An Gottes Hand

Neujahr 2014 – Vergangenes bewusst machen, mitnehmen, was stärkte

Predigttext: Philipper 4,10-20
Kirche / Ort: 26721 Emden / Ostfriesland
Datum: 01.01.2014
Kirchenjahr: Neujahrstag
Autor/in: Dipl.-Theol. Pfarrerin Christiane Borchers

Predigttext: Philipper 4,10-20 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

10 Ich bin aber hoch erfreut in dem Herrn, daß ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat's nicht zugelassen.  11 Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht.  12 Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluß haben und Mangel leiden;  13 ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.  14 Doch ihr habt wohl daran getan, daß ihr euch meiner Bedrängnis angenommen habt.  15 Denn ihr Philipper wißt, daß am Anfang meiner Predigt des Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft gehabt hat im Geben und Nehmen als ihr allein.  16 Denn auch nach Thessalonich habt ihr etwas gesandt für meinen Bedarf, einmal und danach noch einmal.  17 Nicht, daß ich das Geschenk suche, sondern ich suche die Frucht, damit sie euch reichlich angerechnet wird.  18 Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluß. Ich habe in Fülle, nachdem ich durch Epaphroditus empfangen habe, was von euch gekommen ist: ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig.  19 Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus.  20 Gott aber, unserm Vater, sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Homiletisch-exegetische Vorüberlegungen

Der Abfassungsort des Philipperbriefes ist nicht eindeutig zu lokalisieren. In der älteren Forschung wird Rom angenommen, einiges spricht dafür: Paulus trägt Fesseln für Christus, das sei im ganzen Prätorium bekannt (Phil 1,13). Der Briefschluss passt zu dem Verfassungsort Rom: Es grüßen euch die Heiligen, besonders aber die aus dem Haus des Kaisers (Phil 4,22). Es gibt auch Argumente, die dagegen sprechen. Paulus äußert den Wunsch, die Gemeinde demnächst in Philippi zu besuchen (Phil 1,26; 2,24). Seine Gefangenschaft, seine ursprüngliche Planung und die Entfernung von Rom nach Philippi ( ca. 1000 km) machen dieses Vorhaben von Rom aus schwierig. Als Verfassungsort kommt noch Ephesus in Frage. Auch dort ist er in tödlicher Gefahr gewesen (vgl . Kor 15,32), Ephesus liegt erheblich näher an Philippi als Rom an Philippi. Neuerdings wird wieder als Verfassungsort Rom favorisiert (Udo Schnelle). Dann hätte Paulus seinen Brief ca. 60 n. Chr. geschrieben, und es wäre sein letzter authentische Brief. Die literarische Gattung "Gefängnisbrief" zeugt von einer hohen Emotionalität. Neben der fast sachlich anmutenden Beschreibung der Haftbedingungen leuchtet die persönliche Beziehung des Verfassers zu den Adressaten auf. Gefängnisbriefe in der jüngeren Vergangenheit, z. B. aus dem Dritten Reich, haben eine besondere Intensität.

Paulus verkörpert auch in seiner Haft eine innere Autarkie. Magdalene Frettlöh spricht von einer beziehungsreichen Autarkie (Magdalene Frettlöh, Neujahrstag, Phil 4,10-20 in GPM 62 [2007/2008]), die bestimmt ist von seiner Beziehung zu Christus und von seiner Beziehung zu der Gemeinde in Philippi. Mit einer stoischen bedürfnislosen Haltung hat das nichts zu tun. Paulus behält seine innere Freiheit, leugnet seine Bedürfnisse nicht, weiß sich in der Beziehung gehalten. Neujahr ist fast ein Kasus, der in der Predigt angesprochen werden sollte. GottesdienstbesucherInnen möchten in ihrer Befindlichkeit abgeholt werden. Das neue Jahr symbolisiert einen Neuanfang, die Zukunft ist offen. Vertrauen und Zuversicht sind in Gott und Christus begründet.

