Blick durchs Schlüsselloch
Warten, dass Türen und Herzen sich öffnen, dass jemand den Schlüssel zu einer besseren Welt findet – ohne Krieg, Streit und Angst
Predigttext: Offenbarung 3,7-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
7 Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf: 8 Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. 9 Siehe, ich werde schicken einige aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind's nicht, sondern lügen; siehe, ich will sie dazu bringen, daß sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, daß ich dich geliebt habe. 10 Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. 11 Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, daß niemand deine Krone nehme! 12 Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. 13 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Vorbemerkungen
Das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia (Offb 3,7-13) bietet als Predigttext für den ersten Advent einige Chancen, stellt aber auch vor etliche Herausforderungen. Das Motiv des „Aufschließens“ weckt adventliche Assoziationen (z.B. verschlossene Tür des Weihnachtszimmers, Adventskalender, Blick in den geöffneten Himmel, Christus als Inhaber der Schlüsselgewalt [vgl. auch EG 7,1; 27,1.6]; vgl. zum Stichwort „Tür“ auch EG 1,1.5) ebenso wie die Stichworte „Warten“ /„Geduld“ (Offb 3,10) und das in Aussicht gestellte (Wieder-)Kommen Christi“ (Offb 3,11). Auch der „Zeugnischarakter“ des Sendschreibens passt zur Adventszeit als Zeit der Einkehr und Buße.
Problematisch ist die Fremdartigkeit des Textes (u.a. durch die zahlreichen Motivanklänge an das Alte Testament, z.B. Völkerwahlfahrt (Offb 3,9 /Ps 86, 9; Jes 49,23; 60,8-14], Schlüsselgewalt [Offb 3,7 /Jes 22,22]). Vor allem aber der Ausdruck „Synagoge des Satans“ (Offb 3,9) stellt einen Stolperstein dar; auch die anklingende Werkgerechtigkeit (Offb 3,10f) ist
(rechtfertigungs-) theologisch problematisch. Die in der Johannesapokalypse bezeugte Gemeindesituation ist kaum auf unsere Gemeindewirklichkeit hierzulande und heutzutage zu übertragen.
Historisch ist die Johannesapokalypse in die Zeit der Christenverfolgung unter Domitian einzuordnen, was sich in Stichworten wie „Versuchung“ (Offb 3,10) , „(aus-)halten“ (Offb 3,11) und nicht zuletzt in der Wendung „Synagoge des Satans“ (Offb 3,9) widerspiegelt: Satan ist in der Johannesapokalypse Bezeichnung für die römische Staatsgewalt, mit der einige jüdische Gemeinden kooperierten, weswegen sie für den Verfasser der Johannesapokalypse zu Gegnern und zur „Synagoge des Satans“ werden. Hier liegt m.E. eine homiletische Herausforderung: Verzichtet man auf die Lesung dieses Verses, lässt man den Begriff stehen, was angesichts des Evokationspotentials schwierig ist, oder thematisiert man ihn explizit, was einen homiletischen „Nebenschauplatz“ eröffnen und zu einer „Predigt in der Predigt“ (Verhältnis Juden-Christen; Abgrenzung vom Antjudaismus/Antisemitismus) führen könnte.
Ich stelle in meiner Predigt die Motive „Tür“ (Tür der verschlossenen Heiligabendstube / Blick durchs Schlüsselloch in das Weihnachtszimmer; Adventskalender; Tür zum neuen Jerusalem / geöffneter Himmel, Christus als Inhaber der Schlüsselgewalt) und „Warten“ (Ungeduld, Bilanzziehen, Sehnsucht nach der Zukunft) in den Vordergrund. Der narrative Predigteinstieg (kleines Kind sieht durch das Schlüsselloch die verheißungsvolle Weihnachtsstube) korrespondiert mit der narrativen Szene am Ende der Predigt (Markus als exemplarischer Gemeindechrist aus Philadelphia sieht vor seinem geistigen Auge den geöffneten Himmel): Auch wenn wir noch warten - Heiligabend bzw. Gottes neue Welt ist in Sichtweite! Unsere traditionellen (Kinder-)Weihnachtssehnsüchte (Licht, Süßes, Geschenke, Singen, fröhliche Stunden im Kreis der Familie) sind Bild für die umfassende Hoffnung auf Gottes neue Welt (Frieden, Heil-Sein des Menschen, Gottes Gegenwart).
