Lob der kleinen Schritte
"Bleibt in meiner Liebe"
Predigttext: Johannes 15, 9 - 17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe!
10 Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe.
11 Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.
12 Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.
13 Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.
14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.
15 Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.
16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe.
17 Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.
Vorbemerkung
Die Predigt möchte unter Einbeziehung des Wochenspruches Röm. 12,21 sowie des Bildes vom Weinstock und den Reben (Joh. 15,1 – 8), das als Veranschaulichung des Predigttextes verstanden werden kann, entfalten, was es heißen kann, in Jesu/Gottes Liebe zu bleiben. Die Verbundenheit mit Gott, die mit dem Gedicht Conrad Ferdinand Meyers vom Römischen Brunnen verdeutlicht wird, ermöglicht das und motiviert zugleich, diese Liebe zu leben als ein Gehen in kleinen freundlichen Schritten, als freiwillige Selbstzurücknahme, die Lebensfrüchte wachsen lässt.
Literatur: Rudolf Otto Wiemer, Lob der kleinen Schritte, in: Hans-Martin Lübking, Günter Törner (Hg.), Beim Wort genommen, Gütersloh 2002, S. 207
Lieder
„Du hast uns Herr gerufen“ (EG 162,1-3)
„Ach Gott, vom Himmel“ (273)
„Lass die Wurzel unseres Handelns“ (417)
„Wenn wir jetzt weitergehen“ (162, 4-6)
Psalm EG 762 (Hymnus aus dem Römerbrief)
Lesung: 3. Mose 19, 1+2. 13-18
Viel ist in diesen Worten von Liebe die Rede. Darum fragte ich mich, als ich den Text las, zum Ersten: Wo bleibt denn gegenwärtig diese Liebe, zu der uns Jesus ruft? Wo findet dieses Leben in Liebe statt? Ist die Welt denn nicht vielmehr liebeleer? Hart und kalt? Mir gehen die Bilder der Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa durch den Kopf. Mir stehen die täglichen Zeitungsmeldungen von Beziehungsdramen, von misshandelten und missbrauchten Kindern vor Augen. Ich sehe die Bilder von geschundenen Tieren in Massentierhaltung vor mir. Zum Zweiten dachte ich: Sehnt sich denn nicht jede und jeder nach Liebe, nach einer Liebe, die bleibt? „Marmorstein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht.“ Sehnt sich denn nicht jede und jeder danach, dass sich jemand einem zuwendet und fragt: „Mensch, wie geht es dir?“ und sagt: „Du bist mir nicht egal?“ Möchte denn nicht jede und jeder, dass sie oder er angenommen und verstanden wird? Drittens fragte ich mich: Möchte nicht jeder Mensch, dass er in seinem Leben Früchte hervor bringt, Früchte, die bleiben? Dass er ein erfülltes und gelingendes Leben lebt, trotz allem Schweren, aller Brüche und Abbrüche? Was gibt einem die Inspiration, die Motivation und die Kraft dazu?
„Bleibt in meiner Liebe!“ Das ist es! Ich spüre, wie dringlich dieser Aufruf Jesu für die Welt und für mich ist. Wie er mir gut tut. Jesus antwortet mir auf meine Fragen. Er zeigt mir, wo diese bleibende Liebe ist, die sich nicht definieren, sondern nur umschreiben, erfahren und leben lässt. Die Liebe, die nicht vergeht und erkaltet, die also mehr als die menschliche Liebe sein muss. Jesus sagt mir: Die Welt ist nicht nur kalt und hart, das Gegenprogramm ist da, der Funke entfacht: Meine Liebe, Gottes Liebe zu euch Menschen, die ich, Jesus lebte, um euch zu inspirieren und motivieren. Deine Sehnsucht, Mensch, ist erfüllt, mit mir und in mir, du brauchst das nur ergreifen. Er zeigt mir, wer sich mir zugewandt hat: Er, Jesus und Gott in ihm. Er spricht zu mir: Bleib in meiner Liebe, dann erhältst du die Kraft, dich nicht vom Bösen überwinden zu lassen (Wochenspruch), sondern ihm tatkräftig zu widerstehen. Bleib in meiner Liebe, dann kannst du die Kunst der kleinen, aber kräftigen Schritte lernen, die die Liebe macht. Der Liebe, gelebt im Alltag, die dann ausstrahlt, die Kreise zieht, wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird. Du kannst dich dem hingeben, dass Leben gedeiht, blüht und wächst. Du kannst in Lebenshingabe leben und dich verströmen, ohne dabei verzehrt zu werden. Denn du weißt aus welcher Quelle heraus du lebst und deine Lebensenergie hast, die dich nährt und stärkt. Die dich erfüllt, dass du Lebenssinn verspürst und dein Leben gute Früchte bringt. Wer möchte denn nicht, dass sein Leben Früchte bringt? Früchte, die genießbar sind und Freude machen? Sicher, es gibt die dunklen Seiten im Menschen, die düsteren und destruktiven Kräfte, die da wirken und sich austoben. „Das Böse ist immer und überall.“ (EAV) Immer wieder brechen diese negativen und destruktiven Kräfte hervor, nehmen Menschen in Beschlag. Es ist die andere Seite in uns. Ihr gilt es zu widerstehen, sie zu bändigen, zu zähmen. Doch wie? Jesus sagt: „Bleibt in meiner Liebe!“ Bleibt in mir. Bleibt bei mir. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ (Joh. 15,5). Um gute Frucht hervorzubringen, muss die Lage stimmen, der Boden und das Klima. Das gilt nicht nur beim Wein- und Obstbau, sondern auch für uns Menschen. Ich muss entsprechend verortet sein. Es ist wichtig, aus welcher Quelle ich schöpfe. Ist sie rein, ist sie verseucht? Jesus weist uns darauf hin: Ich darf mich verbunden wissen mit der reinen Quelle des Lebens, mit Jesus und mit Gott. Ich stehe in dieser starken Beziehung, ich lebe und webe aus ihr. Das Bild vom römischen Brunnen samt dem gleichnamigen Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer (7. Version, 1882) drücken dieses strömende Bleiben schön aus:
