Dem Gegner den Wind aus den Segeln nehmen
Mich aus der Opferrolle herausholen lassen, ohne selbst zum Täter zu werden
Predigttext Matthäus 5, 38-48 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
38 Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): "Auge um Auge, Zahn um Zahn." 39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.
40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.
41 Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.
42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3. Mose 19,18): "Du sollst deinen Nächsten lieben" und deinen Feind hassen.
44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,
45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?
47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?
48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Vorüberlegung
Wenn wir Menschen uns ungerecht behandelt fühlen, wünschen wir uns Wiedergutmachung. Gleiches mit Gleichem zu vergelten erscheint da auf den ersten Blick nur gerecht. Wenn wir auf Unrecht mit einem ebensolchen Unrecht reagieren, wird aus dem Opfer auch ganz schnell selbst der Täter. Böses wird nicht dadurch besser, wenn wir es unserem Feind antun. Wir fühlen uns dann auch nicht dauerhaft besser. Für einen kurzen Moment ist da vielleicht eine Genugtuung spürbar, doch Dauerhaften Seelenfrieden finden wir nur im barmherzigen Umgang miteinander.
Familie Meier wohnte im dritten Stock mitten in der Stadt in einem Mietshaus und hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, auch mit Dörfelts von gegenüber verband sie eine jahrelange Freundschaft, bis die Frau Dörfelt sich kurz vor dem Fest eine Bratpfanne auslieh und nicht zurückbrachte. Als die Mutter dreimal vergeblich gemahnt hatte, wurde sie wütend, und sie sagte auf der Treppe zu einer Nachbarin, Frau Dörfelt sei eine Schlampe. Irgendwer hatte das wohl den Dörfelts zugetragen, denn am nächsten Tag überfielen deren Söhne den jüngsten Sohn der Familie Meier und prügelten ihn windelweich. Sein Bruder stand gerade im Hausflur, als der Geprügelte ankam und heulte. In diesem Moment trat Frau Dörfelt drüben aus der Haustür. Also lief er wütend über die Straße, packte ihre Einkaufstasche und stülpte sie ihr über den Kopf. Sie schrie aufgeregt um Hilfe, als sei sonst etwas los, nur weil sie ein paar Milchflaschen in der Tasche gehabt hatte, die nun zerbrochen waren. Herr Dörfelt kam just in diesem Moment mit dem Wagen angefahren. Er erwischte zwar nicht den Jungen, der seiner Frau die Tasche über den Kopf gestülpt hatte, aber dafür dessen Schwester und er schlug ihr ins Gesicht und zerriss dabei ihren Rock. Das Geschrei lockte nun die Mutter ans Fenster, und als sie sah, wie Herr Dörfelt mit ihrer Tochter umging, warf sie mit Blumentöpfen nach ihm. Von der Stunde an herrschte erbitterte Feindschaft zwischen den beiden Familien.
Weil Familie Meier den Dörfelts nicht über den Weg trauen, installierte der älteste Sohn, der bei einem Optiker in die Lehre ging, ein Scherenfernrohr am Küchenfenster. Da konnte die Mutter Meier, wenn die andern alle unterwegs waren, die Dörfelts beobachten. Augenscheinlich verfügten diese über ein ähnliches Instrument, denn eines Tages schossen sie von drüben mit einem Luftgewehr herüber. Ein Sohn der Meiers erledigte das feindliche Fernrohr dafür mit einer Kleinkaliberbüchse. An diesem Abend ging der VW der Meiers unten im Hof die Luft. Vater Meier, der immer für den Ausgleich eintrat, meinte nun: „Wir sollten uns jetzt aber doch an die Polizei wenden…“
Mutter Meier passte das jedoch nicht, denn Frau Dörfelt verbreitete inzwischen in der ganzen Straße, die gesamte Familie Meier sei derart schmutzig, dass jeder mindestens zweimal jede Woche badete und also für das hohe Wassergeld, das die Mieter zu gleichen Teilen zahlen müssen, verantwortlich sei. Es wurde also beschlossen, den Kampf aus eigener Kraft in aller Härte aufzunehmen, und die gesamte Nachbarschaft verfolgte gebannt den Fortgang des Streites … Dieser Erzählung „Nicht alles gefallen lassen“ von Gerhard Zwerenz antwortet unser Predigttext.
