Barmherzigkeitsgefäße
Ausgießen, was lebensförderlich ist
Predigttext: Römer 9,14-27 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
14 Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne!
15 Denn er spricht zu Mose: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.«
16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.
17 Denn die Schrift sagt zum Pharao: »Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündigt werde.«
18 So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.
19 Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen?
20 Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?
21 Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?
22 Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren,
23 damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.
24 Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
Zu Kontext und Exegese der Predigtperikope
„Ist denn Gott ungerecht?“ – Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes (dikaiosynae tou theou) ist das theologisch, christologisch und ethisch gewichtige Thema, das den gesamten Römerbrief bestimmt. Es begegnet in verschiedenen Facetten und Kontexten. In unserer Perikope Röm 9,14-24 steht es im Zusammenhang des hermeneutischen Problems Israel/Synagoge und die Christen/Kirche bzw. Altes/Erstes und Neues/Zweites Testament (Röm 9-11). Der Abschnitt V.14-24 setzt die vorangehenden Abschnitte 9,1-5 und 9,6-13 voraus. Die Fragen in V.14 beziehen sich auf das Thema „Kinder der Verheißung“ (V.8), das anhand der Genealogien Isaak (V.6-9) und Jakob (V.10-13) entfaltet wird. „Kindschaft“, „Herrlichkeit“, „Bund“, „Gesetz“, „Gottesdienst“, „Verheißungen“, „die Väter“, gehören den „Israeliten“, mit ihnen sind diese Heils- und Segensgüter untrennbar verbunden (9,4), auch „Christus“ kommt aus ihnen (9,5). Israel und die Kirche, Judentum und Christentum, dürfen um Gottes willen nicht auseinandergerissen werden – eine tiefe Erkenntnis des Apostels, der zuvor die Anhänger/innen Jesu Christi verfolgte. Dem Apostel Paulus ist es in V.14-24 um Gottes Gottheit zu tun, seine Unabhängigkeit vom Menschen, seine Freiheit, sein Anderssein. Gott passt in keine menschlichen Denkkategorien – „Gott ist anders“ (Robinson).
Die prädestinatianischen Aussagen stehen ganz im Zeichen „der absoluten Freiheit Gottes, der Gnade, die jedes Verdienst des Menschen ausschließt“ (Käsemann, Vorlesungsnachschrift zum Römerbrief). Die Argumentation des Apostels ist ausdrücklich biblisch orientiert, indem er von der Isaak- und Jakoblinie ausgeht (Röm 9,6-9.10-13) und die Bibelzitate Ex 33,19 (Gottesrede an Mose: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig…“) sowie Ex 9,16 (die Verstockung Pharaos) auf Gottes freies und alles bestimmendes Handeln hin exegesiert. „Ist denn Gott ungerecht?“ (V.14 – eine wörtliche Übersetzung ergibt: „Ist etwa bei Gott Ungerechtigkeit?“) Dazu Karl Barth: „Ist es nicht unvermeidlich, dass auch vom höchsten, kühnsten Gipfel menschlichen Glaubens immer und immer wieder jene tolle Frage aufsteigt, ob dieser Gott nicht selber unbotmäßig sei…, ein Anführer gegen die Norm der Gerechtigkeit, der doch auch er unterstellt sein müsste? Gibt es etwas Empörenderes für den Menschen als das majestätische Geheimnis dieses Unerforschlichen, Unzugänglichen, Unberührbaren, dieses allein Freien und Selbstmächtigen? Möchten wir nicht alle schreien, dass dieser nicht Gott sein kann? Nicht Gott sein darf? Das ist sicher, dass die Not der Kirche noch nicht gesehen ist und also auch noch nicht sich wenden kann, solange die Möglichkeit solcher Frage, Klage und Anklage ihr nicht in ihrer ganzen Bedrohlichkeit zum Bewusstsein gekommen ist…Der Gott, gegen den dieser Schrei sich nicht erhöbe, wäre nicht Gott…“ (K. B., Der Brief an die Römer, 333ff.).
