„Geheimnis des Glaubens“
Gott wird Mensch – alles gerät in Bewegung
Predigttext: 1. Timotheus 3,16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Und groß ist, wie jedermann bekennen muß, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.
(Eigene Übersetzung Hartmut Friedrich)
Und anerkanntermaßen groß ist das Geheimnis des Glaubens:
der offenbart worden ist im Fleisch,
gerecht gemacht im Geist,
gesehen von Engeln,
verkündigt den Völkern,
geglaubt in der Welt,
emporgehoben in Herrlichkeit.
Einführung in den Predigttext
„Geheimnis des Glaubens“ ist gleichsam die Überschrift dieses Textes, der eine Art Christus-Hymnus ist. Wörtlich korrekter wäre „Geheimnis der Frömmigkeit“. Der dann folgende Satz ist eigentlich nur ein Nebensatz, ein Relativsatz ohne Hauptsatz. Viele Textzeugen haben statt „der offenbart worden ist im Fleisch“: „das offenbart worden ist im Fleisch“. Die meisten Ausleger halten es aber mit der schwierigen Lesart. Dem schließe ich mich an. Es ist allzu deutlich, dass es im Folgenden um Christus geht, nicht um das Geheimnis.
Der Hymnus hat eine 3-fache chiastische Struktur und changiert zwischen Erde und Himmel: Fleisch – Geist; Engel – Völker; Welt – Herrlichkeit. So wird kunstvoll Christus besungen, der zwischen Himmel und Erde verbindet, vermittelt. Alle Verbformen im Hymnus stehen im Griechischen im Passiv und haben die gleiche Endung, bilden also einen Reim. Im Deutschen lässt sich das leider gar nicht deutlich machen. Inhaltlich stellt das heraus: Gott ist hier der Handelnde.
Formal wird das Ganze durch seine grammatikalische (unvollständiger Satz) und chiastische Struktur sowie durch den Reim bei den Verbformen zu einem Gedicht, das fast modern anmutet. Der Hymnus erzählt in verdichteter Form den Lebensweg Jesu nach, von der Geburt bis zur Himmelfahrt. Zu jeder Aussage ließen sich Bibelstellen zur Entfaltung anführen. Die Tatsache, dass alle Verben passiv gehalten sind, könnte man sogar als Hinweis auf die Passion Jesu sehen. (Passiv – Passion)
In der Predigt gehe ich von der Überschrift „Geheimnis“ aus. Warum hören wir an Weihnachten immer die gleiche Geschichte, singen die gleichen Lieder? Unterstellt, dass das zwar auch Gewohnheit ist, aber eben nicht nur Gewohnheit, gehe ich davon aus, dass es das Geheimnis dieser Nacht ist, das immer wieder anzieht. In den altbekannten Wörtern und Lieder steckt immer noch Unergründetes, Unergründbares. So hoffe ich, die Menschen auf ihre hinter der Oberfläche verborgenen Beweggründe, an Weihnachten den Gottesdienst zu besuchen, hin anzusprechen und zum Nachdenken anzuregen. Sodann konzentriere ich mich zum einen auf die irdisch-himmlische Struktur des Hymnus. Sie macht den Hymnus zu einem weihnachtlichen, auch wenn das erst mit dem zweiten Blick zu erkennen ist. Zum anderen konzentriere ich mich auf die Verben, die allesamt im Passiv stehen. Hier wird an Christus etwas getan, ihm widerfährt etwas. Und für uns gilt das erst recht! An Weihnachten widerfährt uns etwas, ohne dass wir dazu etwas bewerkstelligen könnten. Und damit sind wir auch von dem Druck befreit, etwas bewerkstelligen zu müssen.
Wie die Tür zum Weihnachtszimmer den Ausblick auf die Geschenke hin öffnet, so öffnet der Predigttext die Tür zum Geheimnis des Glaubens, hier: zum Geheimnis des Weihnachtswunders. Die Übersetzung orientiert sich an der Martin Luthers, geht aber an einigen Stellen eigene Wege. Ich bleibe bei: „Geheimnis des Glaubens“, weil „Geheimnis der Frömmigkeit“ doch sehr nach Insider-Sprache klingt.
Lieder
„Nun singet und seid froh“ (EG 35)
„Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37)
„Komm und lasst uns Christus ehren“ (EG 39)
„Jauchzet ihr Himmel“ (EG 41)
„Herbei, o ihr Gläub´gen“ (EG 45)
Literatur
Joachim Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (zusammen mit August Strobel), NTD 9, Göttingen 1981. - Petra Bahr, Hymnischer Glanz in Heiliger Nacht, in: GPM 2013/11, S. 36ff. - Klaus Müller, Vom „offenen“ Geheimnis reden, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Dialog, Weihenzell 2013, S. 25ff.
