Volkstrauertag – nicht nur ein Rückblick
Umkehren ist möglich - muss es immer erst zur Katastrophe kommen?
Predigttext: Jeremia 8, 4-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
4 Sprich zu ihnen: So spricht der Herr: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen.
Exegetische und homiletische Einführung
Mehr als doppelt so viele Worte braucht die deutsche Übersetzung wie der hebräische Text: 122 gegen 60. Abgehackt, hervorgestoßen klingt das Gesagte bei Jeremia. Wie der „Hammer, der Felsen zerschlägt“ (Jer 23,29). Aber auch wie ein Schluchzen. Als ob Gott fast zerbricht an der Unvernunft seines geliebten Volkes. „Ammi“, mein Volk, wie viel Zärtlichkeit klingt darin! 6 von den 60 hebräischen Worten stammen von der Wurzel schuw / umkehren ab. Das ist im Deutschen nicht wiederzugeben. Nicht nur Reue, sondern vor allem Bewegung liegt in dem Verb. Wer bewegt uns und wovon lassen wir uns bewegen? Wie entsteht wirkliche Veränderung des Verhaltens? Wo ist der Übergang vom Reden zum Tun?
Das Ende des Textes zentriert auf das Verb jada / wissen. Weisheitliches Denken spielt hinein: Naturbeobachtungen (Storch und Kranich) offenbaren eine Ordnung, die für die Menschen genauso gilt, die sie aber verlassen haben. Menschen brauchen eine Hilfe, die sie in diese Ordnung hinein bettet: Das Recht des Herrn. Etwas, was nicht ihrem eigenen Willen, sondern dem Willen Gottes entspringt.
Nichts Tröstliches verheißt der Text. Auch vorher und nachher nur Gerichtsworte. Aber eine Tendenz: von der Drohung zur Klage. In Jeremias Klage spiegelt sich die Klage Gottes. Von ihr allein geht Heilung aus. Das verstärkt noch einmal mehr den Umkehrruf. Den Ruf zum Sprung in Gottes weit geöffnete Arme.
Literatur: Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Band 2, Stuttgart 1995.
Als ich etwa 16 war, tauchte an unserer Schule der erste Junge mit Ohrring auf. Nur wenige fanden, dass das seine Attraktivität besonders steigerte. Das ist doch unnatürlich! So ähnlich empfand ich es auch. Als Junge trägt man keine Ohrringe. Inzwischen schaue ich kaum noch hin, auch wenn der junge Mann fünf Ohrringe hintereinander trägt. Man hat ja dazu gelernt. Auch an die Nasenringe habe ich mich gewöhnt. Das Naseputzen stelle ich mir zwar noch schwierig vor, aber es scheint ja zu klappen. Kommt mir Mann oder Frau allerdings mit einem Ring durch die Lippe entgegen, dann runzelt sich schon noch meine innere Stirn. Wie machen die das wohl beim Küssen, überlege ich. Aber vor allem: Das muss doch entsetzlich weh getan haben, die weiche Lippe und dann der Ring da durch. Solche Schmerzen aushalten um der vermeintlichen Schönheit willen – das ist doch unnatürlich!
Was ist natürlich? Viel Aufsehen erregt derzeit die Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema Ehe und Familie. Gleichgeschlechtliche Paare leben zusammen und erziehen gemeinsam ein Kind – das wird nicht mehr von vornherein als unnatürlich und damit gottwidrig verurteilt. Das Papier ist umstritten. Der Abstand zwischen Konservativen und Liberalen ist groß. Ich selbst musste mich damit auch erst auseinander setzen. Natürlich oder unnatürlich? Was mir selbst fremd ist, muss darum noch nicht falsch sein. Aber den Schritt muss man erst mal gehen. Fremd ist mir ja eigentlich immer nur das, was ich noch nicht gut genug kenne. Natürlich sind auf jeden Fall die Tiere. „Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen.“ So spricht Jeremia. Vielleicht steht er auf einem der Hügel Jerusalems und sieht die Zugvögel nach Süden oder nach Norden ziehen, ruhig, gelassen, selbstverständlich. Bewunderung erfüllt sein Herz: Die Tiere wissen, wann sie aufbrechen und wohin sie ziehen müssen. Ihr Instinkt sagt es ihnen. Das Wort Instinkt kennt Jeremia noch nicht. Für ihn ist es ein Wissen, eine Weisheit, eine Verbundenheit mit Gott. So hat Gott es gefügt, so ist seine Ordnung. Die Zugvögel halten sich daran, ganz natürlich, sie wissen, es ist das Beste für sie. Dieses Wissen aber hat der Mensch verloren.
