Glaubenswege
Der Glaube gibt sich mit dieser Welt und Wirklichkeit nicht zufrieden
Predigt: Hebräer 12,12-25 (Übersetzung nach Martin Luther, Rev. 1984)
Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie unrein werden; dass nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte. Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte. Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berg, den man anrühren konnte und der mit Feuer brannte, und nicht in Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter und nicht zum Schall der Posaune und zum Ertönen der Worte, bei denen die Hörer baten, dass ihnen keine Worte mehr gesagt würden; denn sie konnten's nicht ertragen, was da gesagt wurde (2.Mose 19,13): »Und auch wenn ein Tier den Berg anrührt, soll es gesteinigt werden.« Und so schrecklich war die Erscheinung, dass Mose sprach (5.Mose 9,19): »Ich bin erschrocken und zittere.« Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut. Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den abwiesen, der auf Erden redete, wie viel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel redet.
Nackt kauert der muskulöse, gut durchtrainierte junge Mann auf einem unbehauenen Stein. Den schweren Kopf hat er vor die Brust gesenkt. Den rechten Ellenbogen stützt er auf den linken Oberschenkel, und die Hand hilft dem sinkenden Kinn. Die Linke hat er locker über das Knie gelegt. Der junge Mann ist in sich gekehrt; sein Blick geht ins Leere. Wie ein Tier sich im Schlaf zusammenrollt, so sitzt er auf dem Stein. Er scheint zu grübeln. Er denkt. Brütet seine Ideen aus. So stellt sich französische Bildhauer Auguste Rodin in einer seiner berühmtesten Skulpturen einen Denker vor. Der Denker wendet sich von der Welt ab und taucht in sich selbst hinein, in die eigene Vorstellungswelt, um dann irgendwann aufzustehen und zu energisch handeln – oder auch nicht. Rodins Denker hat sich zurückgezogen in die Einsamkeit. Still und verletzbar verfolgt er seine Gedanken. Und wer ihn anschaut, der weiß nicht genau, ob er Pläne verfolgt, die er sofort umsetzen will, oder ob er einer Traurigkeit nachgrübelt.
Auguste Rodin zeigt in seinem “Denker”, wie der unsichtbare Wille und der Geist eines Menschen seinen Körper formt. Der Bildhauer brachte es zu großer Meisterschaft darin, die innere Tätigkeit einer Figur in seiner äußeren Körperhaltung auszudrücken. Rodins “Denker” weist Innerlichkeit, Konzentration und Intensität aus. Wer diese lebensgroße Figur betrachtet, erschließt das alles aus der ganz eigenen Haltung des bronzenen Körpers. Wer dazu begabt ist, könnte auch aus der vorgelesenen Passage des Hebräerbriefs eine Bronzefigur gießen. Aber sie wäre kein in sich gekehrter, zurückgezogener Denker, sondern ein – Läufer, ein Fußgänger. Glaube – so der Hebräerbrief – bringt in Bewegung. Glauben ist zuallererst ein Laufen. Läufer haben die Arme angewinkelt, um mit Schaukelbewegungen die Beine zu unterstützen. Beim Laufen fliegt – anders als beim Gehen – stets ein Bein in der Luft, während sich das andere vom Boden abstößt. Die Knie sind nur einen Moment lang gestreckt, bevor sie sich wieder anwinkeln. Läufer müssen sich konzentrieren, nicht auf die Laufbewegungen der Beine, denn die sind ihnen von Kindheit an in Fleisch und Blut übergegangen.
Läufer konzentrieren sich auf den Weg. Sie achten darauf, nicht zu stolpern. Damit die Füße fest auftreten können, dürfen die Knie nicht schlottern. Wer mit “sicheren Füßen” auf den Boden treten will, dessen Knie dürfen nicht “wanken”, sagt der Hebräerbrief. Läufer verfolgen ein bestimmtes Ziel. Flüchtende wollen sich von einer Gefahrenquelle so schnell wie möglich entfernen. Kletterer steigen zum Gipfelkreuz hoch. Wanderer erreichen über Feld- und Waldwege eine Hütte, eine Burg, einen Aussichtsturm.
Gehen ist der äußere Ausdruck inneren Glaubens. Am sinnfälligsten wird das in der Figur des Pilgers, nicht nur in der christlichen Religion. Im Islam gehört die Pilgerreise nach Mekka zu den fünf Säulen, die das Leben eines Muslim prägen. Nicht nur christliche Pilger wandern seit dem Mittelalter bis in die Gegenwart durch ganz Europa nach Santiago de Compostela, um dort das Pilgerzeichen der Jakobsmuschel zu empfangen.