Immer die gleiche Geschichte
Die Krippe, wie hier auf dem Altar: Gefühlt haben wir das schon tausendmal gesehen. Ebenso die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium: gefühlt tausendmal gehört. Und doch kommen jedes Jahr wieder so viele Menschen, um sich dieses vertraute Bild neu anzusehen, um diese vertraute, altbekannte Geschichte noch einmal zu hören. Das ist gegen jeden Trend. Wie schnell sind sie veraltet und niemand mehr will etwas von ihnen wissen: Musikbands, Modewörter, Smartphones, PC und vieles mehr. Es ist eine schnelllebige Zeit. Nur einmal scheint die Zeit stillzustehen, heute, in diesen Tagen, in dieser Nacht. Immer wieder lassen wir uns gerade von dieser alten Geschichte anziehen, wollen gerade sie hören. Da ist etwas besonders. Da ist etwas anders. Da ist etwas Geheimnisvolles. Und mit diesem Stichwort, Geheimnis, sind wir bei dem heutigen Predigttext: (Lesung).
Bewegung zwischen Himmel und Erde
Wenn die Weihnachtsgeschichte wie vertrautes, anheimelndes Gelände ist, dann ist der Predigttext dagegen wie eine dürre Wüste, hört sich an wie eine Ansammlung dogmatischer Richtigkeiten. Jedenfalls beim ersten Blick, beim ersten Hören. Bei genauerer Wahrnehmung jedoch entpuppt er sich als Gedicht. Deswegen die Wortkargheit. Der Hauptteil, der beginnt mit „der offenbart worden ist“, ist ein Nebensatz. Man erwartet noch einen Hauptsatz. Aber der kommt nicht.
Ein Gedicht über das Geheimnis des Glaubens. Das gehört zum Wesen eines Geheimnisses: darin ist etwas verborgen, das mehr ist, als wir mit unseren Worten sagen können. Aus dieser Verlegenheit will unser Predigttext nicht herausführen, indem er viele Worte benutzt. Er steckt vielmehr das Geheimnis mit wenigen Worten ab. Die aber haben es in sich. Da ist ein ständiger Wechsel zwischen Himmel und Erde: Fleisch und Geist, Engel und Völker, Welt und Herrlichkeit. So vollzieht unser Predigttext nach, dass Gott in dem neugeborenen Jesus als Mensch zur Welt kommt. Nicht nur dass er offenbart worden ist im Fleisch, nein, das hat Folgen: da ist einfach alles in Bewegung zwischen Erde und Himmel. Nun sind wir nicht mehr allein auf der Erde. Die sauberen Einteilungen, hier unten das Irdische, dort oben das Himmlische, funktionieren nicht mehr. Das Irdische wird himmlisch, und das Himmlische wird irdisch. So ist das, wenn Gott Mensch wird. Da gerät alles in Bewegung und aus den Fugen.
Uns Menschen verwirrt das. Und gleichzeitig zieht es uns an. Gott wird Mensch. Das passt doch nicht zusammen, passt in keine Logik. Und doch spricht uns da eben was an. Deswegen sind wir heute hier. So viele Kinder werden auf der Welt geboren, jeden Tag. Warum lassen wir uns immer wieder anziehen und in Staunen versetzen durch die Geschichte von der Geburt dieses einen Kindes? Vielleicht gerade weil hier unsere Logik außer Kraft gesetzt wird, weil ihr hier was entgegen gesetzt wird. Weil wir spüren: gerade das braucht die Welt, dass sie nicht sich selbst überlassen bleibt. Dass da etwas Neues, Fremdes, Göttliches in sie hinein kommt. Auch wenn dabei die Grenzen der Logik überschritten werden und die Grenzen unserer Möglichkeiten, zu verstehen. Wo Gott in die Welt kommt, sind wir eben auch nicht mehr nur unserer Logik, unserem Verstand überlassen und ausgesetzt. Geheimnis heißt: einen Blick erhaschen auf das, was unseren Verstand übersteigt.
Heilsam mit aller Kunst am Ende
Das Gedicht hat es in sich. Das gilt auch für folgende Beobachtung: er ist offenbart worden im Fleisch, gerecht gemacht im Geist, gesehen von Engeln, verkündigt den Völkern, geglaubt in der Welt, emporgehoben in Herrlichkeit. Das alles wird ja von Christus gesagt. Seine Geschichte wird da verdichtet nacherzählt. Man könnte zu jeder dieser Stellen ausführlichere Bibeltexte betrachten. Aber mir ist wichtig: alles ist passiv. Es wird an dem Kind in der Krippe gehandelt. Es geschieht ihm etwas. So wie auch Maria und Josef nur geschehen lassen können, was ihnen widerfährt. Wir merken, wie kunstvoll dieses Gedicht formuliert ist: die Hauptaussage findet sich in einem Nebensatz, der nicht vervollständigt wird. Dem entspricht nun dies: die Hauptperson selbst tut nichts. An ihm geschieht etwas, ihm widerfährt etwas. Die Hauptperson, Jesus Christus, der ja nach dem Glauben schon der frühen Christen der Sohn Gottes ist, und damit selbst göttlich, ist völlig passiv. Tut nichts. Auch hier werden unsere gewohnten Muster und Logiken durchbrochen. Die Hauptpersonen im Film sind, bis auf wenige Ausnahmen, voller Action.
