schwestern. Sie richtet ihre Schritte in die Zukunft. Das ist in diesem Jahr meine Definition von Ostern: sich von der Vergangenheit lösen und sich der Zukunft zuwenden.
Den Predigttext werde ich schon als Evangelium lesen.
Maria. Das ist einer der beliebtesten Vornamen bei neugeborenen Mädchen. Das muss vor zweitausend Jahren schon einmal so gewesen sein. Es gab viele Marias. Man musste sie irgendwie unterscheiden. Im Umfeld Jesu kam eine Maria aus dem Ort Magdala. So sehr wurde der Name ihres Dorfes mit ihr verbunden, dass er fast ein zweiter Vorname geworden ist: Maria Magdalena. Der Evangelist Lukas weiß von einer Heilung zu berichten. Jesus trieb Maria sieben böse Geister aus. Böse Geister austreiben… Wir denken dabei an irgendwelchen Hokuspokus. Haben vielleicht mehr oder weniger gute Filme gesehen, die böse Geister ins Spiel bringen. Im Neuen Testament sind böse Geister eine Bezeichnung für psychische Krankheiten. Mit psychischen Krankheiten tun wir uns genauso schwer wie damals die Menschen. Wenn jemand „nicht richtig tickt“, dann wissen wir nicht, wie mit dem Menschen umgehen. Oft ziehen psychisch Kranke sich selbst zurück. Ihr Leben verläuft unsichtbar hinter Haustüren oder Klinikmauern. Wie mag Maria Magdalena gelebt haben, bevor sie Jesus kennenlernt? Haben ihre Eltern sie möglichst versteckt? Im Dorf kommt so was raus! Was haben die anderen Kinder ihr hinterher gerufen? Und als sie erwachsen war, konnte sie arbeiten und für sich selbst sorgen oder haben sich Geschwister gekümmert?
Die Vergangenheit der Maria Magdalena bleibt für uns im Dunkeln. Aber Jesus hat sie geheilt. Das kann nur bedeuten nur bedeuten: Sie wurde zum ersten Mal anerkannt. Spürte Liebe. Sie war ein Teil der Gemeinschaft von Männern und Frauen um Jesus. Sie konnte etwas beitragen. Maria nennt Jesus „Meister“ oder „Lehrer“. Oder in unserer Geschichte „mein Herr“. Sie lernt von ihm, was sie bisher nicht lernen konnte oder durfte. Sie lernt leben. Ich stelle mir vor: Jesus ist für Maria Magdalena ihr „Ein und alles“. Und dann das: Jesus wird gekreuzigt. Alles aus. Ende. Vorbei. Vielleicht meinte sie: Es ist nur ein böser Traum, gleich werde ich wieder aufwachen. Oder sie wartet darauf, dass sie selbst gleich tot umfällt. Es ist noch dunkel als Maria zum Grab geht. Es ist kein Grab wie die Gräber hier auf dem Friedhof. Bei uns wird ein Grab mit Erde geschlossen und mit Rasen eingesät oder mit Blumen bepflanzt. Das Grab Jesu war in eine Felswand gemeißelt und war mit einer runden Steinplatte verschlossen. Als Maria dorthin kommt ist der Stein weggerollt. Das Grab ist offen. Auch das noch! Jetzt hat sie Jesus ganz verloren. Jetzt sind auch noch seine sterblichen Überreste fort. Wohin haben sie ihn gebracht? Maria konnte bestimmt keinen klaren Gedanken fassen. Und die Tränen kullerten. Sie beugt sich ins Grab und sieht zwei Engel. Zwei Abgesandte von Gott. Die müssen doch wissen, wo Jesus ist! Maria bittet um Hilfe. Aber die Engel geben keine Antwort. Keine Botschaft von Gott.