(Lesung des Predigttextes)
„Der hat mich aber auch geschubst…“ Diese Antwort gibt mir mein vierjähriger Sohn mit schöner Regelmäßigkeit, wenn ich ihn rüge, weil er im Kindergarten mit einem anderen Kind Streit angefangen hat. Immer wieder versuche ich ihm so gut es eben geht deutlich zu machen, dass sein Gegenüber dann wahrscheinlich ebenso wieder zurückhaut wird, wenn er Gleiches mit Gleichem vergelten möchte. Gewalt zieht immer eine Spirale der Gewalt hinter sich her – genau wie in der erzählten Geschichte. Manchmal da geht es uns aber auch einfach gegen den Strich, wenn ein anderer immer wieder durchkommt mit seinen Gemeinheiten, wenn einer die eigene Gutmütigkeit so ausnutzt und immer wieder seinen Willen bekommt, auf Kosten der anderen. Wenn immer der Gleiche der Aggressor ist … Da schwillt einem doch der Kamm! Da übermannt uns diese hilflose Wut. Da will man sich doch wehren können …
Jesus will uns mit seinen Worten im Matthäusevangelium aber gar nicht wehrlos den Anfeindungen anderer ausliefern. Er möchte damit gar nicht sagen: Ein Mensch muss alles klaglos erdulden. Nein, vielmehr ermutigt er mit seinen Worten, sich eben nicht bis zum Äußersten auszuliefern und ausnutzen zu lassen. Nein, uns soll Gerechtigkeit widerfahren. Jesus sagt: Wenn jemand mit dir rechten und dir den Rock nehmen will, dem lass auch deinen Mantel. Das Untergewand, der Rock, ist nicht so wertvoll wie das Obergewand, der Mantel. Nach jüdischem Recht war der Mantel unpfändbar, denn er diente nicht nur als Kleidungsstück, sondern auch als Decke für die Nacht. Wenn Jesus nun also sagt: „Du willst meinen Rock haben, komm, nimm auch noch meinen Mantel,” dann führt er den Kläger vor. Nähme der auch den Mantel, so stünde der Beklagte nackt vor seinem Widersacher und der Kläger würde dadurch vielleicht merken, dass er eine Grenze überschritten hat. Es ist nämlich nicht recht, einem Menschen alles zu nehmen, bis er schließlich gar nichts mehr hat.
Bei den Beispielen, die Jesus nennt, geht es ihm darum, dem Gegner den Wind aus den Segeln zu nehmen. Jesus will die Opfer aus der Opferrolle herausholen, ohne dass sie selbst zum Täter werden müssen. Um in Frieden miteinander zu leben, darf man sich nicht so verhalten, wie der Feind es tut. Gewalt führt zu Gegengewalt, und die Situation droht zu eskalieren. Daher fordert Jesus zu Feindesliebe auf: “Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen”. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ gehört mit zu den Grundpfeilern des Judentums. Jesus schließt nun mit seinem Aufruf ausdrücklich die Feinde in die Nächstenliebe mit ein. Dieses Gebot ist ohne Frage wohl das allerschwerste. Wer ohnmächtig körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt ist, beginnt seinen Gegner zu hassen. Dieser Hass bohrt sich tief ins Herz, als hätte jemand einen vergifteten Pfeil mitten hinein geschossen. Hass macht blind und krank. Jesus gebietet Feindesliebe nicht zum Schutz für die Feinde. Nein, Jesus will uns damit vor uns selbst schützen. Davor, dass uns unserer eigener Hass zerfrisst, wenn wir uns am Verhalten unserer Feinde orientieren. Wir sollen uns da vielmehr an Gott halten, denn Gott lässt die Sonne scheine über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Gottes Handeln wird nicht von menschlichen Qualitäten bestimmt. Er lässt sich nicht von bösen Menschen bestimmen. Bosheit und Ungerechtigkeit sind nicht Maßstab seines Handelns. Gott ist barmherzig. Er handelt so wie er will. Das ist seine Freiheit, die er walten lässt. Auch der Feind ist ein von Gott geliebter Mensch. Die Liebe, die Gott zu mir und allen Menschen hat, wird dann zum Maßstab meines Handelns. Auch der Feind ist in Gottes Liebe eingeschlossen. Daher sollte nicht „Wie du mir, so ich dir” gelten, sondern ein: „Wie Gott mir so ich dir”. Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten, heißt auch, dem Feind nicht mit seinen bösen Taten gleich werden zu wollen. Unser Streben soll nicht sein, wie der Feind zu werden, sondern wir sollen Gott nachfolgen. Nicht eigenes Interesse mit Gewalt durchsetzen wollen wie der Feind, sondern barmherzig sein, auch mit dem ungeliebten Gegner. Dann befreien wir uns von allem, was unser Herz vergiften kann, und wir überwinden die Spirale aus Hass.
