„Wir wollten Jesus gerne sehen”
Ein anderer Blick auf das Passionsgeschehen
Predigttext: Johannes 12,20-26 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
20 Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest.
21 Die traten zu Philippus, der von Betsaida aus Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollten Jesus gerne sehen.
22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen's Jesus weiter.
23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.
24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
25 Wer sein Leben liebhat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben.
26 Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.
“Die Griechen“ sind zur Zeit in aller Munde. Keine Nachrichtensendung vergeht ohne ihre Erwähnung, keine Titelseite der Tageszeitung kommt ohne Neuigkeit von den Griechen aus – sie beherrschen viele Gesprächsrunden.
Im NT – obwohl in griechischer Sprache verfasst – kommen sie nur selten vor. Bei Paulus, in seinen Briefen ist häufiger von ihnen die Rede. Bei ihm wird den Griechen vor allem der Charakterzug der „Weisheit“ zugeschrieben. Allerdings nicht mit Bewunderung und Anerkennung unterlegt, sondern eher mit einer kritischen Bewertung: Ihre Weisheit ist es, die ihnen den Zugang zur Botschaft vom Tod und der Auferstehung Jesu versperrt. Ja noch schlimmer: In ihrer Weisheit suchen sie eigene Wege zum Heil, zum erfüllten ewigen Leben. Und was – aus der Sicht von Paulus dabei herauskommt – beschreibt er in Röm. 1,18 – 32 („Die Gottlosigkeit der Heiden“) – ja, hier werden die Griechen ohne wenn und aber mit den Heiden identifiziert: Alle Laster und Untugenden sieht er bei ihnen und schließt seine Aufzählung mit dem Urteil „Sie wissen, dass die solches tun, nach Gottes Recht den Tod verdienen.“ Kurz: Die Weisheit der Griechen führt sie auf direktem Weg ins Verderben.
Auch in der Apostelgeschichte werden die Griechen erwähnt. Hier sind allerdings nicht durchgängig negative Bewertungen damit verbunden. Wenn Paulus auf seinen Missionsreisen predigt, wird die Hörerschaft beschrieben als „Juden und Griechen“. Damit sind Christen gekennzeichnet, die nicht aus dem Judentum kommen, sondern – wie man sagt – Heidenchristen sind. Allerdings gibt es Stellen, an denen damit schlicht und einfach die Nationalität von Menschen – ihre Sprache, ihre Kultur – bezeichnet wird. Aber eben als Gruppe, die vom Judentum, der jüdischen Kultur und Religion zu unterscheiden ist.
In den synoptischen Evangelien (Mt, Mk und Lk) kommen sie überhaupt nicht vor. Im Johannesevangelium werden sie zweimal erwähnt. Eine dieser Stellen ist der heutige Predigttext aus Johannes 12,20-26. Wir erfahren darin nur wenig über ihr Denken. Sind sie noch „Heiden“, einer ganz und gar vernünftigen Weisheit verpflichtet, oder schon in Kontakt mit dem Judentum? Eines sagen sie von sich: „wir wollten Jesus gerne sehen”. Doch hören Sie selbst.
(Lesung des Predigttextes)
Dieser Abschnitt aus dem Johannesevangelium passt so gar nicht in die geläufige Bild- und Sprachwelt der Passionszeit. Kein Hinweis auf Folter und Kreuzigung, kein Hinweis auf die Heilsbedeutung des Blutes Jesu, keine Bezugnahme auf die aus dem Judentum kommenden Metaphern von Jesus als dem „Lamm Gottes“, dem „Sühnopfer“. Auch von der aus der Barockzeit stammenden Frömmigkeit der Versenkung in das Leiden Christi „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist hier nichts zu hören oder zu spüren. Es ist eine unblutige Rede vom Heilshandeln Gottes. Das Werk Jesu wird mit Bildern aus der Natur, dem Jahreskreislauf, dem Werden, Vergehen und neuen Wachstum veranschaulicht. Mir fällt die bekannte Episode aus dem Religionsunterricht einer 4. Klasse in der Passionszeit ein. Die Lehrkraft erzählt – mit aller Zurückhaltung – vom Leiden und Sterben Jesu. Worauf ein Kind sagt: „Für meine Sünden hätte Jesus nicht so schlimm leiden und sterben müssen”.
Mag sein, dass die vorliegende Perikope für unterrichtliche Zwecke besser geeignet ist als die synoptischen Passionstexte. Das dort erzählte Leiden und Sterben droht Hörerinnen und Hörer zu überwältigen. Die Botschaft von der Auferstehung, das wahre Zentrum des Evangeliums, scheint dahinter zu verschwinden. Unsere evangelische Frömmigkeit – unser höchster Feiertag ist der Karfreitag – scheint ganz besonders diesem Muster zu folgen. Ich glaube, dass wir diesen anderen Blick auf das Passionsgeschehen vor allem den „Griechen“ verdanken. Wenn sie schon Juden waren, dann auf alle Fälle solche, die noch keine tiefe Verwurzelung in den Bildern und Grundzügen des jüdischen Glaubens hatten. Noch stärker muss Jesus auf ihr Vorverständnis Rücksicht nehmen, wenn sie überhaupt noch keine Juden waren. Wenn sie eher einer vernünftigen Weltsicht und Weltdeutung verbunden waren. Oder wie es bei Paulus heißt: der Weisheit verpflichtet waren, die – so Paulus – freilich ins Verderben führt. Jesus bereitet sie auf das, was ihm bevorsteht, deshalb in einem Denken vor, zu dem man auch auf ihrem, dem „griechischen“ Weg, der Vernunft, einen Zugang finden kann. Das Werden und Vergehen in der Natur ist ein Vorgang, den alle beobachten können. Ein Vorgang, in dem wir gerade mitten drin stehen; ein Geschehen, der viele zum Bewundern bringt, zum Staunen, zum Schwärmen. Mir fällt dazu der bekannte Text aus Goethes Faust ein, wo Naturerleben und Auferstehungserfahrung ineinander übergehen:
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden belebenden Blick,
im Tale grünet Hoffnungsglück;……
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden”.