Zu V.15-17: Mose und Pharao stehen nicht für Erwählung und Verwerfung, denn Mose wird grundsätzlich geantwortet. V.17 ist darum keine Parallele zu V.15, sondern bildet die Fortsetzung zu V.16 (mit Käsemann). V.16: Das veranschaulicht das Unterwegssein des Menschen. V.22f.: Hier handelt es sich um einen Konditionalsatz (ei de…), der jedoch ohne Nachsatz ist – dieser müsste ergänzt werden („…so ist das Gottes Recht“). Diese satzlogische Inkonsequenz ist von Paulus sicher gewollt: Nicht die „Zornlogik“ (orgae bestimmt Gott in seinem Handeln, sondern seine „große Geduld“ (pollae makrothymia), der „Reichtum seiner Herrlichkeit“ (ploutos taes doxaes) und seine „Barmherzigkeit“/“mütterliche Zuwendung“ (eleos). Auch wenn die Bilder vom Laufen (dass es nicht auf das eigene Laufen ankommt) und vom Töpfer (dass der Töpfer mit dem Tonklumpen machen kann, was er will) die völlige Ohnmacht des Menschen und Sinnlosigkeit von menschlichem Tun und Lassen suggerieren, gebraucht sie der Apostel nicht anthropologisch, sondern in streng theologischem Kontext. Die Menschen sind keineswegs die leblosen Marionetten Gottes, sondern sie sind Gottes Geschöpfe, „berufen/herausgerufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden/(allen anderen) Völkern“ (Röm 9,24), die umfassende, große und vielfältige Familie Gottes.
Zur Liturgie
Eingangsgebet
70 Tage vor Ostern – segne, Gott, unseren Weg zum Fest deiner Lebendigkeit.
70 Tage vor Ostern – lass jeden Tag einen neuen Schritt sein in das Geheimnis deines Lebens.
70 Tage vor Ostern – hilf mir, diese Tage bewusst zu leben, sie zählen als geschenkte Zeiten aus deiner Hand.
70 Tage vor Ostern – deinen Weg, Jesus, du Gottessohn und Menschenbruder, will ich bedenken und heute damit neu beginnen.
Kyrie eleison.
Tagesgebet
Gott, du wendest dich uns als deinen Geschöpfen zu.
Du bist unendlich geduldig mit uns und unergründlich barmherzig.
Bewahre uns vor der Überheblichkeit gegenüber Menschen,
die anders leben und anders glauben als wir.
Du hast auch sie geschaffen, und sie gehören zu dir.
Deinen Weg mit uns halte uns vor Augen, heute und jeden Tag,
damit wir mit anderen und uns selbst nicht ungeduldig und hartherzig umgehen,
sondern miteinander glauben, hoffen und lieben,
durch deinen Sohn, Jesus Christus, unseren Bruder.
Lieder
„Auf und macht die Herzen weit“ (EG 454)
„Laudate, omnes gentes“ (EG 181.6)
„Gott liebt diese Welt“ (EG 409, Wochenlied)
„Von Gott will ich nicht lassen“ (EG 365)
„Sende dein Licht und deine Wahrheit“ (EG 172)
„Was sollen wir nun hierzu sagen?“ So möchten wir vielleicht dem Apostel Paulus mit seinen eigenen Worten spontan entgegenhalten.
Was sollen wir zu diesen Worten sagen, die heute der Predigttext sind, Worte aus dem Paulusbrief an die junge christliche Gemeinde in Rom? Irritierend, wie der Apostel hier von Gott redet. Ein Gott, der tun und lassen kann, was er will, willkürlich mit den Menschen verfährt, sein Handeln nicht hinterfragen lässt – ist das gerecht? Irritierend auch, wie Paulus vom Menschen redet, von seinem Wollen und seinem Streben, das Leben verantwortlich zu gestalten, als ob es darauf gar nicht ankomme. Ob mein Leben Gott gefällt oder nicht, ob ich mich schuldig mache oder nicht, ist dies am Ende nicht ganz egal, wenn doch schon alles vorherbestimmt ist? Wäre für junge Menschen wie Euch Konfirmandinnen und Konfirmanden eine solche Religion ansprechend?
Das biblisch vertraute Bild vom Töpfer, auf das Paulus zurückgreift, als Hinweis auf die Schöpfermacht Gottes in allen Ehren. Aber bin ich denn nur der stumme Lehmklumpen, mit dem man alles machen kann, den der Töpfer so oder so, je nach Lust und Laune, formt, und wenn ihm das Handwerk missrät – es ist ja nur ein Klumpen, der sich nicht wehren kann. Gehe ich wie der Topf als gelungenes Gefäß hervor, ist es mein Glück, misslingt es, ist es eben Pech. Bin ich ein Gefäß, abgefüllt mit Handlungszwang, unfrei und manipulierbar? Eine Fragestellung, die uns heute wieder ganz nahe rückt. Die Erkenntnisse der neuen Hirnforschung stellen in den Raum, die Gedanken des Menschen seien keineswegs frei. Vielleicht wurde Paulus von den ersten Adressaten seines Briefes mit ähnlichen Gedanken konfrontiert. Paulus wies diese Einwände nicht besserwisserisch ab. Es war ihm bewusst: Gott und unsere Erfahrungen mit Leben und Glauben lassen sich nicht spannungslos zusammenbringen. Darum schrieb Paulus den Brief an die Römer. Weil er mit der dortigen Gemeinde über so brennende Glaubens- und Lebensfragen im Gespräch bleiben wollte. Im Raum stand die Frage, ob die christliche Gemeinde die israelitisch-jüdische Gemeinde abgelöst habe (Kap. 9-11). Paulus setzt alles daran, sich mit der christlichen Gemeinde über die jüdische Gemeinde zu verständigen und ihr gerecht zu werden. Er knüpft an der gemeinsamen biblischen Tradition an. Er verweist auf die entscheidenden Anfänge, als Gott sein Volk aus der Hand des Pharao, aus Menschenmacht, befreite und es in eine neue Zukunft führte. Der Pharao-Name steht für Härte und Gewalt, der Gottes-Name für barmherzige Zuwendung.