Liedempfehlungen
"Macht hoch die Tür" (EG 1, Str. 1.2 u. 5, vor der Predigt)
"O Heiland, reiß die Himmel auf (EG 7, Str. 1-5, nach der Predigt)
Meine Füße sind eiskalt. Barfuß stehe ich auf den kalten Holzdielen und drücke meinen Kopf fest an das Schlüsselloch. Mit meiner linken Hand halte ich meinen Schlapphund aus Stoff fest umklammert. Es ist mitten in der Nacht. Heimlich bin ich aus meinem Bett geklettert – meine Eltern durften nichts merken. Ich bin so ungeduldig. Morgen ist endlich Weihnachten! Wie lange musste ich darauf warten! Ganz vorsichtig bin ich in der Dunkelheit die alte Holztreppe heruntergeschlichen, habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und bin auf Zehenspitzen über die knarrenden Holzdielen getappt bis ich endlich vor der guten Stube stand. Natürlich ist die Tür verschlossen. Aber immerhin – durchs Schlüsselloch kann ich gucken und einen Blick in die Weihnachtswunderwelt werfen. Wenn ich mich anstrenge und die Augen zusammenkneife, kann ich sogar die Umrisse der Geschenkpäckchen erkennen. Ob ich dieses Jahr etwas Besonderes bekomme? War ich brav genug? Am Tannenbaum brennen die elektrischen Kerzen und tauchen das dunkle Zimmer in ein warmes Licht. Geheimnisvoll glitzern die Kugeln am Baum. Es ist ganz still. Wie schön das ist! So schön, dass ich meine eiskalten Füße, die Dunkelheit um mich herum, ja, selbst die Angst, meine Eltern könnten mich entdecken, vergesse. Ach, wenn doch nur schon morgen Abend wäre! Dann würde mein Vater die Tür aufschließen und dann wär Weihnachten da: Licht, Wärme und Lachen!
Advent – wir warten ungeduldig darauf, dass sich Türen öffnen. Ich mache das jeden Morgen vor dem Aufwachen. Da warte ich auf den Moment, in dem ich die Tür in meinem Kalender öffnen kann, jeden Tag eine Tür bis zur großen an Heiligabend. Mancherorts öffnen Menschen ihre Türen während des lebendigen Adventskalenders, laden ein in Haus oder Garten zu einer halben Stunde Punsch, Lied und heiterem Gespräch. Das verkürzt das Warten und bringt Licht in die dunklen Tage bis Weihnachten alle Welt in Glanz erstrahlt. Letztes Jahr hat sich mein Mann einen ganz besonderen Adventskalender für mich ausgedacht und selbstgemacht. Er bestand aus einer langen Schnur mit 24 Briefumschlägen mit etwas drin: Einem Gedicht, einem Foto, einem Liedtext oder einer Karte. Nikolaus war ein Gutschein für einen Shoppingtag drin. Irgendwann ein Liebesbrief. „Ich mag dich – so wie du bist!“ Vor fast 2000 Jahren hat die Gemeinde von Philadelphia auch so einen Brief bekommen.
