Sinnloser Tod?
Karfreitag – Warum musste Jesus sterben?
Predigttext: Jesaja 53, 1-12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? 2 Er schoß auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. 7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. 8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. 9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür daß er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
(Übersetzung: Roland Gradwohl)
1 Wer vertraut unserer Kunde, und der Arm des Herrn – über wem hat er sich offenbart? 2 Er stieg auf wie der Schößling vor Ihm und wie die Wurzel aus dürrem Land. Keine Gestalt besitzt er und keine Pracht, dass wir ihn ansehen sollten, und kein Aussehen, dass wir ihn begehrten. 3 Er ist verachtet und verlassen von Menschen, ein Mann der Schmerzen, gewohnt an Krankheit, wie einer, der vor uns das Gesicht verhüllt. Verachtet ist er – wir schätzten ihn nicht. 4 Fürwahr, unsere Krankheit hat er getragen und unsere Schmerzen erlitten, wir aber hielten ihn für einen Angerührten, einen von Gott Geschlagenen und Gedemütigten. 5 Doch er ist verletzt wegen unserer Frevel, zerschlagen wegen unserer Verschuldungen. Der Schmerz für unser Wohlbefinden (Frieden) ist auf ihm, und durch seinen Striemen wurden wir geheilt. 6 Wir alle irrten wie Schafe, ein jeder Wandten wir uns dem eigenen Weg zu. Und der Herr ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen. 7 Er ist (wurde) bedrückt und beugt sich und öffnet nicht seinen Mund – wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Mutterschaf, das vor seinen Scherern verstummt. Und er öffnet nicht seinen Mund. 8 Aus der Haft und aus dem Recht wurde er genommen, und wer hat es seinem Geschlecht berichtet? Denn abgeschnitten wurde er vom Land des Lebens, wegen der Missetat der Völker ist ihm ein Schlag. 9 Er gab bei Frevlern sein Grab, beim Reichen sein Grabmal, obschon er keine Gewalttat begangen hatte und kein Trug in seinem Munde war. 10 Doch der Herr hatte Gefallen an Seinem Zerschlagenen und machte ihn krank. Wenn seine Seele eine Schuld setzt, wird er Nachkommen sehen, wird die Tage verlängern, und der Wunsch des Herrn gelingt in seiner Hand. 11 Nach der Mühsal seiner Seele sieht er, wird er satt. Durch sein Wissen wird Recht schaffen der Gerechte, Mein Diener, für viele, und ihre Schuld wird er ertragen. 12 Deshalb teile Ich ihm unter den vielen zu, und mit den Mächtigen teilt er Beute: dafür dass er entblößt dem Tod seine Seele und zu den Frevlern gezählt wurde, indem er die Verfehlung der vielen (er)trug und von den Frevlern sich treffen ließ.
Exegetische und homiletische Einführung
Jedes Jahr die bohrende Frage: Wie predige ich Karfreitag? Was ist das Heilvolle am Tod Jesu? Für uns gestorben – für unsere Sünden: Antworten von Konfirmanden wie von Erwachsenen. Auch meine. Aber wie? Was bewirkt der Tod Jesu? Was ist die Alternative zu dem zürnenden Gott, der durch das Opfer seines Sohnes die Strafe von uns abzieht? Texte der Passionschoräle transportieren weiter, wo Theologie schon längst um andere Worte ringt. Kommt sie gegen die Choräle an? Was wird durch den Tod Jesu besser? Wird das Böse besiegt? Das Kreuz bleibt ein Skandalon. Muslime können ihn um Gottes willen nicht gelten lassen. Hilft das 4. Gottesknechtslied weiter? Oder muss man sich von ihm befreien, weil es zu einseitig der christlichen Sühnopfertheologie den Weg bahnt? Die Passionserzählungen sind auf seinem Hintergrund entstanden. Deshalb lesen wir es umgekehrt auf dem Hintergrund unseres christlichen Verständnisses. Geht es auch anders?
Es beginnt mit Ostern! Gott erhöht seinen Knecht aus dem Elend (Jes 52,13-15). Er setzt der Gewalt etwas entgegen, kann sie also unmöglich gewollt haben. Die nächsten Verse (Jes 53, 1-6) thematisieren den Irrtum: Göttliche und menschliche Gewalt wurden verwechselt! Gewalt ging nur von den Menschen aus. „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“: „Unsere“ kann als „von uns verursacht“ gedeutet werden. Aber auch wer anders liest, muss nicht an Sühnopfer denken, wenn Menschen einen anderen zum Opfer ihrer Gewaltbereitschaft machen. „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten“: Nicht den Frieden mit Gott, sondern das Wohlergehen auf Kosten anderer, das bis heute Not und Gewalt heiligt. Und Gott hat darum Gefallen am Leiden des Gottesknechts, weil er Menschen durch ihn zur Gerechtigkeit führen will (Jes 53, 7-12). Der Text bleibt Herausforderung: weil Parallelität und Differenz zum Weg Jesu so eng beieinander liegen, weil die Übersetzung des hebräischen Textes so schwierig ist, und weil man der Engführung erliegt, wenn man in ihm nur die Alternative „Sühnetod oder nicht“ beantwortet haben will. Meine Predigt versucht zu beantworten: Was ist das Erlösende am Tod Jesu?
