Heilsame Unterbrechung
"Kirche, die Hoffnung hat für die Welt und für einen jeden Menschen"
Predigttext: Apostelgeschichte 16, 9-15 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiß, daß uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. 11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluß, wo wir dachten, daß man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so daß sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, daß ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.
(Übersetzung nach Basisbibel, 2012, und Gute Nachricht, 2013)
6 Danach zogen Paulus, Timotheus und Silas weiter durch Phrygien und das Gebiet von Galatien. Denn der Heilige Geist hinderte sie daran, Gottes Wort in der Provinz Asien zu verkünden.
7 Als sie, westwärts ziehend, schon fast in Mysien waren, wollten sie von dort in das nördlich gelegene Bithynien weiterreisen. Aber auch das ließ der Geist nicht zu, durch den Jesus sie führte.
8 Also zogen sie an Mysien vorbei und gingen zum Meer hinunter nach Troas.
9 Dort in Troas hatte Paulus in der Nacht eine Vision. Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: "Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!"
10 Kaum hatte Paulus diese Vision gehabt, da suchten wir sofort nach einem Schiff, das uns nach Mazedonien mitnehmen konnte. Denn wir waren sicher: Gott hatte uns gerufen, den Menschen dort das Evangelium, die Heilsbotschaft, zu bringen.
11 Wir legten von Troas ab und fuhren auf dem kürzesten Weg zur Insel Samothrake. Einen Tag später erreichten wir Neapolis.
12 Von dort gingen wir landeinwärts nach Philippi. Das ist eine bedeutende Stadt in diesem Bezirk Mazedoniens und römische Kolonie. In dieser Stadt blieben wir einige Zeit.
13 Am Sabbattag gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss. Wir vermuteten dort eine jüdische Gebetsstätte und fanden sie auch. Wir setzten uns und sprachen mit den Frauen, die sich an diesem Ort versammelt hatten.
14 Unter den Zuhörerinnen war auch eine Frau namens Lydia. Sie handelte mit Purpurstoffen und kam aus der Stadt Thyatira. Lydia ehrte als Nicht-Jüdin den Gott Israels. Der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie begierig aufnahm, was Paulus sagte.
15 Sie ließ sich taufen - zusammen mit ihrer ganzen Hausgemeinschaft, ihren Angehörigen und Dienstleuten. Danach bat sie: "Wenn ihr überzeugt seid, dass ich wirklich an den Herrn glaube, dann kommt in mein Haus. Ihr könnt bei mir wohnen!" Und sie drängte uns förmlich dazu.
Exegetische, homiletische und liturgische Hinweise
Als hellenistischer Christ der 3. Generation verfasst Lukas die Apostelgeschichte etwa um 90 n. Chr. als eine „historische Monographie“ (s. U. Schnelle, S.338), die die frühe Kirchengeschichte in eine apostolische (Apg. 1,1-15,35, Hauptakteur:Petrus) und eine nachapostolische Epoche (Apg. 15,36-28,31, Hauptgestalt: Paulus) unterteilt und die heidenchristliche Kirche als unangefochtenen Teil des Gottesvolkes darstellt. Apg 16,6-15 steht also am Anfang der von Paulus dominierten Kirchenepoche und markiert durch die Stilmittel der Vision (V.9) und des Wir-Berichtes (V. 10f.) den wichtigen Übergang des Evangeliums (dem eigentlichen Akteur der Apg.) von Kleinasien nach Griechenland, auf seinem eiligen Weg nach Rom. Die enge kulturelle und staatliche Verbindung beider Gebiete des Römischen Reiches lässt den oft benannte „Übergang der Mission nach Europa“ wohl eher als neuzeitlichen Eintrag erscheinen, der allerdings modernem Empfinden gut entspricht.