(Lesung des Predigttextes)
Auch die Christen damals warteten. So wie wir heute auf Weihnachten warten, warteten damals alle auf die Wiederkunft Christi. Aber ganz anders als wir. Ohne Weihnachtsmärkte, Punsch und Lichterglanz. Damals wurden die Christen verfolgt. Wenn man leidet, wartet man anders. Dieser Brief hat getröstet, das Warten unterbrochen, Bilanz gezogen und den Blick auf die Zukunft gerichtet. „Siehe, ich komme bald!“ Viel Lob hat die Gemeinde bekommen. „Ihr habt zwar nur eine kleine Kraft, aber dafür habt ihr es gut gemacht. Ihr seid mir treu gewesen, habt mein Wort gehalten und mich nicht verleugnet.“ Das klingt in unseren Ohren leicht, aber für die Gemeinde in Philadelphia damals war das eine große Leistung. Die Gemeinde wurde verfolgt und hatte viele Anfeindungen zu ertragen. Trotzdem ist sie beim Glauben geblieben. Selbstverständlich war das nicht. Die Versuchung, sich von Gott abzuwenden und den kaiserlichen Forderungen zuzuwenden, nur um in Frieden leben zu können, war jeden Tag da.
Das war eine ganz andere Versuchung als die süßen Sünden, die uns heutzutage hierzulande in Stollen, Punsch und Lebkuchen so verlockend und kalorienreich entgegenblicken. In die dunklen Tage zwischen Angst und Versuchung, Hoffnung und Verzweiflung bringt der Brief Licht in das Leben der Christen in Philadelphia. Weil die Gemeinde standhaft gewesen ist und geduldig gewartet hat, bekommt sie Lob. „Eure Treue, eure Geduld wird belohnt. Weiter so! Lasst nicht nach! Bald ist es soweit. Selbst eure Feinde werden sich euch unterwerfen. Ihr werdet Pfeiler sein in Gottes Tempel, die neue Welt steht euch offen, das himmlische Jerusalem. Frei ist der Weg zu Gottes Thron; unverstellt der Blick auf seine Herrlichkeit.“ „Und siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel!“ (Offb. 4,1) Niemand kann sie wieder schließen. Christus selbst hat sie aufgetan. Haltet aus mit eurer kleinen Kraft!
Unser Predigttext zählt zu den sieben Sendschreiben in der Johannesapokalypse. Der Prophet Johannes schreibt im Auftrag Gottes „an die sieben Gemeinden in der Provinz Asien“ (Offb. 1,4). Die Zahl Sieben steht für Vollkommenheit. Alle Gemeinden bekommen einen Brief von ganz oben. Manche der sieben Gemeinden schneiden schlecht ab, bekommen blaue Briefe, die ein oder andere rote Karte ist auch dabei. Philadelphia hat Glück. Was für einen Brief würden wir als Gemeinde bekommen? Lob oder Tadel? Einen Liebesbrief, eine Belobigung, einen blauen Brief oder vielleicht sogar die rote Karte? Da könnte man jetzt viel spekulieren. Vieles gelingt, viel liegt im Argen. Je nach dem wo man hinsieht und von welcher Perspektive aus man es betrachtet, könnten da sowohl Tadel als auch Lob dabei sein. Steht uns die Tür zum Himmel offen, wird sie uns vor der Nase zugeschlagen oder haben wir wenigstens noch einen Fuß in der Tür? Wir können da nur spekulieren. Und uns fragen: Wo öffnen sich bei uns Türen? Was bedroht uns? Wem schlagen wir die Tür vor der Nase zu? Wie finden wir den Schlüssel zu einem friedvollen Miteinander? Und: Wie können wir mit unserer kleinen Kraft feste Pfeiler im Tempel Gottes sein?