Auch uns tut so ein Innehalten und ein Blick in den Himmel gut. Nach Ruhe und Gelassenheit sehnen wir uns auch. Viele suchen ihre innere Mitte. Irgend Etwas fehlt. Es ist alles zu viel geworden, zu hektisch, zu unübersichtlich. Meistens empfinden wir uns dabei als Opfer. Als Opfer eines unbestimmten Zeitgeistes. Aber Jeremia sagt: Es liegt an Euch. Ihr lebt unnatürlich, ihr habt alles Gefühl für euch selber verloren. „Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“ Genauso aber seid ihr: Ihr seid gefallen und wollt liegen bleiben. Ihr seid irregegangen und merkt es nicht einmal. Eine massive Kritik am Lebensstil. Wie reagieren wir? Doch eher mit Distanz: Wir sind nicht gemeint! Aber ich muss nur einen Blick auf die Benutzeroberfläche meines Computers werfen. Nachrichten tickern da über den Bildschirm. „Taifun Haiyan – Neuner ist schwanger – Miss Universe 2013.“ Überschrift: Trendthemen. Das kann doch nicht sein, denke ich. Da sind Tausende Tote zu beklagen, hier wird ein Sportstar schwanger – das kann man doch nicht in einem Atemzug schreiben. Diese Katastrophe kann man doch nicht „Trendthema“ nennen. Ist das noch natürlich? Was würde der Kranich dazu sagen? Und Jeremia? Und Gott?
Ich bleibe beim Kranich. Beim Tier. Ich sehe einen Bekannten vor mir, dessen Hund gestorben ist, an Krebs, nur sechs Jahre alt. Er trauert. Er hat ein Familienmitglied verloren. Er sagt: Ich habe viel von ihm gelernt. Hast du ein Grab für ihn, wird er gefragt, und er sagt Ja. Kurz darauf lese ich einen Zeitschriftenartikel über Masttierhaltung. Legales Grauen, so ist er überschrieben. Das ist noch gelinde ausgedrückt. Von männlichen Kälbern, denen ohne Betäubung die Hoden abgeschnitten werden, damit sie auf der Weide nicht aufeinander losgehen – und wir kaufen ihr Fleisch dann guten Gewissens, weil sie ja immerhin Auslauf hatten und nicht nur im Stall vor sich hin vegetieren mussten. Puten, die Schmerzmittel bekommen, damit die vom Gewicht entzündeten Füße sie noch zum Futter tragen. Weitere Beispiele folgen. Es ist alles bekannt. Jeder der will, hat Zugang zu den nötigen Informationen. Aber es ändert sich nichts. Ist das noch natürlich?
Heute ist Volkstrauertag. Auf den Friedhöfen wird der Toten gedacht. Ein Glück, kein Krieg mehr in unserem Land, hoffentlich nie wieder. Aber der Krieg, den wir gegen die Tiere führen? Die Millionen toter kleiner Fische, die als so genannter Beifang vor den Küsten Afrikas wieder ins Meer geworfen werden, unbrauchbar, obwohl sie der einheimischen Bevölkerung als Nahrung hätten dienen können? Warum gibt es dafür keinen Volkstrauertag? Ist das kein Krieg? Der einzige Unterschied ist, dass wir es nicht so nennen. Letztlich sägen wir uns schon lange den Ast ab, auf dem wir selber sitzen, und merken es nicht einmal. Und wenn wir es merken, tun wir nichts dagegen. Oder zumindest längst nicht genug. In den nötigen Umstellungen wegen des Klimawandels hinkt Europa weit hinterher, sagen Experten – so war letzte Woche in der Zeitung zu lesen. Ein Bericht, der entgegen genommen wird. Aber keine Umkehr.