Mit Mitteln des hellenistischen Historikers veranschaulicht Lukas den geschichtlichen Weg des geistgeleiteten Christuszeugnisses von Jerusalem nach Rom immer wieder in vielen Einzelszenen, so auch in Apg. 16,6-15. (Die Erweiterung der Perikope um die Verse 6-8 lässt Lukas’ Sicht von der strikten Leitung der paulinischen Mission durch Gott noch deutlicher erkennen)
In vier Szenen schildert Lukas, wie Gott „seine“ Mission selbst leitet, indem er die Missionare zweimal völlig ausbremst (V. 6-8), sie dann aber über eine Vision (V. 9-10) und eine hastige Fahrt zum Missionsort Philippi lenkt (V.11-12), um schließlich dort mit „seiner“ (s. v. 14b!) Bekehrung der Lydia, Purpurhändlerin aus Kleinasien und heidnische Sympathisantin der jüdischen Gemeinde, die Evangeliums-Mission zu ihrem Ziel zu führen: die Gründung der Gemeinde Jesu Christi in Philippi (V. 13-15). Kirchen und Gemeinden blicken oft besorgt in die Zukunft. Sie befürchten massive Verluste an Mitgliedern, Einnahmen und Einfluss und flüchten sich oftmals in hektisches Agieren und Reformieren. Doch Lukas ermutigt zum Perspektivwechsel und lenkt unsern Blick auf die verheißungsvolle Geburt unserer Kirche in Europa. Dankbar bestaunt Apg 16,6-15 das Wunder, wie die Heilsbotschaft von Jesus Christus über seltsame Umwege und unscheinbare Anfänge am Ende „hundertfache Frucht“ (Lk 8,8) bringt, weil Gottes wirksames Wort nie fruchtlos bleibt, sondern stets gute Folgen hat (Jes 55,11).
Diese befreiende Botschaft sollte die Predigt mutig weitertragen, damit verunsicherte Kirchen und Gemeinden ihr angstbesetztes und selbstherrliches Planen aufgeben und sich in „evangelischer“ Achtsamkeit Gottes heutigen Wegweisungen öffnen können. Denn immer noch schickt Gott seine Boten zu Menschen, die sehnlich auf Begegnung und Begleitung warten und sich eine geschwisterliche Gemeinde wie die der Lydia in Philippi wünschen, in der kulturelle, ethnische, soziale, sexuelle, ja auch religiöse Gegensätze in Jesus Christus angenommen und miteinander versöhnt sind. In diesem neuen Licht könnten dann sogar die zahlreichen kirchlichen Misserfolge als Fingerzeige Gottes für eine Wegänderung erscheinen - vom freudlosen Machen zur erneuerten „Freude am Evangelium“, für die z. B. Papst Franziskus in seinem „Traumgesicht“ so ergreifend wirbt: „Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein...Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben.“ (s. „Evangelii Gaudium“, S. 47)
Zur Liturgie
Psalm 119 (Auszüge. S. EG)
Lesungen: Jesaja 55,10-12a; Lukas 8,4-8
Lieder
„Lobt Gott getrost mit Singen“ (EG 243)
„Mache mich zum guten Lande“ (EG 166,4-6)
„Herz und Herz vereint zusammen“ (EG 251,1-3)
„Ins Wasser fällt ein Stein“ (EG Regionalteil
„Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“ (EG Regionalteil)
Ich sitze am Schreibtisch und denke über meine Predigt nach. Da klingelt es. Etwas unwillig gehe ich zur Haustür. Zwei Frauen stehen da und schauen mich freundlich an. „Glauben Sie, dass uns die Bibel heute noch etwas sagen kann?“, fragt mich die eine und zeigt mir ein kleines Faltblatt. „Ich arbeite gerade an einer Predigt über ein Bibelwort!“, antworte ich kurz. „Oh, dann entschuldigen Sie bitte die Störung!“, lächelt die Wortführerin verunsichert und gibt mir ihr Blättchen: „Vielleicht können Sie das noch einmal lesen!“, sagt sie zum Abschied. Mit zwiespältigen Gefühlen schaue ich den beiden Frauen nach. „Schon wieder die Zeugen Jehovas!“, denke ich und fühle mich belästigt. „Doch eigentlich bewundernswert, wie unermüdlich sie für ihren Glauben werben!“, muss ich gleichzeitig zugeben. „Sollten unsere Kirchengemeinden nicht von ihnen lernen und genauso fröhlich und unbekümmert auf Menschen in unserer Umgebung zugehen und ihnen sagen, wie wichtig uns der Glauben an Jesus Christus ist?“ Unversehens bin ich wieder mitten in dem, was Lukas von Paulus und seinen Gefährten erzählt: Wie sie zum ersten Mal auf europäischem Boden an die Haustüren von Menschen klopfen und für unseren Christus-Glauben werben und welche Tür dabei aufgeht und welches Herz sich öffnet und warum dieser gute Anfang unsere Kirche immer noch ermutigen kann, für Gottes Evangelium weiter zu werben. Als guter Schriftsteller entfaltet Lukas seine gute Nachricht in drei filmreifen Szenen. Ihre Spannung steigt von Schritt zu Schritt, bis sie endlich ihren Höhepunkt und Zielort erreicht: die Geburt einer ersten Gemeinde in Europa.