Erstens Erschrecken. An unserer Missetat ist der Gottesknecht gestorben. Noch immer lassen wir zu, dass andere geopfert werden, damit wir Schalom, Wohlstand haben. Die Passionsgeschichte muss als Gewaltgeschichte erzählt und auf andere Gewaltgeschichten hin durchsichtig gemacht werden. Das Leiden des Gottesknechts ist solidarisches Leiden.
Zweitens Erkenntnis. Der leidende Gerechte wird Gerechtigkeit schaffen. Der die Abgründe kennt, findet auch Wege heraus. Jesus hat seiner Botschaft der Gewaltlosigkeit vertraut und sie konsequent zu Ende gelebt. Der Weg zur Gerechtigkeit kostet viel. Aber er ist noch offen.
Drittens Ermutigung. Gott begegnet in der Tiefe der Sündenerkenntnis und der Angst. Ostern beginnt nur hier. Aber Ostern beginnt.
Literatur: Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2, Stuttgart, 2. Aufl. 1995.
Warum musste Jesus sterben? Für uns. Für unsere Sünden ist Jesus gestorben. Wen ich auch frage, die Antwort kommt ziemlich schnell. Aber wie verstehst du das, frage ich weiter. Er hat sich doch geopfert für unsere Sünden. Diese Antwort kommt schon etwas langsamer. Das hieße dann ja, sage ich, Gott ist zornig, weil die Menschen sich nicht an seine Gebote halten. Er müsste eigentlich die Menschen bestrafen, aber statt dessen bestraft er seinen Sohn. Nein, sagt eine Dame bei uns im Altersheim, das glaube ich nicht. Nicht wahr, sage ich, Gott könnte den Menschen doch auch so vergeben, wenn sie ihn darum bitten. Warum muss Jesus dafür sterben? Die Antwort bleibt in der Luft hängen. Was haben wir nur alles übernommen, unhinterfragt, weil man es uns so beigebracht hat? arum musste Jesus sterben, das heißt ja eigentlich: Wozu musste Jesus sterben? Was hatte sein Tod für einen Sinn? Es wäre doch schrecklich, wenn sein Tod keinen Sinn hätte! Ich glaube, diese Angst hat die Antwort mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu so eingängig und plausibel gemacht. Der Tod des Gottessohnes darf doch nicht sinnlos gewesen sein! Ich wende ein: Warum nicht? Warum soll er nicht genau so sinnlos gewesen sein wie der Tod vieler anderer Menschen, deren Schicksal Jesus zu seinem eigenen gemacht hat, damit sie in der Sinnlosigkeit ihres Leidens nicht so alleine sind? Kämen wir damit zurecht?
Wir kämen schon damit zurecht, wenn Jesus solidarisch mit den sinnlos Leidenden wäre. Mit dem an Aids sterbenden Kind, mit der schwangeren Frau, die vor Lampedusa ertrinkt, mit dem vom Amok-Schützen erschossenen Schüler, mit dem jungen Mann in der Folterkammer eines syrischen Gefängnisses. Aber wir kämen nicht damit zurecht, wenn aus Jesu Solidarität nicht irgend etwas Gutes entstünde. Wenn alles so bliebe wie es ist. Viele sagen: Das ist es ja. So geblieben. Man kann schwer etwas dagegen einwenden. Das ist der größte Stachel. Das Kreuz ist eine Anfrage an Gott selbst. Die große Anfrage. Warum tust du nichts? Ist etwa der Tod Jesu der Beweis dafür, dass Gott nichts tut? Dass es ihn gar nicht gibt? Was Gott tut, um das zu verstehen, haben die ersten Christen das Alte Testament zu Rate gezogen. Dort, beim Propheten Jesaja, fanden sie eine Figur, die sie an Jesus erinnerte. Der so genannte Gottesknecht. Seine Identität liegt immer noch im Dunkeln. Aber sein Schicksal war wie ein Licht, das auf den Tod Jesu fiel. Ich lese jetzt seine Geschichte vor. Achten Sie bitte darauf: Da wird nicht einfach etwas erzählt. Sondern da reden Menschen, die es miterlebt haben, und die davon zutiefst bewegt waren. Das ist wichtig auch für die Art, wie wir im Tod Jesu einen Sinn finden können: niemals objektiv, von außen. Sondern immer nur als Beteiligte und zutiefst Bewegte.