Umkehr ist das Stichwort. Um Umkehr geht es Jeremia. Um Irregehen und Zurechtkommen, um Drehen und Wenden, die richtige Richtung suchen und in ihr dann auch gehen. Buße ist Umkehr. Wir denken oft, Buße ist reumütige Zerknirschung, Asche auf mein Haupt, in Grund und Boden versinken. Gott will aber keine Versunkenen. Gott will Bewegung. Aufbruch. Nur nicht kopflos wie der Hengst in die Schlacht, der von Angst oder Peitsche getrieben wird. Sondern überlegt und mit einer klaren Zielvorstellung. Buße heißt auch ganz einfach Besserung. Allerdings nicht nur oberflächlich. Kein feines Drehen an ein paar Stellschrauben. Buße ist immer etwas Revolutionäres. Ich muss von Grund auf neu denken, mich neu aufstellen, eingeschliffene Verhaltensmuster erkennen, in Frage stellen, ändern. Es braucht mein Herz dazu. Aber das allein reicht nicht aus. Der Prophet Jeremia stellt fest: Es gibt keine Umkehr. „Mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen.“ Die Menschheit hat immer noch nichts dazu gelernt, klagen viele angesichts der Kriege in unserer Welt. Gewalt wird immer noch mit Gewalt beantwortet. Der Taifun auf den Philippinen hat mit dem Klimawandel zu tun. Und dass so viele Menschen gestorben sind, liegt an den schlecht gebauten Häusern, an der zugelassenen Armut in unserer an sich so reichen Welt. Was muss denn noch alles passieren? Es muss immer erst zur Katastrophe kommen. Aber selbst eine Katastrophe bringt die Menschen nicht zur Umkehr. Das schaffen nur persönliche Katastrophen – manchmal. Ein Mensch, der Krebs bekommt, kann von einem Tag auf den anderen mit dem Rauchen aufhören. Oder sich endlich mal mehr Zeit zu nehmen für sich selbst. So etwas gibt es. Im allerpersönlichsten Bereich ist uns anscheinend der Instinkt noch nicht ganz verloren gegangen. Aber sobald es darüber hinaus geht, herrschen andere Gesetze.
Der Prophet Jeremia musste erfahren, dass viele seine Stimme nicht hörten. Jesus auch. Trotzdem riefen sie zur Umkehr. Gott sendet Rufer, zum Glück. Er weiß, dass wir Menschen uns auf unsere Stimme nicht verlassen können – und dass er sich nicht darauf verlassen kann. Wir brauchen den Ruf von außen. Wir brauchen das von Gott gegebene Recht. Das Recht, das den großen Worte Gerechtigkeit und Friede zu ihrem Recht verhilft. Das Gesetz, das die Gesetzmäßigkeiten der Seele und der Welt eigensinnig in Frage stellt. Um dieses Recht aufzurichten, ist Jesus ans Kreuz gegangen. Jetzt steht das Recht da. Als Anklage in den vielen Kreuzen in der Welt. Aber auch als Wort der Bibel, dem Jesus seinen Geist verheißen hat. Dass es lebendig werde, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. An Jeremias Worten darf uns etwas aufgehen. „Mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen.“ Mein Volk. Da spricht Gott voller Zärtlichkeit und Liebe. Sei Zorn währt einen Augenblick und lebenslang seine Gnade, heißt es in einem Psalm. Gott klagt an, aber vor allem klagt er. Er weiß, wie viel besser es uns gehen würde, wie viel natürlicher wir unser Leben leben könnten, wenn wir uns von seinem Recht leiten ließen. Darum wendet er sich nicht ab. Gott ist dabei. Gott ist dabei, wo Menschen aufhorchen. Gott ist dabei, wo Menschen ihren Alltag unterbrechen. Zum Himmel aufschauen, den Kranichen nachsehen. Dann wieder die Zeitung lesen und dann wieder die Bibel. Dann vielleicht einen anderen suchen, mit dem sie gemeinsam ihre Hilflosigkeit aushalten können. Oder zwei. Jesus hat zur Umkehr gerufen, wie Jeremia. Das allein ist unsere Gewissheit, dass Umkehr und Hilfe nicht unmöglich ist.