Erste Szene
„Der Mensch denkt, und Gott lenkt.“ Diese biblische Erfahrung setzt die Anfangsszene eindrucksvoll ins Bild: Auf eigenartigem Zick-Zack-Kurs irren Paulus, Timotheus und Silas in Kleinasien umher, im Westen der heutigen Türkei. Erst ziehen sie westwärts, zur bedeutenden Stadt Ephesus. Denn stets beginnt Paulus seine Glaubenswerbung in den großen Zentren. Von dort aus soll die Christus-Mission so gut wie „von allein“ ins dörfliche Umland gelangen. Eine kluge Strategie! So will Paulus in kürzester Zeit das riesige römische Reich vom Osten bis nach Spanien im äußersten Westen rasch durchreisen, damit Gottes Rettungsbotschaft wirklich noch alle Bewohner erreicht, bevor Jesus Christus wiederkommt, „zu richten die Lebenden und die Toten.“ Aber ganz überraschend durchkreuzt Gott diesen ehrgeizigen Plan und erteilt Missionsverbot, was ziemlich verwundert: Es wäre doch wichtig, dass möglichst viele Menschen Gottes frohe Botschaft noch hören und annehmen. Doch widerspruchslos wandern die drei Missionare jetzt in die entgegengesetzte Richtung nach Osten und Nordosten. Da werden sie erneut gestoppt! Diesmal versperrt ihnen Jesu Geist den Weg und zeigt ihnen noch ein Mal, wer tatsächlich Herr und Leiter ihres Werbezuges ist: das Christus-Evangelium selbst, es bahnt sich allein seinen Weg von Jerusalem über Rom bis an das Ende der Erde.
Folgsam wenden sich die drei Glaubenswerber wieder nach Westen und kommen endlich zum Hafen von Troas am Mittelmeer. Hinter ihnen liegt der Albtraum jedes kirchlichen Werbestrategen: ein völliger Misserfolg! Doch gerade diese Mission, die an Gott scheitert und die sich ihr Scheitern nicht schön redet, sie kann heutige Kirchen und Gemeinden bei ihrem angstvollen Planen und umtriebigen Handeln Entscheidendes lehren. Gerade eine Glaubenswerbung, die der Geist Jesu verhindert hat, sie verkündet uns als Grundbotschaft dieser ersten Szene: „Wenn eure so ausgeklügelten und mit viel Herzblut und oft auch viel Geld durchgeführten Lieblingsprojekte wie Glaubenskurse, City-Kirchen, Regionalgemeinden, Freiwilligen-Agenturen, Jugendwerkstätten und vieles andere mehr wieder einmal fehlschlagen, dann stürzt euch nicht sogleich auf das nächste Vorhaben, sondern unterbrecht zunächst einmal euer ständiges Sorgen und Planen und besinnt euch von Neuem darauf, w e r „das Gesicht“ eurer Gemeinde in Wahrheit ist; wer die Leitung eurer Kirche w i r k l i c h inne hat. Nach jedem Fehlschlag fragt doch erst einmal, ob euer Scheitern vielleicht ein Fingerzeig Gottes ist, der eurem emsigen Handeln eine ganz andere Richtung weisen will.“ So haben das jedenfalls die urchristlichen Missionsplaner Paulus, Silas und Timotheus verstanden und sind Gottes neuer Wegweisung gefolgt. Davon erzählt die zweite Szene.