Hier aber ist einer völlig passiv. Und er ist einer von uns. In seiner Passivität begegnen wir unserer eigenen Rolle dieser Weihnachtsgeschichte gegenüber: uns wird erzählt, wir werden in Staunen versetzt. Wir begegnen hier etwas, was nicht handhabbar ist, was wir nicht bewerkstelligen können. Wir können es hören, aufnehmen. Aber dass dieses Kind geboren wird, dass in ihm sich Gott den Menschen zeigt, dazu können wir einfach nichts tun. Alles, was dort geschieht, können wir uns nur getan sein lassen. Das ist sehr ungewohnt. Aber so werden wir von dem Wahn befreit, ständig aktiv sein zu müssen, auf Alles Einfluss nehmen zu können, von dem Wahn, alles hinge von uns ab. Nein, heute können wir uns zurücklehnen und es einfach über uns ergehen lassen. Heute ist im wahrsten Sinne ein Feiertag, an dem die Arbeit ruht. Aber Sinn macht das nur, wenn das nachhaltig ist. Wenn wir durch das Weihnachtsfest, durch diese Worte aus dem 1. Timotheusbrief angestoßen werden, ein anderes Verhältnis zu unserer Arbeit, zu unserer Aktion und unserem Aktionismus, und – zu unserem Bedürfnis nach Ruhe zu gewinnen. Und das an allen Tagen. In diesem Kind in der Krippe sehen wir uns als Kinder Gottes, die von dem her leben, was Gott ihnen zukommen lässt. Wir sind nicht selbst die Quelle unseres Lebens. Gott ist die Quelle unseres Lebens.
Die Tür zum Geheimnis steht offen
Das Geheimnis des Glaubens: es ist auch mit dieser Predigt nicht ergründet. Es lässt sich nicht ergründen. Das unterscheidet ein Geheimnis von einem Rätsel. Ein Rätsel lässt sich auflösen. Danach ist es langweilig. Ein Geheimnis ist etwas zum Nachspüren, Hineingehen wie in ein großes Schloss. So oft wir darin sind: wir entdecken jedes Mal Neues. Wir werden nie fertig. Jedes Jahr hören wir die Weihnachtsgeschichte, singen die altbekannten Lieder. Und jedes Jahr machen es diese Lieder hell und warm in unseren Herzen. Jedes Jahr macht es uns froh, wieder dieser Geschichte zu begegnen, diesem Kind in der Krippe. Wenn das nur Kitsch und Sentimentalität wäre, dann wäre das alles schon längst nicht mehr am Leben. Aber an Weihnachten wird uns die Tür geöffnet hinein in das große Geheimnis des Glaubens, in das Geheimnis Gottes und der Welt. Wir spüren darin das Verborgene, von uns nicht zu Ergründende. Und genau das ist wie ein wärmendes Feuer, wie ein Licht in der Finsternis, wie ein Leben spendender Fluss in der Wüste.
Sehr geschickt und tiefsinnig interessiert Pfarrer Friedrich von Anfang an mit einem abstrakten und damit schwierigen Predigttext für Heiligabend? Die Gemeinde erwartet gewöhnlich eine Predigt über das Jesuskind in der Krippe, die Hirten und Engel und Könige. Der Prediger schließt den anspruchsvollen Timotheus-Text auf. Er zieht ansprechend hinein in das Geheimnis von Weihnachten. Die Dialektik dabei von Welt und Herrlichkeit, Mensch und Gott. Engel und Völker wird zu einer Bewegung zwischen Himmel und Erde. Das Weihnachts-Geheimnis ist groß und faszinierend und übersteigt unseren Verstand. Ohne unseren Aktionismus können wir durch das Gotteskind in der Krippe uns selbst als Kinder Gottes sehen und leben von dem, was Gott uns schenkt. Das Geheimnis des Glaubens ist kein Rätsel, das wir lösen können. Aber wir können in das Weihnachtsgeheimnis hineingehen wie in ein großes, zauberhaftes Schloss. Mit der Weihnachtsgeschichte und den Liedern wird die Tür zum Wesen Gottes und zum Leben mit Gott und Jesus geöffnet. Eine überraschend interessante und geistig anregende und tröstliche Predigt zum immer gleichen Thema Weihnachten.