 

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Das neue Jahr liegt vor uns. Wie eine unberührte Schneelandschaft ohne eingedrückte Spuren breitet es sich vor uns aus und bietet alles an Möglichkeiten. So scheint es zumindest: Das neue Jahr ist wirklich neu, frisch, jung, unverbraucht. Auch wenn das alte Jahr nun vergangen ist, so sind wir dennoch nicht unbeeinflusst von dem, was es uns gebracht hat, ebenso wie von dem, was sich in den Jahren zuvor ereignete. Wir gehen nicht als vollkommen neue Menschen ins neue Jahr: Unsere Lebensgeschichte, das, was uns prägte, nehmen wir mit. Mit dem neuen Jahr legen wir nicht unsere persönliche Geschichte ab und unsere Persönlichkeit, aber wir sollen auch wissen, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es war und ist, es gibt Neuanfänge und Veränderungen. Das neue Jahr, wenngleich nur ein künstliches Datum, ist ein guter Anlass, sich Vergangenes bewusst zu machen; das mitzunehmen, was stärkte, und das hinter sich zu lassen, was erdrückte. Das neue Jahr ist eine gute Gelegenheit, einen wachen Blick für Neues mit seinen Chancen und Möglichkeiten zu entwickeln. Das neue Jahr wird uns Neues bringen, es birgt Chancen in sich, vielleicht aus Risiken.

Für Neujahr hören wir auf Worte aus dem Philipperbrief. Der Philipperbrief wird in der Forschung der Freudenbrief des Paulus genannt. Paulus ist mit der von ihm gegründeten Gemeinde in Philippi höchst zufrieden. Die Ältesten der christlichen Gemeinde und die Gemeindeglieder halten standhaft an Christus und seiner Botschaft fest und verhalten sich vorbildlich. In seinem Brief schreibt Paulus hauptsächlich von der Freude. Der ganze Brief ist von der Freude des Apostel durchdrungen; er ermuntert die Philipper, sich ebenfalls zu freuen. Die Freude des Apostels ist vorherrschend, obwohl seine Lage alles andere als erfreulich ist. Als er diesen Brief schreibt, sitzt er im Gefängnis. Wie so oft ist er wegen der Verkündigung des Evangeliums eingesperrt worden. Er schreibt ihn wahrscheinlich von Rom aus (vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das NT, Göttingen, 2011). In Rom verliert sich die Spur des Paulus. Es ist anzunehmen, dass er dort zum Tode verurteilt wurde. Der Brief an die Philipper wäre dann sein letzter Brief überhaupt. Paulus schreibt seine letzten Zeilen aus dem Gefängnis. Unter diesem Aspekt haben sie noch einmal besonderes Gewicht und besondere Bedeutung. Sie sind so etwas wie ein Vermächtnis. Obwohl Paulus viel von der Freude spricht, verhehlt er seine schwierige Lage doch nicht. Er wird Schweres erlitten haben: zermürbende Verhöre, Beschuldigungen, Schmähungen, Schläge. „Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“, schreibt er, „ … es setzt mir beides hart zu. Ich habe Lust aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was viel besser ist (Phil 1,21ff.).“

Aus diesen wenigen Worten lässt  sich schließen, dass er manchmal müde war, seinen Weg weiter zu gehen, dass er für das Evangelium körperlich hat leiden müssen, und dass es ihm manchmal genug war. In dem Freudenbrief steckt viel erfahrenes Leid: körperliches und seelisches. Als Gefängnisinsasse ist er der Willkür der Aufseher und Machthaber ausgeliefert. Paulus’ Lage ist eine äußerst schwierige. Das Gefängnis wird er nicht mehr lebend verlassen. Mich verwundert es, dass er trotz seiner Situation so häufig und authentisch von der Freude spricht. „Was tut’s aber, wenn nur Christus verkündigt wird (Phil 1,18).“ Das ist ihm die Hauptsache. „Freut euch im Herrn… Dass ich euch immer dasselbe schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch umso gewisser (Phil 3,1).“ Und sich selber auch, füge ich in Gedanken hinzu. Paulus behält einen klaren Blick. In seiner schwierigen, gar ausweglosen Situation lenkt er seinen Blick auf Christus und auf die Gemeinde. Er findet Trost in Christus und in der Anteilnahme der Gemeindeglieder in Philippi. Paulus ist im Moment sogar hocherfreut. Gemeindeglieder aus Philippi haben ihm Gaben ins Gefängnis gesandt. Das lässt sein Herz höher schlagen. Das heißt doch, sie haben ihn nicht vergessen. Die materiellen Dinge sind wichtig, für ihn im Gefängnis wahrscheinlich überlebenswichtig, denn die Bedingungen im Gefängnis im alten Rom sind schlecht. Wenn ein Gefangener ein Paket bekommt, so ist das weit mehr als nur etwas zu essen zu bekommen. In die materielle Gabe sind alle Zuwendung und Verbundenheit hineinverwoben. Die materielle Gabe ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass der Empfänger nicht vergessen ist. Nicht vergessen zu werden, ist existentiell bedeutsam für jemanden, der in große Not und Bedrängnis geraten ist. Wer vergessen wird, dem kommt letztendlich jede Hoffnung abhanden. Was bleibt ist die Einsamkeit, die erst in den seelischen und dann in den physischen Tod führt.