Zweite Szene
„Träume sind nicht immer nur Schäume.“ Gottes Geist treibt die umherirrenden Verkündiger in die Hafenstadt Troas. Dort geht ihnen buchstäblich ein Licht auf. In einem nächtlichen Traumgesicht erscheint dem Paulus ein Mann aus der griechischen Provinz Mazedonien; vielleicht jener Engel, der nach dem Daniel-Buch sein nicht-jüdisches Volk vor Gott vertritt. Paulus hört ihn rufen: „Komm herüber und hilf uns!“ Da fällt es den drei Männern wie Schuppen von den Augen und sie sehen ganz klar, wohin sie Gott mit seiner Rettungsbotschaft senden will. Diese neue Einsicht und ihre unmittelbaren Folgen erleben wir jetzt hautnah mit: Von nun an erzählen sie uns im Wir-Stil von Augenzeugen, wie sie umgehend an Bord gehen und mit „fliegenden Segeln“ in nur zwei Tagen statt der üblichen fünf die Überfahrt von Troas nach Philippi in Griechenland meistern.
Das hellsichtige Sehen und Hören des Paulus in der Nacht mit der raschen Reaktion seines Missionsteams kann auch uns ein Licht aufstecken, eine wichtige Wegweisung Gottes aufzeigen: Zwar haben wir in unserer Kirche schon lange keine Träume mehr, dafür aber ständig Albträume. Denn seit etwa zehn, fünfzehn Jahren beherrscht uns die panische Angst, unsere Kirchen würden von Jahr zu Jahr ärmer, kleiner und unwichtiger. Darum planen und veranstalten wir rastlos alles Mögliche und Unmögliche und berichten pausenlos darüber. Niemand soll die evangelische Kirche übersehen oder überhören und auf keinen Fall an den Rand unserer Gesellschaft drängen können. In dieser angstbesetzten Lage sehe und höre ich nun, wie die Vision des Paulus unseren aufgeregten Kirchenbetrieb dringlich ermahnt: „Stellt euer ruheloses Machen doch endlich einmal ein und wartet geduldig, wohin Gott euch heute wirklich weisen und lenken will! Lenkt euch nicht ab durch willkürlich gewählte Aufgaben! Geht vielmehr genau dorthin, wo ihr tatsächlich erwartet, wo ihr händeringend ersehnt werdet, auch wenn darüber anschließend keine Zeitung berichtet!
Denn auch heute noch warten unzählige Menschen sehnsüchtig auf ihre Kirche: Kranke, Einsame, Sterbende und Trauernde erhoffen Zuwendung und Trost in ihrer schweren Zeit; Familien und Alleinerziehende wünschen verständnisvolle Begleitung; Kinder und Jugendliche erwarten ein fröhliches Miteinander in Kita, Kindergottesdienst, Konfirmandenunterricht und Freizeiten; Ehepaare, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner erbitten Gottes Segen für ihren gemeinsamen Lebensweg; Frauen und Männer jeden Alters suchen gute Begegnung bei euch!“ Wie das gelingen kann, achtsamer zu werden auf die vielen wartenden Menschen und ihre versteckten Hilferufe, das hat mir ein Amtsbruder vorbildlich vorgelebt. Er war ein Prediger und Seelsorger, den viele seiner Amtsgeschwister, Gemeindeglieder, Freunde und Weggefährten auch darum sehr verehrten, weil er eine erstaunliche Fähigkeit besaß: Oft war er mit einer Karte, einem Anruf, einem Besuch, einem kurzen Wort gerade zur Stelle, wenn jemand das bitter nötig hatte. „Wie machst du das eigentlich, dass du immer zur rechten Zeit für uns da bist?“ fragte ihn einmal einer seiner Freunde. „Das ist ganz einfach“, war seine bescheidene Antwort: „Ich meditiere Menschen! Von Zeit zu Zeit halte ich mit meiner alltäglichen Arbeit inne und denke ganz intensiv an einzelne Menschen in meiner Umgebung. Und dann spüre ich, was sie im Augenblick gerade brauchen.“ So hat dieser Glaubenswerber Gottes Weisung verstanden, sich auf den Weg gemacht und viele wartende Menschen wirklich erreicht. Wie die Paulus-Gruppe zu ihrem Weisungsort gelangt, das schildert die dritte und zweifellos wichtigste Szene:
