” … ich sehe den Himmel offen … “

2.Christtag - Gedenktag des Erzmärtyrers Stephanus

Predigttext: Apostelgeschichte (6,8-15) 7,55-60
Kirche / Ort: Worms
Datum: 26.12.2015
Kirchenjahr: Christfest (2)
Autor/in: Pfarrerin Dorothea Zager

Predigttext: Apostelgeschichte (6,8-15) 7,55-60

(Ich empfehle als Lesung Apg 6,1-15 und 7,54-60. Wer mutig ist, liest auch die komplette Rede des Stephanus mit, Apg 7,1-53. Diese Lesung kann unterbrochen werden durch Strophen des Liedes EG 241.)

EG 241,1+2

Die Wahl der sieben Armenpfleger (Apg 6,1-7)
1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.
2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen.
3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst.
4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.
5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia.
6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.
7 Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

EG 241,3+4

Stephanus vor dem Hohen Rat (Apg 6,8-15)
8 Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk.
9 Da standen einige auf von der Synagoge der Libertiner und der Kyrenäer und der Alexandriner und einige von denen aus Zilizien und der Provinz Asien und stritten mit Stephanus.
10 Doch sie vermochten nicht zu widerstehen der Weisheit und dem Geist, in dem er redete.
11 Da stifteten sie einige Männer an, die sprachen: Wir haben ihn Lästerworte reden hören gegen Mose und gegen Gott.
12 Und sie brachten das Volk und die Ältesten und die Schriftgelehrten auf, traten herzu und ergriffen ihn und führten ihn vor den Hohen Rat
13 und stellten falsche Zeugen auf, die sprachen: Dieser Mensch hört nicht auf, zu reden gegen diese heilige Stätte und das Gesetz.
14 Denn wir haben ihn sagen hören: Dieser Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören und die Ordnungen ändern, die uns Mose gegeben hat.
15 Und alle, die im Rat saßen, blickten auf ihn und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht.

EG 241,5+6

Die Rede des Stephanus (Apg 7,1-53)
1 Da fragte der Hohepriester: Ist das so?
2 Er aber sprach: Liebe Brüder und Väter, hört zu. Der Gott der Herrlichkeit erschien unserm Vater Abraham, als er noch in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte,
3 und sprach zu ihm (1.Mose 12,1): »Geh aus deinem Land und von deiner Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich dir zeigen will.«
4 Da ging er aus dem Land der Chaldäer und wohnte in Haran. Und als sein Vater gestorben war, brachte Gott ihn von dort herüber in dies Land, in dem ihr nun wohnt,
5 aber er gab ihm kein Eigentum darin, auch nicht einen Fußbreit, und verhieß ihm, er wolle es ihm und seinen Nachkommen zum Besitz geben, obwohl er noch kein Kind hatte.
6 Denn so sprach Gott (1.Mose 15,13-14): »Deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem fremden Lande, und man wird sie knechten und misshandeln vierhundert Jahre lang.
7 Aber das Volk, dem sie als Knechte dienen müssen, will ich richten«, sprach Gott, »und danach werden sie ausziehen und mir dienen an dieser Stätte.«
8 Und er gab ihm den Bund der Beschneidung. Und so zeugte er Isaak und beschnitt ihn am achten Tage, und Isaak den Jakob, und Jakob die zwölf Erzväter.

9 Und die Erzväter beneideten Josef und verkauften ihn nach Ägypten. Aber Gott war mit ihm
10 und errettete ihn aus aller seiner Bedrängnis und gab ihm Gnade und Weisheit vor dem Pharao, dem König von Ägypten; der setzte ihn zum Regenten über Ägypten und über sein ganzes Haus.
11 Es kam aber eine Hungersnot über ganz Ägypten und Kanaan und eine große Bedrängnis, und unsre Väter fanden keine Nahrung.
12 Jakob aber hörte, dass es in Ägypten Getreide gäbe, und sandte unsre Väter aus zum ersten Mal.
13 Und beim zweiten Mal gab sich Josef seinen Brüdern zu erkennen; so wurde dem Pharao Josefs Herkunft bekannt.
14 Josef aber sandte aus und ließ seinen Vater Jakob holen und seine ganze Verwandtschaft, fünfundsiebzig Menschen.
15 Und Jakob zog hinab nach Ägypten und starb, er und unsre Väter;
16 und sie wurden nach Sichem herübergebracht und in das Grab gelegt, das Abraham für Geld gekauft hatte von den Söhnen Hamors in Sichem.