Paulus freut sich, dass er nicht vergessen wird, – die Philipper sorgen für ihn. Er freut sich auch über die materielle Gabe, er erkennt an, dass er Bedürfnisse hat. Paulus hat in seinem Leben viel erfahren. Er weiß, was Mangel ist, und hat gelernt genügsam zu sein. Es hat auch Zeiten gegeben, in denen er im Überfluss lebte. Er kennt beides: Entbehrung und Überfluss, Hungern und Sattsein. Er hat gelernt, damit umzugehen. Christus gibt ihm die Kraft, auch mit dem Mangel fertig zu werden. Paulus ist einer, der in seinem Leben zu Weisheit und Erkenntnis gelangt ist. Über die Gabe und die Verbundenheit der Philipper ist der Apostel hocherfreut. Er empfindet die Gabe als „lieblichen Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig“ (Phil 4,18).  Die Priester des ersten Testaments vollziehen das Opfer. Gott erfreut sich an einem wohlgefälligen Opfer, weil es eine Antwort auf seine Leben stiftenden Gebote ist, und lässt sich den Duft in die Nase ziehen. Gott wird hier anthropomorph gedacht. Er ist – wie ein Mensch – ausgestattet mit Sinnen. Er hat eine Nase, die riechen kann. Die Gabe, die Paulus von den Philippern erhalten hat, fasst er als ein Opfer auf, an dem Gott Gefallen hat. Gott hat Gefallen an solchen Gaben. Menschen, die in Not sind, die einsam, verlassen und allein sind, bedürfen neben der materiellen Versorgung ein Zeichen der Gemeinschaft und Verbundenheit. Die Freude am Geben und am Nehmen erhalten eine Beziehung lebendig. Es gibt eine Verbundenheit, die sich an Dinge hält, und Dinge, die Verbundenheit  enthalten. An den Dingen kann eine Beziehung haften.

Weihnachten ist noch nicht lange her. Weihnachten werden Pakete verschickt, früher viel mehr als heute. Ich erinnere mich an Heilig Abend in meiner Kindheit. Ein Höhepunkt am Heiligen Abend bestand darin, das Paket, das wir jedes Jahr zu Weihnachten aus Amerika von unseren Verwandten bekamen, unter dem Weihnachtsbaum auszupacken. Die Freude über die Geschenke war groß, bei meinen Eltern und meiner Großmutter und bei uns Kindern. Wir spürten durch die Geschenke hindurch die Verbundenheit zu unseren Verwandten in der Ferne. Wer Verwandte in der ehemaligen DDR hatte, schickte ihnen liebevoll gepackte Pakete mit Kaffee und Schokolade. Es war ihnen ein Zeichen: Die Verbindung bleibt, auch über die nahezu unüberwindliche Grenze hinweg. Den Gaben mutet ein lieblicher Duft an, selbst dann, wenn die Gabe nicht duftet wie Kaffee oder Schokolade. Gaben, die ein äußeres Zeichen für eine innere Beziehung sind, erfreuen das Herz und lassen die Seele hüpfen. Sie sind ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig.