Mose hat beides erfahren, aber nachhaltig die gute Macht Gottes. Dennoch stellte er sich die Begegnung mit Gott anders vor. Er wollte Gottes Plan wissen und Gott mit eigenen Augen sehen (Exodus 33). Ist uns Mose darin nicht sehr nahe? Wie steht es mit unseren Gottesvorstellungen heute? Ein Mensch in Not, sei es in Krankheit, Beziehungsproblemen oder Geldsorgen, verbindet mit Gott die Hoffnung auf eine Wende zum Guten hin. Wer sich nach Liebe sehnt, nach Anerkennung zB in der Schule, nach beruflichem Durchbruch oder nach einem schon lange erwarteten Kind, wird sich von Gott die Erfüllung solcher Träume wünschen. In unserer Sehnsucht nach Frieden hoffen wir auf den Gott, der den Kriegen ein Ende macht, die Armut besiegt und mehr Gerechtigkeit in die Welt bringt. Wir brauchen dieses Gottesbild heute wie damals, in dem Gerechtigkeit, Liebe und Frieden umfassend leuchten. Spürbar und helfend eingreifend erleben wir Gott aber nur manchmal – diese eher seltene unmittelbare Gotteserfahrung kann unseren Glauben an schmerzliche Grenzen führen. Mose musste lernen, dass Gott sich nicht auf ein bestimmtes Gottesbild festlegen lässt. Paulus zeigt am Beispiel Moses: Gott ist für uns nicht verfügbar, auch nicht für den frömmsten Menschen. Wir können nur wie Mose hinter Gott her sehen, ihm nach-denken.
Wir wissen nicht, was unser „Lebenslauf“/Lebensweg bringt. Gott mutet uns zu, mit einem gewissen Maß an Unsicherheit zu leben. Wir sind Gefahren ausgesetzt, aus denen wir nicht immer heil herauskommen. Das kann Angst machen. Trotz dieser ganzen Problematik Glaube, trotzdem Kirche? Paulus setzt der Angst und der Unsicherheit Gottes Barmherzigkeit entgegen. Gottes Zuwendung ist unsere große Hoffnung. Wir müssen Gottes Liebe nicht verdienen. Paulus wirbt dafür, Gott über alles zu vertrauen. Unsere Erkenntnismöglichkeiten sind begrenzt – damit müssen wir leben. Gott ist nicht in unseren menschlichen Vorstellungen und Gottesbildern gefangen. Ein Sortieren seiner Geschöpfe in gute und böse, verworfene und erwählte, steht uns nicht zu. Die dogmatische Lehre von der Prädestination, der göttlichen Vorherbestimmung, hatte in der Kirchengeschichte oft das Gegenteil von dem bewirkt, was ihr eigentliches Anliegen war: Sie sollte den Menschen, der sich hoffnungslos verloren und von Gott vergessen fühlte, aufrichten, trösten: Du bist ein unersetzbares, kostbares Gefäß Gottes, in seiner Hand unverwechselbar geformt, ehrenvoll und wertgeachtet. Alle Völker sind berufen, „herausgerufen“, wie es wörtlich im griechischen Urtext heißt. Dies ist unsere Bestimmung.
Die „Herausgerufenen“ haben eine Aufgabe und übernehmen Verantwortung, sie sind „Barmherzigkeitsgefäße“. Darin liegt der Sinn eines christlichen Lebens. So lehrte es Jesus Christus, und Paulus gab es weiter. Die Kirche als ein weltweites Barmherzigkeitsgefäß, die Welt voller Barmherzigkeitsgefäße. Jeder Mensch ist ein solches Gefäß, das ausschenkt und in unsere vielfältigen Beziehungen einfließen lässt, was gut tut und uns mit Gottes Verheißungen in seiner großen Völkerfamilie verbindet – was für eine wunderbare Vorstellung. Aber noch gibt es viele Gefäße, die ausgießen, was für unser Zusammenleben schädlich ist – Hartherzigkeit, Ausgrenzung, Selbstgerechtigkeit. Anders die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Sie hat ein weites Herz und einen großen bergenden Mutterschoß. Darum ruft Jesus in der Bergpredigt aus: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“.