(Lesung des Predigttextes)
Warum musste Jesus sterben? Damit wir Menschen friedlicher werden, sagte die alte Dame, von der ich vorhin erzählte, nach einigem Nachdenken. So eine wunderbare Antwort. Damit wir Menschen uns berühren und verwandeln lassen. Die Menschen, die beim Gottesknecht stehen, erschrecken zutiefst. Wir haben uns geirrt, sagen sie. Wir dachten, Gott wollte ihn schlagen. Stattdessen waren wir es. Wir haben ihn geschlagen, ihn zum Opfer gemacht. Er trug unsere Krankheit, die immer auf Kosten der Schwächeren lebt. Er hat an unserer Missetat gelitten. Gott warf unsere Sünde auf ihn, ließ vordergründig uns in unserem falschen Frieden weiterleben. Aber nur vordergründig. Jetzt sehen wir ja, dass Gott auf seiner Seite steht. Gott hat seinen Knecht aus dem Elend heraus gezogen. Der Gottesknecht stirbt nicht wie Jesus, aber er erlebt auch so etwas wie Auferstehung. Daran erkennen die Menschen, wie es wirklich war. Und aus dieser Erkenntnis kann wirklicher Friede wachsen.Wir müssen uns ändern, denken die Menschen. Das hat vielleicht auch der Hauptmann unter dem Kreuz gedacht.
Warum also musste Jesus sterben? Damit an ihm die Sünde der Menschen sichtbar wird. Und damit sie sichtbar bleibt an jedem weiteren unschuldigen Opfer. So weit musste es kommen, sagen wir manchmal. Wir haben zahllose Beispiele, dass sich trotzdem nichts ändert. Aber es könnte. Vielleicht, fügt die alte Dame hinzu. Vielleicht werden die Menschen friedlicher. Ich sage: Da liegt die Hoffnung. Befreit Jesu Tod von der Sünde? Die christliche Lehre sagte lange: Er befreit von der Strafe. Aber setzt Gott dem Bösen in der Welt etwas entgegen? In den Passionschorälen heißt es oft: Ich will jetzt auch mein Kreuz auf mich nehmen. Gemeint war: Ich will jetzt auch alles Leid klaglos erdulden, Jesus, wie du. Aber wir können aus Jesu Tod auch einen anderen Schluss ziehen. Durch seine Erkenntnis, heißt es bei Jesaja, wird der Gottesknecht Vielen Gerechtigkeit schaffen. Jesus hat in einer gewaltbereiten Welt die Botschaft des Gewaltverzichts gelebt. Bis zum bitteren Ende. Sein Kreuz auf sich nehmen kann auch heißen dieser Botschaft zu folgen. Mutig dafür zu werden, weil das der einzige Weg ist. Mutig in dem Vertrauen, dass Gott dann an unserer Seite bleibt.
Aber ist das schon Erlösung? Dann müssen wir doch alles tun! Dann bleibt die Verantwortung doch an uns hängen! Hat uns Karfreitag vom Bösen erlöst? Es war so einfach zu sagen: Ja, die Welt bleibt wie es ist, aber durch Jesu Tod dürfen wir hoffen, dass Gott uns verzeiht. Zu einfach. Erlösung geschieht für uns, aber nicht ohne uns. Wenn ich die Passionsgeschichte erzähle, merke ich, wie sie Menschen in ihren Bann zieht. Erzählen ermöglicht Begegnung. Wir müssen der Passion Jesu begegnen. Sie nahe heran kommen, genauso wie die Menschen das hässliche Elend des Gottesknechts nahe an sich haben herankommen lassen. Ja, wir dürfen Erlösung spüren, Wendung zum Guten und zum Frieden in uns. Aber nur, wenn wir diese Nähe aushalten. Wenn wir in Jesus unserem eigenen Elend und dem Elend der Welt begegnen. Karfreitag sagt: Genau dort werden wir Gott begegnen. Gott, der unseren wirklichen Frieden will und schafft. Mit unserer Todesangst, mit all unseren schlechten Gefühlen, mit unserer ständigen Versuchung es uns zu einfach zu machen sind wir nicht mehr allein. Jesus hält das alles für uns aus und öffnet damit Räume, wenigstens Winkel, in die das Osterlicht eindringen kann.