Noch an einer anderen Stelle des Predigttext deutet Jesus das, was ihm bevorsteht, mit sehr weltlichen, vernünftigen Worten und Bildern: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht”. Bei allem Staunen über die Fruchtbarkeit der Natur: Es kommt darin eine sehr profane, kaufmännische Logik zu Vorschein: Ich muss investieren, wenn ich einen Ertrag erwirtschaften will. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein.” Für den Landwirt, für den Kaufmann eine beängstigende Vorstellung. Und genau damit deutet Jesus seinen Weg: einen – scheinbaren – Verlust auf sich nehmen, um etwas Größeres zu gewinnen. Nicht ein blutiges Opfer, ein qualvolles Martyrium, wird den „Griechen“ vorgestellt, sondern ein schönes, lohnendes Engagement – freilich auf Hoffnung hin, freilich im Vertrauen darauf, dass der scheinbare Tod, der scheinbare Verlust nicht das Ende der Geschichte ist.
Der Schluss des Predigttextes erinnert uns als Hörerinnen und Hörer freilich daran, dass die Nachfolge – trotz aller schönen Bilder und Assoziationen – kein Sonntagmorgen-Spaziergang ist. Das eigene Leben lieben – das eigene Leben hassen: zwischen diesen schroffen Alternativen sieht Jesus den Weg der Nachfolge. Diese schroffen Gegenüberstellungen finden sich oft bei Johannes. Wir denken an den Prolog zu seinem Evangelium: Licht und Finsternis sind dort die Alternativen. In den Erzähltexten hören wir ebenfalls oft von den klaren Alternativen: Schon im Evangelium wird von den Reaktionen der damaligen Hörerinnen und Hörer berichtet. Sie sagen zum Beispiel: „Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören“ (Joh 6,60 ff) – Die Folge unter ihnen „So entstand seinetwegen Zwietracht im Volk”. Ich spüre diese Zweitracht im mir selbst. „Das eigene Leben lieben – das eigene Leben hassen“ – Wo verläuft mein Weg, Pfad meiner Nachfolge? Im Licht, im Dunkel, oder eher in einem Dämmerlicht zwischen Licht und Dunkel?
Ich werfe zur Beantwortung der Frage nach einer gelingenden Nachfolge einen Blick auf Hermann Maas, die Person, der wir diese Tagung widmen. Manches, was Jesus im Predigttext fordert, sehe ich bei H. Maas erfüllt: Er hat sein Weizenkorn ausgesät, etwas riskiert, ohne zu wissen, was daraus erwächst: Verachtung, Beschimpfung und KZ hat er auf sich genommen. Seine Freundschaft und Hilfebereitschaft gegenüber den Heidelberger Juden hat ihm den Titel „ein stadtbekannter Judenfreund“ eingebracht? Er hat die Missbilligung seiner Kirchenleitung in Kauf genommen, als er den Reichspräsident Ebert – obwohl aus der Kirche ausgetreten – beerdigt. Er war Mitglied bei den Freimaurern, was ihn suspekt machte. Nicht aus Sympathie für das Exotische, sondern als Zeichen der Solidarität mit Menschen, die der Kirche fern standen, aber nicht als antireligiös verstanden werden wollten. Und welche Früchte sind aus diesem Weizenkorn gewachsen? Er hat jüdischen Mitbürgern das Leben gerettet. Der Schimpfname „stadtbekannter Judenfreund“ ist zu einem Ehrentitel geworden. Brückenbauer zwischen Deutschland und Israel Name/Baum im „Hain der Gerechten“ in Yad Vashem. Nicht darauf aus, seinen Ruf zu retten oder aufzupolieren. Hätte er eine große kirchliche Karriere angestrebt, hätte er leiser und stromlinienförmiger auftraten müssen. Ich glaube, Jesus hat seine Freude an ihm gehabt. Dem Menschen, der dem Vorbild Weizenkorn folgt und sich selbst riskiert, um an seinem Ort Frucht zu bringen. Mir hilft sein Beispiel auf jeden Fall, die Suche nach gelingender Nachfolge nicht zu schnell im grauen Niemandsland zu beenden.
Es waren die Griechen, die Distanzierten, die noch auf dem Weg zu Jesus waren, die den Gottessohn zu diesen Sätzen brachten. Die Worte des Predigttextes haben auch mich erreicht; ich fühle mich wohl in der Gruppe dieser Griechen, die Jesus gerne sehen wollten. Ich fühle mich wohl in dieser Gemeinschaft der Jesussucher und danke ihnen für das, was sie Jesus entlockt haben.
(Predigt im Rahmen der GEE-Tagung in Ottenhöfen)
Für Teilnehmer (Lehrer und Lehrerinnen) sicher interessante Predigt. Schon wegen H. Maaß – der nicht Bischof, aber immerhin Prälat wurde. Schön, dass der Prediger von sich sprach. Wie aber wird die Nachfolge für Lehrer / Lehrerinnen aussehen?