Dritte Szene
„Ein Traum wird wahr“ – die erste Gemeinde Jesu Christi in Europa. Am Anfang steht ein enttäuschtes Erwachen. Niemand empfängt die Herbeigeeilten, kein Völkerengel, kein Bürgermeister, keine Volksmenge. Philippi, diese Römerstadt für ausgediente Soldaten – hat nicht einmal eine Synagoge. So finden sie keine jüdischen Geschwister, denen sie die neue Heilsbotschaft von Jesus Christus weitersagen könnten. Erst nach tagelangem Warten entdecken sie endlich am Sabbattag zwei Kilometer vor der Stadt am Fluss eine jüdische Gebetsstätte. Da lauert die nächste Enttäuschung: statt der gottesdienstfähigen zehn jüdischen Männer finden sie nur eine kleine Gruppe von nicht-jüdischen Frauen. Die treffen sich hier regelmäßig als Sympathisantinnen der jüdischen Gemeinde bei deren Gottesdienst. Gottesfürchtige nennen sie sich. Sie glauben an den Gott Israels, gehören aber nicht zum Volke Gottes, da sie noch nicht vollständig zum Judentum übergetreten sind. Zu dieser Frauengruppe setzen sich nun die drei Glaubensboten und erzählen ihnen von Jesus, dem Herrn und Retter, erzählen von seinem Kreuz und seiner Auferweckung, von seiner herzlichen Einladung gerade an sie, die Nicht-Juden: durch den Glauben an Jesus Christus und durch die Taufe auf seinen Namen werden auch sie vollwertige Mitbürgerinnen im Volke und im Reiche Gottes.
Besonders aufmerksam hört eine Frau zu, die alle „Lydia“ nennen, also die „Lydierin“, die aus Lydien in Kleinasien kommt. Sie muss früher einmal Sklavin gewesen sein, weil man sie nicht mit ihrem Eigennamen benennt, sondern nur nach ihrem Herkunftsland und nach ihrem Gewerbe, dem Handel mit Purpurstoffen, für die ihre Heimatstadt berühmt ist. Ob Lydia besonders wohlhabend ist oder sich nur gerade so über Wasser halten kann, bleibt unklar. Auf jeden Fall ist Lydia unabhängig. Sie kann sich mit ihren Angehörigen ein eigenes Haus leisten, mit Sklaven, Hausangestellten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vermutlich lebt sie ohne Lebenspartner, vielleicht ist sie verwitwet. Dieser nicht-jüdischen Gottesfürchtigen Lydia öffnet Jesus das Herz, wie Lukas ausdrücklich betont. Nicht Paulus, nicht Silas, nicht Timotheus bekehren sie. Es ist vielmehr der gekreuzigte und auferstandene Jesus selbst, der Lydia mit seiner Guten Nachricht überzeugt, dass nun auch sie ganz zum Volke Gottes, vorbehaltlos zur Gemeinde Jesu Christi gehören darf. So wird Lydia zur ersten Christin in Europa und ihre Hausgemeinschaft, die mit ihr getauft wird, zur ersten christlichen Gemeinde auf europäischen Boden und zum Urbild von Gemeinde Jesu Christi überhaupt.
„Ein Funke, kaum zu sehn, entfacht doch helle Flammen, und die im Dunkeln stehn, die ruft der Schein zusammen“:Ausgerechnet in der unscheinbaren Hausgemeinde der Lydia wird auf wunderbare Weise wahr, wovon Paulus geträumt und was Jesus verheißen hat: Das Evangelium bringt hundertfach Frucht und kehrt nicht folgenlos zu Gott zurück, die unterschiedlichsten Menschen kommen von Ost und West, von Nord und Süd und sitzen einvernehmlich und gleichberechtigt am Tische im anbrechenden Gottesreich und teilen miteinander Essen und Trinken, Obdach und Schutz, Glauben und Gemeinschaft. Wie beinahe unfassbar diese neue Versöhnung der sonst so unüberbrückbaren Gegensätze ist, zeigt der kurze Schlusssatz unserer letzten Szene.