17 Als nun die Zeit der Verheißung sich nahte, die Gott dem Abraham zugesagt hatte, wuchs das Volk und mehrte sich in Ägypten,
18 bis ein andrer König über Ägypten aufkam, der nichts wusste von Josef.
19 Dieser ging mit Hinterlist vor gegen unser Volk und misshandelte unsre Väter und ließ ihre kleinen Kinder aussetzen, damit sie nicht am Leben blieben.
20 Zu der Zeit wurde Mose geboren und er war ein schönes Kind vor Gott und wurde drei Monate ernährt im Hause seines Vaters.
21 Als er aber ausgesetzt wurde, nahm ihn die Tochter des Pharao auf und zog ihn auf als ihren Sohn.
22 Und Mose wurde in aller Weisheit der Ägypter gelehrt und war mächtig in Worten und Werken.
23 Als er aber vierzig Jahre alt wurde, gedachte er, nach seinen Brüdern, den Israeliten, zu sehen.
24 Und er sah einen Unrecht leiden; da stand er ihm bei und rächte den, dem Leid geschah, und erschlug den Ägypter.
25 Er meinte aber, seine Brüder sollten's verstehen, dass Gott durch seine Hand ihnen Rettung bringe; aber sie verstanden's nicht.

26 Und am nächsten Tag kam er zu ihnen, als sie miteinander stritten, und ermahnte sie, Frieden zu halten, und sprach: Liebe Männer, ihr seid doch Brüder; warum tut einer dem andern Unrecht?
27 Der aber seinem Nächsten Unrecht getan hatte, stieß ihn von sich und sprach (2.Mose 2,14): »Wer hat dich zum Aufseher und Richter über uns gesetzt?
28 Willst du mich auch töten, wie du gestern den Ägypter getötet hast?«
29 Mose aber floh wegen dieser Rede und lebte als Fremdling im Lande Midian; dort zeugte er zwei Söhne.
30 Und nach vierzig Jahren erschien ihm in der Wüste am Berge Sinai ein Engel in einer Feuerflamme im Dornbusch.
31 Als aber Mose das sah, wunderte er sich über die Erscheinung. Als er aber hinzuging zu schauen, geschah die Stimme des Herrn zu ihm (2.Mose 3,5-10):
32 »Ich bin der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs.« Mose aber fing an zu zittern und wagte nicht hinzuschauen.
33 Aber der Herr sprach zu ihm: »Zieh die Schuhe aus von deinen Füßen; denn die Stätte, auf der du stehst, ist heiliges Land!
34 Ich habe gesehen das Leiden meines Volkes, das in Ägypten ist, und habe sein Seufzen gehört und bin herabgekommen, es zu erretten. Und nun komm her, ich will dich nach Ägypten senden.«
35 Diesen Mose, den sie verleugnet hatten, als sie sprachen: »Wer hat dich als Aufseher und Richter eingesetzt?«, den sandte Gott als Anführer und Retter durch den Engel, der ihm im Dornbusch erschienen war.
36 Dieser Mose führte sie heraus und tat Wunder und Zeichen in Ägypten, im Roten Meer und in der Wüste vierzig Jahre lang.
37 Dies ist der Mose, der zu den Israeliten gesagt hat (5.Mose 18,15): »Einen Propheten wie mich wird euch der Herr, euer Gott, erwecken aus euren Brüdern.«
38. Dieser ist's, der in der Gemeinde in der Wüste stand zwischen dem Engel, der mit ihm redete auf dem Berge Sinai, und unsern Vätern. Dieser empfing Worte des Lebens, um sie uns weiterzugeben.
39 Ihm wollten unsre Väter nicht gehorsam werden, sondern sie stießen öihn von sich und wandten sich in ihrem Herzen wieder Ägypten zu
40 und sprachen zu Aaron (2.Mose 32,1): »Mache uns Götter, die vor uns hergehen; denn wir wissen nicht, was diesem Mose, der uns aus dem Lande Ägypten geführt hat, widerfahren ist.«
41 Und sie machten zu der Zeit ein Kalb und opferten dem Götzenbild und freuten sich über das Werk ihrer Hände.