Denker versenken sich bewußt in den Innenraum der eigenen Vorstellungen. Ihre Kreativität lebt davon, daß sie sich von der Welt abwenden. Sie lassen sich nicht ablenken. Geher und Glaubende, die in Bewegung sind, nehmen dagegen die Welt besonders intensiv wahr. Deswegen fällt ihnen Not und Elend, Streit und Nachteil eher auf als anderen. Sie können sich einsetzen. Wer geht, der kann auch stolpern. Und er merkt dann schnell, wie gut es tut, sich von den Begleitern helfen zu lassen. Der Gang des Glaubens zielt auf eine Kultur des Friedens und der Versöhnung. Das ist eine große Aufgabe, die konfliktträchtige Gemeinschaft von Menschen auf die Spur des Friedens zu bringen. Jagt dem Frieden nach, sagt der Hebräerbrief. Auch das Jagen enthält Bewegung. Wer Frieden stiften will, muß sich anstrengen, ihn zu finden. Ohne Vertrauen in Gott und ohne Bereitschaft zur Versöhnung ist er schnell wieder verschwunden.
Wer sich bewegt und hoffnungsvoll ein Ziel sucht, der ist auf dieser Welt nicht ganz zuhause. Der Träge glaubt, schon in dieser Welt seine Heimat gefunden zu haben; er muß sich nicht mehr bewegen. Er kann sich dort niederlassen, wo er seine Heimat gefunden hat. Der Glaube gibt sich mit dieser Welt und Wirklichkeit nicht zufrieden. Er entdeckt Abgründe an Ungerechtigkeit, an fehlender Solidarität, an schlimmem Leid, an still ertragener Verzweiflung, an Krankheit, die verhindert werden könnte. Wo Leiden und Unheil herrschen, ist noch keine Versöhnung möglich. Der Abgrund zwischen dem, was ist, und der Versöhnung, die sein könnte, bewegt den Glaubenden. Sie brechen stets neu auf wie die biblischen Wanderer Abraham und Mose. Sie folgten den Verheißungen Gottes und machten sich auf ins gelobte Land. Und sie fanden dieses Land schließlich. Wer glaubend in Bewegung kommt, tut dies aus der Überzeugung heraus, daß das endgültige Reich Gottes noch aussteht. Glaube verbindet sich mit der unstillbaren Hoffnung auf Gerechtigkeit und Versöhnung.
Wer sich so auf den Weg macht, der stößt aber auch auf Hindernisse, Irrwege und Ablenkungen. Wer über Tage und Jahre den Weg des Glaubens sucht, der begegnet den steilen Bergen des Zweifels, den Hängebrücken des Kinderglaubens, die so leicht einreißen, und den engen Schluchten der Verzweiflung. Der glaubende Wanderer weiß, daß man steile Gebirge umgehen kann, auch wenn der Umweg vielleicht viel Zeit kostet. Niemand ist gezwungen, sich stets auf die einsturzgefährdeten Hängebrücken des Kinderglaubens zu verlassen. Glaube, der erwachsen und reif geworden ist, kann die Hilfskonstruktionen der Kindheit hinter sich lassen und überwinden. Und die engen Schluchten der Verzweiflung nehmen dem Glaubenden die Sicht. Sie rauben ihm die Hoffnung, weil der Horizont des Reiches Gottes aus dem Blickfeld verschwunden ist. Doch auch eine Schlucht kommt einmal an ein Ende, und dann weitet sich der Blick wieder. Die Durststrecke hat ein Ende genommen. jeder glaubende Wanderer kann darauf vertrauen: Wer sich sicher ist, daß er die falsche Abzweigung genommen hat und auf einem Irrweg gelandet ist, der kann stets umkehren auf den Weg in Gottes Reich. Solche Umkehr kostet Zeit, aber diese ist nicht vergebens. Der Hebräerbrief bestreitet, daß Glaubende umkehren können. Er nimmt Esau, den Sohn Isaaks als Beispiel. Der hat den Segen des Erstgeburtsrechts bekanntlich für ein Linsengericht verkauft. Das heißt aber nicht, daß er deswegen endgültig verdammt würde. Umkehr ist möglich – jederzeit und an jedem Ort.
Gefahren, Irrwege und Ablenkungen lauern überall, auch im Herzen des Glaubenden selbst. Wer glaubend durch die Welt geht, der wird auch einmal müde. Die Kraft für den nächsten Schritt versiegt. Der Glaubende hat sich zu große Wegstrecken zugemutet. Der Berg ist zu steil oder zu glatt, als daß man ihn bezwingen könnte. Der Geher hat zu wenig Pausen eingelegt, und nun lähmt ihn die Erschöpfung und zwingt ihn zu einer langen Pause. Wer glaubt, der macht regelmäßig die Erfahrung des Zweifelns. Darüber erschrickt nur, wer das nicht für etwas Selbstverständliches hält. Aufregung ist darum nicht am Platz.