Als ich ein Kind war, konnte ich Weihnachten kaum erwarten. Ich konnte es kaum erwarten, dass mein Vater Heiligabend die Tür zu unserer guten Stube aufschloss und es endlich losging: das Singen, das Essen, die Bescherung, das Fröhlichsein. Heute warte ich immer noch, ungeduldig wie eh und je. Doch ich warte anders. Ich warte darauf, dass Türen und Herzen sich öffnen, dass jemand den Schlüssel zu einer besseren Welt findet – ohne Krieg, Streit und Angst. Ich warte darauf, dass es wahr wird, was uns verheißen wurde in jener Nacht, in der das kleine Kind, der Retter der Welt, geboren wurde: „Fürchtet euch nicht“ Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. (…) Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens (Lk 2, 10.14)!“
Markus liegt lange wach. Obwohl milde Sommernachtsluft das nächtliche Philadelphia erfüllt, ist ihm kalt ums Herz. Gedanken geistern Markus durch den Kopf und lassen ihn nicht schlafen: Warum nur bläst uns Christen so ein kräftiger Wind ins Gesicht? Wie lange müssen noch leiden unter Angst, Repression, Verfolgung und Anfeindungen? All dieser Schmerz, all die Tränen, dieses Geschrei, dieser Tod – wie lange noch? Markus ist mit seiner kleinen Kraft fast am Ende. Wenn sie doch nur schon da wären, die besseren Zeiten, die neue Welt! Irgendwann hält Markus es nicht mehr aus, steht auf, geht zum Fenster und schaut lange in die Nacht hinaus. Die Straßen sind verlassen. Ganz still ist es. Der Mond taucht alles in ein weißes Licht. Fast friedlich – so scheint es Markus – fast friedlich ist diese Nacht. Er schließt die Augen, und plötzlich ist da – wie von unsichtbarer Hand gezeichnet – ein Lächeln auf seinem Gesicht. Markus merkt nicht, dass sein Bruder plötzlich neben ihm steht. „Markus, warum stehst du hier mitten in der Nacht mit geschlossenen Augen – und was ist das für ein Lächeln auf deinem Gesicht. Siehst du was, was ich nicht sehe?“ Markus antwortet, mit leiser Stimme, in der doch auf einmal unendlich viel Kraft liegt: „Ich sehe einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sehe die heilige Stadt, das neue Jerusalem, vom Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich höre eine große Stimme von dem Thron her, die spricht: ‚Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen. Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist vergangen.‘ Und der auf dem Thron sitzt, spricht: ‚Siehe, ich mache alles neu! Haltet aus mit eurer kleinen Kraft!‘ (nach Offb. 21, 1-5)!“
Nach der erleuchtenden Exegese stellt Pfarrerin Dr. Janßen das Thema “Tür zu Gott” ins Zentrum ihrer Predigt. Die möglichen anderen Themen: Das Neue Jerusalem und Ausharren im Leid mit Christus, werden aber mit bedacht. Wegen unserer Beschämung durch christlichen Antisemitismus übergeht sie zu recht das Thema: Synagoge des Satans als ein ganz eigenes aufwühlendes Predigtthema. Die Predigerin beginnt mit der anrührenden Kindheitserinnerung, als sich die Tür zum Weihnachtszimmer damals öffnete. Heute gibt es verbreitet die schöne neue Sitte, dass Christen in der Vorweihnachtszeit ihre Haustür an einem Abend öffnen und Menschen zum Adventstreffen einladen. Sie empfiehlt, dem liebsten Menschen jeden Tag einen Adventsbrief zu schreiben mit besinnlichen Advents-Texten oder auch dem Liebesbrief: “Ich mag Dich so wie Du bist”. Damit ist die Autorin beim Predigt-Thema: Die Gemeinde in Philadelphia bekam damals einen Liebesbrief vom zur Rechten Gottes auferstandenen, kosmischen Christus mit diesem Inhalt. Sehr anrührend formuliert die Predigerin Jesu Lob: Ihr habt zwar nur eine kleine Kraft, aber dafür habt ihr es gut gemacht. Ihr seid mir treu geblieben und habt mich in Anfeindungen nicht verleugnet. Eure Treue und Geduld werden belohnt. Weiter so: Lasst nicht nach! Ich komme wieder, und die neue Welt steht euch offen! Zum Schluss wendet sich Pfarrerin Dr. Janßen mehreren Themen zu, zum Beispiel: Was für einen Brief würde unsere Gemeinde heute bekommen? Öffnen sich für uns Türen zu Gott und den Menschen? Die Predigt schließt am Ende mit der großen Hoffnung auf die Vollendung der Welt zu Gottes Friedensreich, welche wir im Advent und Weihnachten im Blick haben. – Eine lebendige, auch persönliche Predigt, welche das Wesentliche zum Advent anspricht.