“Darum sollt ihr vollkommen sein, wie Gott im Himmel vollkommen ist.” Vollkommen werden wie Gott, das ist ein hoher Anspruch. Können wir das jemals erreichen? Wenn Matthäus von Vollkommenheit spricht, so ist damit nicht eine absolute Fehlerlosigkeit und totale Perfektion gemeint. Nein, ich denke nicht, dass Gott erwartet, dass wir in allem so handeln können, wie er es tut. Wir dürfen in unserer eigenen Schwachheit auch mit uns selbst barmherzig sein. Wir würden uns hoffnungslos überfordern, wenn wir Fehlerlosigkeit von uns erwarteten. Ein gläubiger Mensch kann aber in seinem Herzen vollkommen mit Gott leben, das heißt: sein ganzes Herzen auf Gott ausrichten. Wir dürfen von Gott lernen, gütig und barmherzig zu sein wie er. Das hat Auswirkungen für unser Verhalten gegenüber anderen Menschen. Dann überwindet Feindesliebe Hass und Gewalt. Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Mit einer Geschichte von einer alltäglichen Steigerung der Vergeltung zwischen Nachbarn beginnt die Predigt von Pfarrerin Mager. Gewalt zieht gewöhnlich eine Spirale sich ständig steigernder Gewalt und Gegengewalt nach sich. Agressoren erzeugen viel Wut bei uns, gegen die wir uns wehren möchten. Jesus möchte nicht, dass wir wehrlos sind. Seine Methode ist, den Agressor dadurch zu entwaffnen, dass wir gleich am Anfang dem Gegner das Geforderte geben. Der merkt, dass er Grenzen überschritten hat, und nimmt sich zurück. Jesus nennt noch mehr Beispiele, wie wir dem Gegner den Wind aus den Segeln nehmen. Nur Feindesliebe verhindert Eskalation. Jesus schliesst die Feinde ausdrücklich ins Gebet ein. Wer Gewalt ausgesetzt ist, beginnt zu hassen. Da sollten wir uns an Gott erinnern. Gott ist barmherzig. Daraus folgt: Nicht wie Du mir, so ich Dir, sondern: wie Gott mir, so ich Dir. Nur so gibt es keine Spirale der Vergeltung. Zum Schluss sagt Pfarrerin Mager, dass Jesu Forderung: vollkommen sein wie Gott, ein hoher Anspruch ist. Wir können aber von Gott lernen und mit Feindesliebe Hass und Gewalt überwinden. – Das immer wieder schwierige und anspruchsvolle Thema Feindesliebe ist in der Predigt überzeugend bearbeiter. Gern hätte ich noch konkrete und aktuelle Beispiele dazu gehört. In meiner Heimatstadt hatte ein Radfahrer nur leicht den Spiegel eines Autos geschrammt. Die erst vebale Beschimpfung steigerte sich so, dass der Radfahrer sein Fahrrad in die Windschutzscheibe des Autos warf und er und der Fahrer danach im Krankenhaus landeten. Ausserdem hätte ich gern etwas gehört zu: Was heißt Feindesliebe bei den mörderischen IS-Leuten heute? Jeder Christ schließlich kennt Beispiele, wo Feindesliebe Schlimmeres verhindert hat.