Kein Wunder?
Dem Wunder auf der Spur bleiben
Predigttext: Lukas 9,10-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
10 Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen allein in die Stadt zurück, die heißt Betsaida. 11 Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. 12 Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Lass das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste. 13 Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen. 14 Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Lasst sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig. 15 Und sie taten das und ließen alle sich setzen. 16 Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. 17 Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrig ließen, zwölf Körbe voll.
Kein Wunder. Diesen Ausdruck sage und höre ich immer wieder.
Kein Wunder. Lisa hat die Stelle bekommen, um die sie sich so bemüht hat. Kein Wunder. Bei den Eltern. Ich wusste schon immer, dass aus dem Mädchen etwas wird. Robin macht jetzt ein freiwilliges soziales Jahr. Kein Wunder. Ich hab schon in der Grundschule gemerkt, dass der Junge eine soziale Ader hat. Neulich hat die Polizei den dicken Jungen aus der Dorfgasse verhaftet. Kein Wunder. In dem Viertel leben sowieso nur heruntergekommene Familien. Die Gewalt in Syrien weitet sich aus. Kein Wunder, diese Muslime kennen doch nur Gewalt. Kein Wunder sagen wir bei den Dingen, die wir als selbstverständlich hinnehmen: Dass Kinder, deren Eltern studiert haben, viel wahrscheinlicher das Abitur schaffen; dass Männer mehr verdienen als Frauen; dass Türken es bei uns bei der Wohnungssuche schwerer haben als gebürtige Deutsche. Kein Wunder. Das befreit davon, nach Gründen zu suchen. Wer einmal straffällig geworden ist, hat das „Kein Wunder“ lebenslang auf der Stirn kleben. Wenn es kein Wunder ist, das immer weniger Menschen sonntags in den Gottesdienst kommen, dann sind wir als Pfarrer oder Pfarrerinnen und als Gemeinden befreit von der Frage, was sich ändern müsste, damit sich wieder mehr Menschen bei uns heimisch fühlen. Damit sich etwas ändern kann, müssen wir uns erst mal wundern. Der heutige Predigttext ist ein Wunder Jesu. Oder kein Wunder?
(Lesung des Predigttextes)
Da haben Menschen genug zu essen, ja mehr noch, sie werden nicht nur satt, sie haben Brot und Fisch im Überfluss. Es bleiben Reste übrig.
Kein Wunder. Ich habe gefrühstückt, bevor ich hier her kam. Ich bin satt. Eine Geschichte, in der es um das satt werden geht, ist nun wirklich kein Wunder. Vielleicht haben manche von Ihnen Zeiten erlebt, in denen es ein Wunder war, wenn man satt wurde. Vielleicht haben Sie etwas davon zurückbehalten, von dem Gefühl, dass ein Stück Brot ein Wunder sein kann. Wer heute im Alter unserer Konfirmanden ist, der wird es vermutlich selbst noch erleben, dass unsere Erdölvorkommen aufgebraucht sind. Dann wird plötzlich Vieles zum Wunder werden: Kunststoffe, synthetische Farben und selbst Alltäglichkeiten wie Licht und Wärme werden dann vielleicht Wunderwerke sein – und das, weil es heute für mich, ebenso wie für viele andere, einfach kein Wunder ist, Erdöl in Kraftwerken, Heizungen und Autos zu verbrennen. Schulbücher aus den 1970er Jahren erklärten Schülern im Sachkunde-Unterricht noch: Luft und Wasser sind unbegrenzt vorhandene Rohstoffe. Heute wundern wir uns, wie naiv man damals war.
Viele Wunder sind uns selbstverständlich geworden. Bei der Geburt steht es offenkundig vor Augen, das Wunder des Lebens. Wenn das kleine Wesen plötzlich auf der Welt ist, das erste Mal schreit, die Augen öffnet oder mit seinen kleinen Fingern unseren Finger umfasst – da ist alles Wunder. Ich bewundere Eltern, die dieses Bewusstsein nie verlieren, die auch ihre pubertierenden Kinder oder die unabhängig gewordenen jungen Erwachsenen noch als Wunder und als Geschenk betrachten. Unser Predigttext macht aus etwas Alltäglichem ein Wunder: Menschen werden satt. Unser Glaube hat es mit Wundern zu tun, damit Wunder zu erkennen, für Wunder dankbar zu sein und auf Wunder zu hoffen. Wer Wunder erkennen kann, verliert die Selbstverständlichkeit. Wenn Wasser und Luft, Erdöl und Getreide keine Selbstverständlichkeiten mehr sind, wenn sie als Wunder erkannt werden, dann gehen wir auch anders mit ihnen um. Wer seine Kinder als Wunder erkennt, verliert nicht so leicht die Geduld mit ihnen. Wer sie erkennen kann sieht, dass Wunder immer wieder geschehen. Menschen werden satt – und das nicht nur mit Brot. Es gibt Beziehungen, die uns erfüllen. Sinn, den wir finden. Freude, die wir spüren. Immer wieder werden wir satt mit dem, was wir wirklich zum Leben brauchen.
Weil Wunder geschehen, kann ich auf Wunder hoffen. Nicht jedes Wunder geschieht gleich, und manches sehnlich erwartete Wunder bleibt viel zu lange aus. Trotzdem bin ich davon überzeugt: Es lohnt es sich zu hoffen. Das eine oder andere Wunder habe ich mit eigenen Augen gesehen. Daran erinnere ich mich, wenn es heißt: Jetzt müsste schon ein Wunder geschehen. Darum wünsche ich uns allen, dass wir dem Wunder auf der Spur bleiben. Wunder sehen und auf Wunder hoffen, verändert unser Leben. Menschen werden satt an Leib und Seele. Immer wieder. Ein Grund zum Wundern.