Maria dreht sich um. Und sieht Jesus. „Das kann nicht sein!“ möchten Sie vielleicht rufen. Es kehrt keiner von den Toten wieder. Maria war schon einmal psychisch krank. Wer weiß was sie für Halluzinationen hatte?! Wir können nicht sagen wie es damals war. Hat sich Maria etwas eingebildet? Ist die Sache mit der Auferstehung eine Lüge? Ist es wortwörtlich so zu verstehen wie Johannes es uns erzählt? War Jesus ganz anders, oder wie vorher ein Mensch aus Fleisch und Blut? Ich weiß es nicht. Es ist ein Geheimnis. Ich kann Auferstehung nicht beweisen und nicht widerlegen. Maria jedenfalls denkt zuerst, vor ihr steht der Gärtner. Sie wiederholt die Bitte, die sie auch schon den Engeln vorgetragen hat. „Herr, wenn du ihn fortgenommen hast, dann sag mir, wo du ihn hingelegt hast. Ich will hingehen und ihn holen.“ Maria will Jesus wiederhaben. Sie will ihn behalten, egal wie. „Ich hätte ihn so gern noch bei mir behalten“, oft haben mir Angehörige diesen Satz gesagt. „Er war krank, ja er konnte nicht mehr, aber wenn er doch nur noch bei mir wäre.“ „Maria“ sagt Jesus. Nur dieses eine Wort. Nur ihren Namen. Zärtlich und liebevoll spricht Jesu die Hilfesuchende an. Der Name durchbricht ihre Tränen. „Maria.“
Wenn in der Bibel von Engeln die Rede ist, die Botschaft von Gott bringen, dann ist deren erstes Wort oft: „Fürchte dich nicht, hab keine Angst“. Jesus braucht keine Versicherung, dass er es gut meint: „Maria“ der Name sagt alles. Maria antwortet: „Rabbuni“. „Mein Lehrer.“ Maria hat ihr Ein und Alles wiedergefunden. Der, den sie unter Tränen sucht, ist nicht länger verborgen. „Maria“. Maria Magdalena braucht nichts weiter als diese Anrede. Für sie wird es gleichgültig gewesen sein, ob Jesus real war oder sie seine geistige Präsenz spürte. Sie hat gefunden, was sie gesucht hat. Hier ereignet sich Glaube. Und heute funktioniert Glaube immer noch genauso. Ein Mensch sucht. Vielleicht gar nicht mal bewusst, spürt nur unterschwellig: Das kann nicht alles im Leben sein. Oder sucht verzweifelt und unter Tränen, wie Maria, nach Hilfe, nach Heilung, nach Verständnis, nach Liebe, nach… Und irgendwann spürt der Mensch: „Ich bin gemeint“, Jesus ist für mich geboren. Für mich wurde er ans Kreuz genagelt. So hat er meinen Fehlern und Schwächen den Garaus gemacht. Für mich ist er auferstanden und lebt! Meine Tränen sollen trocknen und meine Sehnsucht wird erfüllt. Das erlebt Maria am Ostermorgen. Glaube bedeutet: Ich bin gemeint! Jesus spricht mich an, ruft zärtlich meinen Namen. Der Mensch findet so etwas wie Heilung. Oder eine Suche ist beendet. Ich bin angekommen. Ich bin richtig.
