Vom Kopf ins Herz

Dem anderen Menschen zum Nächsten werden - Neues Leben schenken

Predigttext: Lukas 10,25-37
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 30.08.2015
Kirchenjahr: 13. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Lukas 10, 25-37 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn [Jesus] und sprach:
Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
Er antwortete und sprach:»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).
Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus:Wer ist denn mein Nächster?
Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.
Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?
Er sprach:Der die Barmherzigkeit an ihm tat.
Da sprach Jesus zu ihm:So geh hin und tu desgleichen!

Zur Exegese

In der kath. Leseordnung ist Lk. 10,25-37 für den 15. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C, vorgesehen. Dazu gibt es eine gute Einführung auf „Kommentarniveau“ unter:
http://www.perikopen.de/Lesejahr_C/15_iJ_C_Lk10_25-37_Schneider.pdf
Auf diese Auslegung verweise ich hier nur.

zurück zum Textanfang

Heute zäumen wir das Pferd vom Schwanz auf! Wir lesen die Geschichte von ihrem Ende her.

Aufwachen

Da wacht ein Mensch auf. Fremde Umgebung, fremde Stimmen. Ein anderer Mensch sieht nach ihm. Was ist denn passiert? Wie komme ich hierher? Er schaut sich um, er hört das Knobeln draußen, Rauch liegt in der Luft: Er ist in einer Gaststätte. Der Wirt setzt sich an sein Bett. Der Kopf dröhnt. Alles tut weh. Langsam kommt die Erinnerung wieder. Da war doch diese schreckliche Wegstrecke. Und dann der Überfall. Es ging alles so schnell. Fast tot geschlagen, beraubt, an den Straßenrand geschmissen. Ab da an – Filmriss. Der Mann reibt sich die Augen, tastet sein Gesicht ab, fährt sich durch die strähnigen Haare. Kein Mensch weiß, wo er ist. Ob man schon nach ihm sucht? Ihn aufgegeben hat? Die Gedanken jagen sich. Er versucht, sich zu setzen. Es geht nicht. „Bleib liegen“, sagt der Wirt, „Hauptsache, du lebst!“ „Was ist mit mir“, fragt der Mann. Und der Wirt erzählt: „Ein Samariter auf der Durchreise hat dich gefunden, dich versorgt, dich nach hier gebracht. Er hat schon für dich gezahlt. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Schlaf wieder.“

Der Mann hat seinen Retter nie mehr gesehen, seinen Namen nicht erfahren, nie Danke sagen können. Aber es hat ihn auch nicht mehr losgelassen: Das Leben ist ihm neu geschenkt worden. Von einem, dem er es nie zugetraut hätte. Irgendwann rutscht es vom Kopf ins Herz: „Von dem hätte ich es nie gedacht, nie erwartet, nie gewollt …“
Die Menschen aus Samarien – Samariter eben – galten als verworfen, fast schon als „Erbfeinde“ und ließen sich vorzüglich als Negativfolie für so ziemlich alles gebrauchen. Selbst die Jünger haben Jesus einmal gefragt, ob man sie nicht mit Feuer ausrotten sollte … aber das ist eine andere Geschichte.

Erinnerung

Die Geschichte von hinten gelesen, ist so vielsagend offen. Wer war denn dieser Samariter? Was hat er in dieser Gegend gemacht? Hatte er nicht Angst, auch überfallen zu werden? Er ist einfach weg. Ich kann ihn nicht mehr fragen. Was er gemacht hat, ist aber gegenwärtig, lebt, wirkt weiter. Zugegeben: Große Taten werden von uns Menschen mit Namen verbunden. Zu dem Namen gehört ein Gesicht. Gesichter lassen sich zu Denkmälern formen. Gesichter können abgebildet werden. Gesichter werden wieder erkannt. Der barmherzige Samariter aber hat keinen Namen. Ihm fehlt das Gesicht. Was von ihm übrig bleibt, ist seine Herkunft: Samariter. Ein Fremder. Menschen fürchten sich vor seinen Gedanken, Überlieferungen und Erinnerungen. Samariter! Nicht einmal das Wort mochte man in den Mund nehmen. Die Trennung sollte für die Ewigkeit sein.