Vierte Szene
Die als Nicht-Jüdin geborene, wirtschaftlich unabhängige, allein stehende Frau muss die jüdisch geborenen, mittellosen Männer geradezu nötigen, in ihr Haus zu kommen und an ihrem Tisch mit Platz zu nehmen. Es scheint beinahe so, als könnten die drei Missionare selber noch nicht ganz begreifen, was hier soeben Jesu Wort in Wahrheit bewirkt hat: so radikal voneinander getrennte und so unterschiedlich bewertete Juden und Nicht-Juden, Sklaven und Freie, Männer und Frauen, Arme und Reiche, Migranten und Einheimische zur partnerschaftlichen Gemeinde Jesu Christi zu vereinen. Eine solche teilungsbereite und beteiligungsfreudige Kirche müsste sich übrigens niemals um ihren Platz in unserer Gesellschaft sorgen. Denn sie wäre gewiss „beim ganzen Volk beliebt“, wie Lukas von der Anfangsgemeinde in Jerusalem begeistert erzählt. Auf sie würden alle schauen, weil in ihr gelänge, was unserer Gemeinschaft so schwer fällt: Menschen aus den verschiedensten sozialen Gruppen zu einer Solidargemeinschaft zu verbinden. Damals in Philippi jedenfalls, im Haus der Lydia, da begann zum ersten Mal in Europa, was in unseren Tagen der Jesuitenpater Roman Bleistein in diese eindrücklichen Worte gefasst hat:
„Ich träume von einer Kirche, die sich von den Menschen in Pflicht nehmen lässt:
von den Armen und Kranken, von den Flüchtlingen, von den ungeborenen Kindern,
von den Hungernden in der weiten Welt, von der nach Sinn verlangenden Jugend.
Ich träume von einer Kirche, die zu feiern und zu beten versteht,
die mit mir lachen und trauern kann, immer in Gemeinschaft mit allen Menschen.
Ich träume von einer Kirche, die Hoffnung hat für die Welt und für einen jeden Menschen,
weil sie den in ihrer Mitte hat, der alle Hoffnung begründet.
Ich träume von einer Kirche, die mich am Ende meines Lebens begleitet
und mir in meinen letzten Atemzug hineinruft: Du wirst ewig leben“.
Paulus ist nach dem Buch von Franz Berger und H.Gleissner der größte Werbestratege der Weltgeschichte. Er hat mit seinen Gefährten wie die Zeugen Jehovas an den Haustüren geworben. Wie die beiden Autoren macht Pastor Dieckmann in seiner Predigt darauf aufmerksam, dass “Paulus seine Glaubenswerbung in den großen Zentren beginnt.” Die Geburt einer ersten Gemeinde in Europa liegt genau im Missionsplan des Paulus für Jesus. Die geistigen und kulturellen Hauptstädte Athen, Korinth und Rom sind sein erklärtes Ziel. In vier Szenen entfaltet der Prediger den Predigt- Text: Im Hafen von Troas bearbeitet Paulus ertstmal seine Misserfolge bei der Mission und fragt nach “einem Fingerzeig Gottes.” Darauf erscheint eine Vision. Eine Gestalt ruft Paulus zu: Komm herüber nach Europ und hilf uns. Der Beginn des Christentums in Europa ! In Philippi findet Paulus als Missionsanknünpfung nicht mal eine jüdische Gemeinde mit zehn Männern. Ungerührt und unentwegt missioniert er bei den sogenannten gottesfürchtigen Frauen. Sie sympathisierten wie mehrere Prozent der Römer damals als Heiden mit dem jüdischen Glauben an den einen Gott. Lydia läßt sich intensiv für Jesus gewinnen und taufen und bildet die erste christliche Hausgemeinde in Europa. Von ihr geht einer der Funken aus, die das ganze Abendland erleuchten wird. – Mit einem dazu sehr stimmigen und intensiven Gebet von Roman Bleistein schließt diese überzeugende Predigt über einen Meilenstein der Kirchengeschichte. Ohne den Übergang des christlichen Glaubens auf Europa wären wir heute keine Christen. Man wird dankbar für ds Wirken des Heiligen Geistes damals und bekommt Impulse für Jesus zu missionieren.