Paulus ist hocherfreut über die gottwohlgefälligen Gaben der Philipper. Selbst in den dunklen Mauern eines Gefängnisses leuchtet manchmal die Freudensonne. Persönliche Gaben, persönliche Pakete schenken Freude. Das gilt umso mehr, wenn jemand im Gefängnis einsitzt. Gefangene fürchten sich besonders, vergessen zu sein. Inhaftierte leiden verstärkt darunter, wenn die Beziehungen abbrechen. Die Kontakte zu ihren Lieben werden lebensnotwendig, damit sie die Haft besser durchstehen. Laut dem deutschen Strafgesetz § 33 ist es einem Strafgefangenen gestattet, dreimal im Jahr in angemessenem Abstand ein Paket mit Nahrungsmitteln und Genussmitteln zu empfangen: Das ist in der Regel zu Weihachten, zu Ostern und am Geburtstag. Der Gefangene darf auch selbst ein Paket versenden. Das ist ein menschlicher barmherziger Akt. Im Justizvollzug können einem Gefangenen diese Rechte genommen werden, wenn die Sicherheit dadurch gefährdet ist. In fünf Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen) ist es seit jüngster Zeit ganz verboten, Pakete zu empfangen oder zu schicken. Das Verbot wird damit begründet, dass der Verwaltungsaufwand für die Durchsuchung der Pakete zu groß ist. Statt des Paketversands werden Geldüberweisungen empfohlen. Aber eine Geldüberweisung kann nicht die Zuwendung und die Verbundenheit übermitteln, die ein liebevoll gepacktes Paket mit Kaffee, Schokolade und selbstgestrickten Strümpfen überbringt. Einer profanen Geldüberweisung haftet erst recht kein lieblicher Geruch an. Der liebliche Geruch, das Fluidum, das von einer liebevoll gepackten Gabe ausgeht, wird von dem Empfangenden wahr-genommen. Pakete – besonders diejenigen, die ins Gefängnis gesandt werden – haben ihre eigene Botschaft. Bekannt geworden sind die Zeilen von Dietrich Bonhoefer. Er schreibt am Heiligen Abend 1943 an seine Verlobte Maria von Wedemeyer: „Ich erhielt dein Paket heute Mittag als große Überraschung. Für den baumwollenen Pullover, der doch nur von dir gestrickt sein kann, habe ich dir noch gar nicht gedankt. Ich habe ihn vor Freude gleich angezogen. Er ist so warm und leicht zugleich (Brautbriefe Zelle 92: 1943-1945/Dietrich Bonhoefer/Maria von Wedemeyer, hrsg. von Ruth Alice von Bismarck/Ulrich Kabitz, München 1922, 103f.).“ Die Botschaft ist angekommen, seine Braut denkt an ihn, er ist nicht vergessen, ihm wird ganz warm und leicht. Er atmet den Duft seiner Liebsten, trägt den Pullover, den sie selbst in Händen gehalten hat.

Trotz Entbehrung, Mangel und Hunger an Freundlichkeit und Barmherzigkeit in seinen Tagen im Gefängnis erfährt er Überfluss und Sattsein durch Verbundenheit von einer Frau, die ihn liebt. Wie Paulus ist er – obwohl er im Gefängnis sitzt und nichts Gutes zu erwarten hat – hocherfreut, weil Menschen an ihn denken und er nicht allein ist. Überschwänglich ist die Freude, die Paulus empfindet über die Gaben und die Zuwendung der Philipper. „Mein Gott … wird all eurem Mangel abhelfen”, schreibt er ihnen, und euch den Reichtum der Herrlichkeit in Christus Jesus schenken (vgl. Phil 4,19). Ewige Freuden wird er ihnen zuteil werden lassen im Reich Gottes. „Gott sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit (Phil 4,20)“, so die letzten Worte des Briefes an die Philipper, abgesehen von den folgenden Grüßen. Dann hören wir nichts mehr von Paulus, dem Apostel Christi, der das Evangelium zu den Heiden nach Europa gebracht hat. Der Brief an die Philipper ist – neben einem Dank- und Freudenbrief –  ein Abschiedsbrief aus dem Gefängnis. Gott und Jesus Christus behalten bei ihm die Ehre, unabhängig davon, in welcher Situation er sich in seinem Leben befunden hat: ob er gefangen oder frei war, ob er gelitten oder sich gefreut hat, ob er Mangel oder Fülle erfuhr. Paulus hat das Evangelium verkündet und sich in Gottes Hand begeben. Er hat sich ihm anvertraut und sich führen lassen auf einen Weg, von dem er nicht wusste, wohin er führen wird. Gott hat ihn an die Hand genommen, er hat ihn geleitet und geführt, gehalten und, wo nötig, auch getragen. Das neue Jahr liegt vor uns: neu, jung, frisch und unverbraucht. Mit unseren persönlichen Erfahrungen von Höhen und Tiefen, von Hungern und Sattsein, von Mangel und Fülle nehmen wir es aus Gottes Hand entgegen und lassen uns führen auf einen Weg, den Gott kennt.

 

 

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