Dass heute ein Wohlklang auf dem Wort “Samariter” liegt, hat Jesus mit einer einfachen Geschichte auf den Weg gebracht: Der Samariter wendet sich dem Überfallenen zu. Liebevoll erzählt Jesus sogar die Einzelheiten. Er jammert ihn! Er geht zu ihm hin! Er versorgt die Wunden und verbindet sie! Er hebt ihn auf! Er bringt ihn in eine Herberge! Er pflegt ihn! Der Samariter hat nicht gefragt: „Wer bist du? Woher kommst du? Was denkst du?“ Er hat auch nicht gefragt, wer sein Nächster sei – er hat aber alles getan, einem anderen Menschen ein Nächster zu sein. Ein Vertrauter. In der Barmherzigkeit. In der Zuwendung. Es gibt jetzt keine Grenzen mehr. Der barmherzige Samariter schenkt neue, gute Erinnerungen. Es mag sein, dass die Geschichte, von hinten gelesen, so vielsagend offen ist. Aber eins durchzieht diese Geschichte wie ein roter Faden, wie ein Grundakkord: Barmherzigkeit ist, wenn ein Mensch dem anderen zum Nächsten wird, sich ihm zuwendet, ihm gibt, was er jetzt braucht. Ohne Ansehen der Person.

Schriftgelehrte unter sich

Eigentlich wächst die Geschichte in einem Lehrgespräch, genauer: in einem Streitgespräch. Jesus wird herausgefordert. Ein Schriftgelehrter fordert ihn. Lukas formuliert sogar: „versuchte ihn“. Seine Frage, alles andere als banal: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe”. Eine kluge Frage von einem Schriftgelehrten. Schließlich haben sie doch Zeit genug gehabt, sich den großen Fragen zu stellen. Nur so einfach ist das nicht. Wenn es darum geht, was ich „tun“ muss, helfen auch Gelehrsamkeit, Erfahrung und Ansehen nicht. Was ich „tun“ muss, steht auch in keinem Buch, auf keiner Internetseite, das habe ich nicht einmal als Vorrat in meinem Kopf.

Jesus erinnert den Schriftgelehrten, der ihn mit Meister anredet, an das, was „geschrieben“ ist. Das ist dann auch schnell zitiert. Einwände sind nicht zu erwarten. Gemeinsame Meinung eben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. Das höchste Gebot, sagt man. Es fasst alles zusammen. Immer wieder heißt es: „ganz“ – ganzes Herz, ganze Seele, alle Kräfte, ganzes Gemüt. Der ganze Mensch soll Gott ungeteilt lieben – und den Nächsten wie sich selbst.
Die Schriftgelehrten unter sich wissen: Gott hat auch ganz und gar seine Majestät, Größe und Herrlichkeit seinem Volk zugewandt, sich an Menschen gebunden, sich in seiner Freiheit festgelegt. Gott hat alles gegeben! Sich selbst! Er hat nichts für sich zurückbehalten, reserviert oder versteckt. Ganz! Alles! Jesus sagt darum auch: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben”.

Eigentlich könnte das Lehrgespräch in einem vollen Einvernehmen der Gelehrten enden, wenn nicht, ja, wenn nicht die Frage aufgekommen wäre: „Wer ist denn mein Nächster?“ Lukas erzählt das zwar so, als sei die Frage rhetorisch gestellt. Es heißt bei ihm: „Er aber wollte sich selbst rechtfertigen”. Aber für Jesus ist die Frage so echt (und so wichtig!), dass er dazu eine Geschichte erzählen muss. „Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen … ”

Der Schriftgelehrte hört aufmerksam zu. Ob er wohl schluckte, als Jesus erzählt, dass Priester und Levit vorübergehen? Nicht nur vorübergehen – nein, einen großen Bogen um ihn machen! Sozusagen auf der anderen Seite des Weges. Dabei immer betont: „und als er (der Priester, der Levit) ihn sah“. Die beiden Herren sind nicht in Gedanken versunken. Sie sehen – und gehen weiter. Ob sie nicht wussten, was geschrieben steht? Wohl kaum. Hatten sie keine Zeit? Eine schlechte Ausrede. Wollten sie sich nicht verunreinigen, sozusagen sauber zum Dienst erscheinen? Aber man lässt doch keinen Menschen links liegen, und dann auch noch „halbtot“. Nein, Beweggründe lässt Jesus nicht einmal zu. Sie haben „gesehen“! Gesehen!