Vielleicht habe ich Ihnen das jetzt ein bisschen zu gefühlig geschildert. Zu sehr Bauch. Zu wenig Kopf. Ich denke, Glaube beginnt auf vielfältige Weise. Es gibt kein richtig oder falsch. Aber es gibt die Begegnung mit dem Außerordentlichen, mit dem Auferstandenen. Heute begegnet uns Jesus nicht vor einem Felsengrab. Er begegnet uns in den Erzählungen der Evangelien, in den alten Geschichten von damals. Oder er begegnet uns im Gebet. Wenn wir wie Maria am Grab immer wieder nach Hilfe fragen. Vielleicht begegnet Christus mehr oder weniger zufällig – in einem anderen Menschen. Aber immer ist die Begegnung persönlich: Du bist gemeint. Glaube beginnt aus dem Nichts. Hat keine Bedingungen. Ereignet sich einfach so. „Maria“ Und die Antwort ist: „Mein Lehrer“. Doch nach diesen Worten geht es weiter: „Halte mich nicht fest!“ Maria hat den gefunden, den sie so vermisst hat, aber sie kann ihn nicht festhalten. Sie ist nicht besser dran gewesen als wir heute. Sie sollte ihn nicht umarmen, ihm nicht die Füße küssen. Sie konnte ihn nicht anfassen, nicht begreifen. Jesus taucht auf und zieht sich wieder zurück. Eine Begegnung ist eine Begegnung für einen Moment. Nichts was sich in Stein meißeln lässt. Der Glaube ist etwas Lebendiges, sich Wandelndes, nichts Gewisses. So ist es von Ostern an. Der Glaube ist vergleichbar unserem Wetter in Norddeutschland: heute so, morgen so, unberechenbar und niemals richtig für alle. „Halte mich nicht fest“.
Warum ich glaube? Kann ich nicht erklären, kann ich nicht begreifen. Kann ich höchsten beschreiben. Aber letztlich ist es ein Geheimnis, wie damals. Halt mich nicht fest. Kaum hat Maria, den gefunden, den sie gesucht hat, zieht er sich wieder zurück. Das mag bedeuten: Halt dich nicht damit auf mich wiederzusehen. Festhalten ist es nicht. Wir sind im Geist verbunden. Dieses Band wird nicht getrennt. Jesus stirbt nicht mehr. Er bleibt bei ihr, geistlich. Er reaktiviert in ihr, was wichtig geworden ist für sie, was sie gelernt hat von ihm. „Mein Lehrer.“ Und dann wird Maria in die Zukunft geschickt: „Geh zu meinen Brüdern und sag ihnen von mir: Ich kehre zurück zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“. Maria nimmt diesen Auftrag an und geht zu den Jüngern und verkündet: „Ich habe den Herrn gesehen!“ Maria gelingt es sich von der Vergangenheit zu lösen. Die Tränen trocknen und Maria macht sich auf. Gott hat mit mir noch was vor. Gott kann und will und wird mich noch brauchen. Leere Hände, aber ein getrostes Herz. Und Freude, vielleicht. Ostern ist einmal im Jahr und mit nichts zu vergleichen. Ostererfahrungen sind rar gesät und flüchtig. Halt mich nicht fest! Halt dich nicht damit auf, mich zu begreifen. Begreifen wirst du nicht! Aber deine Tränen sollen trocknen. Und ich werde bei dir sein. Deshalb löse dich von gestern. Gehe aufrecht in den neuen Morgen. Gott hat mit dir noch etwas vor. Das ist Ostern.
Ungewöhnlich feinfühlig ist diese Osterpredigt. Jesus hatte ja Maria Magdalena mal geheilt. Am Beginn ihrer Predigt erzählt Pastorin Handelsmann anschaulich mit dem Predigttext von Maria und ihrer Begegnung mit dem auferstandenen Christus. Jesus spricht sie mit ihrem Namen genauso zärtlich und liebevoll an wie früher und sagt: “Maria!” Sie begreift: Ich bin gemeint von Jesus, von Gott. “Ich finde so etwas wie Heilung. Meine Suche ist beendet. Ich bin angekommen, ich bin richtig.” Begegnungen mit Jesus können sich auch heute sehr vielfältig ereignen. Maria nimmt zum Schluss den Auftrag Jesu an, den Brüdern von der Auferstehung zu berichten. Mit bewegenden und ermutigenden Worten schließt die Predigt. Ungewöhnlich sensibel und psychologisierend wird in der Predigt Ostern verkündet. Gerade dadurch kann dem Menschen die Osterbotschaft sehr nahekommen. Sie kann ihn so sehr existetiell ergreifen. Eine ungewöhnlich schöne Osterpredigt!