“Lazarus vor deiner Tür”
Die "große Kluft" überwinden
Predigttext: Lukas 16,19-31 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.
Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.
Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß.
Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief:Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.
Abraham aber sprach:Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.
Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.
Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.
Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.
Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.
Vorbemerkung zum Predigttext
Bis heute wird diese Bibelgeschichte mit scheinbar plausiblen Argumenten beiseite geschoben. Das eine Argument wird gegen die darin vorkommende Unterscheidung zwischen dem menschlichen Ergehen in dieser und einer nach dem Tod jenseitigen Welt vorgebracht. Der Gedanke sei doch zu einfach, dass es dem, der hier in Armut lebt, in der anderen Welt gut und dem, der hier reich ist, dort schlecht geht.
Das andere Argument: Wer kann denn noch als aufgeklärter Mensch an die Hölle glauben! Ist diese Rede von der Hölle nicht pure Angstmacherei und leeres Drohen mit Strafen, welche "die Bösen" ereilen! Beide immer wieder vorgebrachte Argumente sind wirklich nur Scheinargumente, denn sie beachten nicht, dass es sich bei dieser Bibelgeschichte um ein Gleichnis handelt. Jesus geht es in diesem wie auch in seinen vielen anderen Gleichnissen nicht um das Leben nach dem Tod, sondern um unser Hier und heute.
Wir kennen dieses Gleichnis Jesu unter der Überschrift “Vom reichen Mann und armen Lazarus”. Wir leben im reichen Teil der Erde und scheinen dem reichen Mann näher zu sein als dem armen Lazarus.
Reich und arm
Zwei Drittel der Menschheit haben höchstens das Existenzminimum und liegen oft darunter. Reich und arm – wir dürfen diese in Jesus Gleichnis auftauchende Problematik in einer Zeit wachsender Armut und Verelendung eines großen Teils der Weltbevölkerung nicht ausklammern oder sie vorschnell spiritualisieren, d. h. sie auf die “innere” Armut und den “inneren” Reichtum beziehen. Beide Aspekte, der äußere und der innere Reichtum, die äußere und die innere Armut, gehören zusammen, lassen sich nicht voneinander trennen. Wer möchte sich schon mit dem Reichen in Jesu Gleichnis identifizieren, der offensichtlich sein Leben lang in Saus und Braus zubrachte. Dass er in Jesu Gleichnis nichteinmal einen Namen hat, mag andeuten, wie unwichtig Gott seine materiell orientierten Interessen sind.
Ebensowenig wie wir uns mit dem reichen Mann identifizieren möchten, scheint uns eine Identifizierung mit dem armen Lazarus möglich zu sein, diesem heruntergekommenen, diesem zerlumpten, im wahrsten Sinn “vor die Hunde gekommenen” Menschen. Dieser Mensch hat in Jesu Gleichnis einen Namen – und dies ganz bestimmt nicht ohne Grund. Denn dieser Arme ist Gott wichtig. “Lazarus” heißt er, was bedeutet: “Gott hilft”. Lazarus- Gott hilft? – Sind denn Arme besser als Reiche? Es kann doch nicht angehen, dass Gott z.B. ein Heer von Armen schafft, weil ihm Armut gefällt! Ganz bestimmt nicht.
Jesus verwirft also nicht den ehrlich verdienten Reichtum, aber er spricht die Gefahren an, die lauern, wenn der Reichtum die Wahrnehmung des Lebens, des “Lazarus vor deiner Tür”, z.B. das misshandelten Kindes, den kranken Nachbarn, den einsamen Menschen gegenüber, und seit Monaten wieder so aktuell: Tausende Menschen in den Schlauchboten auf dem Meer, Menschen, die ihr Leben riskieren, weil sie in ihrem Land keine Möglichkeit für ein menschenwürdiges Leben sehen und darum in Europa eine offene Tür suchen.
Hilfesuchende Menschen vor unserer Tür
Vor unserer Tür sitzen Menschen, und Gott bittet uns: Hilf, schau vor deine Tür, schau in die Welt und hilf! Gott hilft auch. Im Gleichnis wird es so geschildert: Der Arme starb, und die Engel trugen ihn an den Ort, wo das ewige Freudenmahl gefeiert wird; dort erhielt er den Ehrenplatz an der Seite Abrahams. Für den reichen Menschen hat sich nach dem Tod alles umgekehrt. Gottes Hilfe hat er im Leben nicht gebraucht, und jetzt erfährt er: Was ihm im Leben wichtig war, woran er hing, hat nach seinem Tod, in der jenseitigen Welt, jegliche Bedeutung verloren. Für den im Gleichnis geschilderten reichen Menschen kam diese Erkenntnis zu spät, dargestellt in der Rede von der “großen Kluft”. Jesus führt diese unüberwindbare Kluft gleichnishaft vor Augen, nicht um den reichen Menschen zu verdammen. Jesus möchte Menschen, die ähnlich wie der Reiche und seine Brüder leben, aufrütteln, sie zur Besinnung, zur Umkehr rufen. Sie alle haben die Chance, ihr Leben zu korrigieren.
Jesus fragt gleichsam: Wo ist der Reiche in dir, gegen den du ankämpfen musst? Wo ist der Lazarus in dir, der sich danach sehnt, wahrgenommen zu werden, Zuwendung zu empfangen und geholfen zu bekommen? Schnell kann sich das Leben ändern, dann kannst du morgen schon Lazarus sein. Welch ein Glück, wenn dich dann ein anderer Mensch wahrnimmt!
Wir brauchen keine Botschaft aus dem Jenseits
Mit Abrahams Antwort “Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören” sagt uns Jesus: Wir brauchen keine Botschaft aus dem Jenseits, um für unser Leben Orientierung zu bekommen – wir haben die Bibel. Niemand kann sich auf Nichtwissen berufen, wirklich niemand. Wie schwer ist es jedoch, andere zu warnen, sie aufzurütteln, ihnen zu raten, eigene Erfahrungen an sie weiterzugeben! Aber wir sollen es dennoch immer wieder beherzt tun. Hier und heute habe ich die Möglichkeit, die “große Kluft” zu überwinden. Mein Hören auf “Mose und die Propheten”, Inbegriff für die Thora, die gute Weisung Gottes, hilft mir dabei. “Ich habe Freude an deinen Geboten; sie sind meine Ratgeber”, bekennt der betende Mensch des 119. Psalms (Vers 24). In solcher Orientierung schaue ich mich um, sehe hin und nehme wahr, und ich fange dort an, wo ich lebe, in meinem persönlichen, gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld. Jesu Gleichnis ist wie sein ganzes Reden und Tun daraufhin gerichtet, dass wir hier und heute “das Leben haben, Leben in Fülle”.