Der Samariter aber, dem kein guter Ruf vorauseilte, dem kein guter Gedanken entgegenkam, vom dem man keine Barmherzigkeit erwartete und ihm auch keine Gnade gewährte – der hielt auf seinem Weg an. Liebevoll kümmert er sich um den übel Zugerichteten. Die alten Pfade und Denkmuster sind auf einmal weg. In den Klauen der Räuber verschwunden Eine Frage bestimmt jetzt Richtung und Ziel: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Nur eine Antwort ist möglich. Nach den Gesetzen der Logik ebenso wie nach dem Lauf der Geschichte: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat!“ Stand noch die Frage im Raum „Wer ist mein Nächster“ (womöglich sogar fingiert), hat Jesus die Geschichte so erzählt, dass am Ende herauskommt: Wer ist wem Nächster? Wem bin ich Nächster? Eine verwandelte Frage – mit überraschenden Perspektiven! Wer fragt: „Wer ist mein Nächster?“, fragt auch: „Wer ist es nicht?“ Und lässt sich Türen offen. Ich entscheide dann von Fall zu Fall. Ich suche mir den Nächsten aus. Ich könnte sogar Gründe benennen. Wer sich aber fragt: „Wem bin ich Nächster?“, findet sich in einer Beziehung vor, die gegeben ist. Der kann schuldig werden, sich verantworten, einen neuen Anfang wagen. Aber eins kann er nicht: sich heraushalten, sich hinter Ausreden verbergen, sich frei sprechen. Vor allem: Der andere Mensch steht nicht zur Wahl.

Was aus dem Lehrgespräch herauskommt? Veränderte Menschen! Das gleiche tun – der Schriftgelehrte weiß noch nicht, wie es ihm damit ergehen wird. Schade, Lukas erzählt nichts mehr davon. Sicher ist: Es kann keiner mehr so bleiben, wie er vorher war. Alle kommen verändert aus dieser Geschichte heraus: Der Samariter, der Priester, der Levit, aber auch der Überfallene – und eben der Schriftgelehrte. Die Geschichte trennt nicht, verurteilt nicht, bringt aber zusammen – und öffnet die Augen und Herzen. Das höchste Gebot selbst birgt eine große Geschichte in sich: Gott ist dir Nächster geworden. Er hat dich gesehen und sich in dich verliebt. Er kann dich nicht mehr lassen.

Der Samariter ist ein Türke

Darf ich auch hinten aufhören? Da, wo die Geschichte ihr Ziel erreicht hat? Als der, der unter die Räuber gefallen war, geheilt die Gaststätte verließ, erzählte er allen, was ihm passiert war. Wie ein verlorener Sohn kommt er nach Hause. Ein Samariter sei es gewesen, der ihm das Leben gerettet habe, erzählt er. Mehr weiß er nicht. Die Leute sehen ihn an, sehen sich an. Ihr Stammtischgeschwätz kommt auf einmal nicht mehr gut an. Ein Samariter? Übrigens: Von Priester und Levit weiß der Mann nichts. Einer hat gesehen, dass sie „sahen“, aber der hat nichts verraten. Dem Mann jedenfalls nicht. Wozu das wohl gut ist, das wir es wissen?

In einer mittelalterlichen Bibelillustration – nicht nur für die Leute, die nicht lesen können – wird die Geschichte vom barmherzigen Samariter so dargestellt: Der Levit – ein Mönch / der Samariter – ein Türke. Der Künstler kannte die Angst vor den Türken. Sie schickten sich an, das Abendland zu erobern. Damals. Sie standen schon vor der Tür. In der Bibelillustration aber bekommt ihr Bild neue, ungewohnte Züge. Jesus erzählt die Geschichte von dem barmherzigen Türken, der einem Christenmenschen zum Nächsten wird. Welche Figuren wollen wir heute in die Geschichte bringen? Feindbilder haben wir doch genug! Wir könnten uns die Geschichte dann noch einmal neu erzählen. Von hinten wollte ich anfangen, hinten wollte ich auch aufhören – ich glaube, ich bin jetzt vorne angekommen.

Der Friede Gottes, der größer ist alles, was wir denken können, schenke unseren Füßen einen weiten Raum, unseren Händen Kraft und Barmherzigkeit für unsere Herzen in Christus Jesus, unserem Herrn.

zurück zum Textanfang

Ein Kommentar zu “Vom Kopf ins Herz

  1. Pastor Heinz Rußmann

    Sehr originell und überzeugend predigt Pfarrer Wussow über das Gleichnis vom Samariter. Indem er die sehr bekannte Geschichte von hinten aufrollt, klingt sie ganz neu. Schritt für Schritt hört man gerne hin. Dass der Samariter heute vielleicht ein Türke ist, macht nachdenklich. An einer Stelle predigt Pfarrer Wussow tiefsinnig, dass Gott selbst wie ein barmherziger Samariter für uns eintritt. Das könnte man noch unterrstreichen: Jesus erzählt die Geschichte vom Samariter und handelt selbst als Gottes Sohn überall wie der barmherzige Samariter. Eine schöne, originelle und prägnant formulierte und verständliche Predigt!

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.