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
„Bleibt in meiner Liebe!“ In der Liebe Jesu, in Gottes Liebe bleiben, heißt für mich zunächst: Ich lebe als einer, der unendlich viel empfängt. Liebe das bedeutet als Erstes: Empfangen. Liebe, das heißt sich bewußt sein: Ich lebe von dem, was mir umsonst, „ohn mein Verdienst und Würdigkeit“ (Martin Luther), geschenkt wurde. Liebe heißt, ich werde mir klar darüber, dass ich bedürftig und angewiesen bin auf gute Zuwendung. „Es wird einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch überhaupt unendlich mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht. Man überschätzt wohl leicht das eigene Wirken und Tun in seiner Wichtigkeit gegenüber dem, was man nur durch andere geworden ist.“ (Dietrich Bonhoeffer) „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.“ Liebe heißt dann weiter: Anderen geben, sich anderen und anderem Leben gut zuwenden. Liebe meint dann auch gegebenenfalls auf Eigenes und den eigenen Vorteil zu verzichten, damit anderes Leben aufblüht, sich entwickelt und Früchte bringt. Damit anderes Leben seine Lebenschance erhält. Liebe ist die freiwillige Selbstzurücknahme zu Gunsten anderen Lebens. Eine Zurücknahme, wie Jesus sie gelebt hat in der völligen Lebenshingabe: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Seine Hingabe, die uns mit Gott versöhnt und frei macht für Versöhnung, für Liebe, für Selbstzurücknahme. Wir sind nicht Jesus, und brauchen uns nicht aufzuopfern. Aber wir dürfen Anteil haben an der Weite seines Herzens. Das beflügelt seine Freundlichkeit, Gottes Freundlichkeit in die Welt hineinzutragen – in Liebe, im Verzicht, in kleinen Schritten. Das kann bedeuten: Mauern und Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und Migranten abzubauen und ihnen hier, aber auch ihrer Heimat, Lebenschancen zu ermöglichen. Das kann bedeuten den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin mit Achtung ziehen zu lassen, wenn die Beziehung zerbricht und die Liebe erkaltet. Das kann heißen: Weniger Fleisch und Fleischprodukte aus Massentierhaltung zu essen, dafür auf Qualität zu achten und zu schauen, wie die Tiere gehalten werden. „Bleibt in meiner Liebe!“ Wagt die kleinen Schritte, die Leben aufblühen lassen. „Lob der kleinen Schritte“ heißt ein Text von Rudolf Otto Wiemer:
„Wir loben die kleinen Schritte. Den Mann, der das voreilige Wort nicht ausspricht. Die Stimme, die sagt: Pardon, ich bin schuld. Die über den Zaun des lästigen Nachbarn gestreckte Hand. Wir loben die kleinen Schritte. Die Faust in der Tasche. Die nicht zugeschlagene Tür. Das Lächeln, das den Zorn wegnimmt. Wir loben die kleinen Schritte. Das Gespräch der Regierungen. Das Schweigen der Waffen. Die Zugeständnisse in den Verträgen. Wir loben die kleinen Schritte. Die Stunde am Bett des Kranken. Die Stunde der Reue. Die Minute, die dem Gegner recht gibt. Wir loben die kleinen Schritte. Den kritischen Blick in den Spiegel. Die Hoffnungen für den anderen. Den Seufzer über uns selbst“. Und nicht nur den Seufzer, sondern auch das Lachen über sich selbst.
“Bleibt in meiner Liebe! Das ist es!” Um dieses Zentrum herum kreist die liebevolle Predigt von Pfarrer Bossert. Am Anfang erinnert der Prediger daran, wie liebeleer uns unsere Welt oft mit Lampedusa-Flüchtlings-Katastrophen, Kinder- und Beziehungs-Elend und Massentierhalting erscheint. Es ist für die Hörenden sicher wichtig, dass der Pfarrer glaubwürdig die lieblose Härte unserer Welt kennt. Danach aber gelingt es ihm, über das immer gleiche Hauptthema der Christenheit, die Liebe, sehr neu und liebevoll, schwungvoll, mit viel emotionaler Intelligenz und interessanten Gedanken über Jesu Liebe zu predigen. Bleib in meiner Liebe, sagt Jesus, dann dann erhältst Du Kraft, dem Bösen zu widerstehen und Liebe auszustrahlen im Alltag und Früchte zu bringen und kleine kräftige Schritte der Nächstenliebe zu gehen. Diese und ähnliche eindringlichen Worte findet Pfarrer Bossert. Dass Jesus die Quelle unserer Liebe ist, veranschaulicht er mit einem Gedicht. Auch an das Opfer der Liebe erinnert der Pastor, wie Thomas Mann: Wer liebt, leidet oder wie Bossert: Liebe ist die freiwillige Selbstzurücknahme zu Gunsten anderen Lebens. Sehr schön am Schluss der Text von Rudolf Otto Wiemer: Lob der kleinen Schritte der Liebe. Pfarrer Bossert ist es gelungen, mit poetischen Formulierungen neu und mitreissend über das Routine-Thema christliche Liebe zu predigen. Einfach toll!