Wer eine längere, im Fall des Glaubens lebenslange Strecke zurücklegen will, der wird sich seine Kräfte einteilen. Er wird Pausen einlegen, in denen er sich ausruht. Er weiß, wie er seine Kräfte einschätzen kann. Glaubende müssen stets die Gefahr gewärtigen, daß sie sich selbst an die Stelle Gottes setzen. Sie verkehren und krümmen sich in sich selbst. Sie gehen eher eigene Wege als die Wege Gottes, die zu Frieden und Versöhnung führen.
Dagegen hilft eine einfache Gymnastik des Glaubens: Wer sich verkrümmt hat, richtet sich auf. Er orientiert sich neu an den segensreichen Wegen Gottes. Die Orientierung besteht darin, sich neu auf den Segen Gottes auszurichten, auf seine Verheißung, auf seine Versöhnung. Aus der Selbstverkehrung, welche die Bibel Sünde nennt, hilft auch das Gespräch mit anderen Glaubenden. Denn wer sich im Glauben bewegt, der wird auch einmal müde, geistlich und körperlich. Glaubenskluge Wanderer legen Pausen ein und ruhen sich aus, bevor sie ein schwieriges Wegstück in Angriff nehmen. „Stärkt die wankenden Knie“, sagt der tröstende Ratgeber des Neuen Testaments. Worin besteht die Erholung des Glaubens? Wie kann der glaubende Geher sich regenerieren?. Es ist das Besondere des Glaubens, daß er nicht aus eigenen Kräften und Anstrengungen lebt. Der Glaubende muß Gott nicht suchen. Sondern es verhält sich umgekehrt: Gott sucht den Menschen auf, der sich gehend, zweifelnd, hoffend durch den Alltag plagt. Glaube ist keine Kraftanstrengung, sondern eine Öffnung auf die Kraft Gottes hin. Der Glaubende muß sich nicht selbst rechtfertigen. Er muß sich nicht selbst beurteilen. Glaube lebt von der Gewißheit, daß ein gnädiger und barmherziger Gott dem Menschen entgegenkommt. Glaube lebt aus der Beziehung zu Gott. Glaube ist ein Geschenk.
Irgendwann will der Glaube an das Ende seines Weges kommen. Die Pilgerreise des Lebens soll ein Ende haben. Der Hebräerbrief sagt: Glaubende Geher sehen schon das Ziel. Dieses Ziel ist ein Berg, der Zionsberg. Oben auf dem Gipfel liegt das himmlische Jerusalem, die Stadt Gottes. Dort pflegen Engel und Glaubenden tröstliche Gemeinschaft. Das ist ein großartiges Bild für die Hoffnung, die den Glauben antreibt. Über dem Tagesgeschäft des Glaubens und Zweifelns, des Gehens und Ausruhens kommt so zuletzt die große Perspektive Gottes, der Horizont der Ewigkeit in den Blick. Glaubensleben ist der mühsame und ausdauernde, aber eben auch Hoffnung und Trost verheißende Gang auf den Berg. Die Stadt der Versöhnung ist noch nicht zu betreten. Sie liegt noch zu weit entfernt. Die Glaubenden wissen davon durch die biblischen Wanderer, die zu Gott aufgebrochen sind: Abraham, Mose, Elia und am wichtigsten Jesus von Nazareth. Angekommen sind wir noch nicht. Aber es leuchtet schon am Horizont. Wir gehen nicht ohne Hoffnung weiter.
Sehr ausführlich predigt Pfarrer Dr. Vögele über das Thema: den Weg des Glaubens gehen. Behutsam nimmt er in Gedanken an die Hand auf dem Weg des Glaubens. Er verkündet: Glaube bringt in Bewegung und verfolgt ein Ziel. Deswegen gibt es im Alten Testament wie bei Abrahham und Mose und in Christentum und im Islam den Pilger. Der Gang des Glaubens zielt auf eine Kultur des Friedens und der Versöhnung. Hindernisse, Gefahren und Durststrecken gehören wie die Glaubenszweifel immer wieder zum Weg dazu. Gott aber kommt dem Glaubenden auf seinem Weg entgegen und schenkt ihm immer wieder neue Kraft. Glaubende sehen schon von unterwegs das Ziel: Das himmlische Jerusalem, Gottes Ewigkeit. Faszinierend ist an dieser Predigt, dass die vielfältigen Ermahnungen des Predigttextes überzeugend konzentriert werden auf ein Thema. Der Hörende wird spannend eingebunden in eine Glaubensreise.