42 Aber Gott wandte sich ab und gab sie dahin, sodass sie dem Heer des Himmels dienten, wie geschrieben steht im Buch der Propheten (Amos 5,25-27): »Habt ihr vom Hause Israel die vierzig Jahre in der Wüste mir je Opfer und Gaben dargebracht?
43 Ihr trugt die Hütte Molochs umher und den Stern des Gottes Räfan, die Bilder, die ihr gemacht hattet, sie anzubeten. Und ich will euch wegführen bis über Babylon hinaus.«
44 Es hatten unsre Väter die Stiftshütte in der Wüste, wie der es angeordnet hatte, der zu Mose redete, dass er sie machen sollte nach dem Vorbild, das er gesehen hatte.
45 Diese übernahmen unsre Väter und brachten sie mit Josua in das Land, das die Heiden innehatten, die Gott vertrieb vor dem Angesicht unsrer Väter, bis zur Zeit Davids.
46 Der fand Gnade bei Gott und bat darum, dass er eine Stätte finden möge für das Haus Jakob.
47 Salomo aber baute ihm ein Haus.
48 Aber der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, wie der Prophet spricht (Jesaja 66,1-2):
49»Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße; was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen«, spricht der Herr, »oder was ist die Stätte meiner Ruhe?
50 Hat nicht meine Hand das alles gemacht?«
51 Ihr Halsstarrigen, mit verstockten Herzen und tauben Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem Heiligen Geist, wie eure Väter, so auch ihr.
52 Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die zuvor verkündigten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid.
53 Ihr habt das Gesetz empfangen durch Weisung von Engeln und habt's nicht gehalten.

EG 241,7+8

Der Tod des Stephanus (Apg 7,54-60)
54 Als sie das hörten, ging's ihnen durchs Herz und sie knirschten mit den Zähnen über ihn.
55 Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes
56 und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.
57 Sie schrien aber laut und hielten sich ihre Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein,
58 stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines jungen Mannes, der hieß Saulus,
59 und sie steinigten Stephanus; der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!
60 Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied er.

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Wie ähnlich ist doch das Schicksal des Stephanus dem Schicksal Jesu! Zunächst ist Stephanus beliebt unter den Menschen. Voller Kraft und Herzenswärme verkündigt er das Wort Gottes. Stephanus ist nicht nur mit Redegewandtheit beschenkt, sondern auch mit der Gabe, Wunder zu tun. Und die Menschen sind begeistert. Die Schar derer, die zum Glauben gekommen sind, wird größer und größer. Mit dem Erfolg wächst aber auch der Neid der Neider und die Feindschaft derer, die ihm misstrauen. Ist das nicht fast genauso wie mit Jesus? Er wird vor Gericht gestellt, vor den Hohen Rat, genauso wie seinerzeit Jesus. Und was geschieht? Gekaufte Zeugen sagen gegen ihn aus. Seine flammende Verteidigungsrede berührt die Menschen und trifft sie mitten ins Herz. Dann aber endet seine Rede in einem Eklat: Während Stephanus noch redet, sieht er in einer Vision wie Jesus zur Rechten Gottes steht. Wie als wolle er seine Zuhörern aufrütteln, „Seht doch, ich habe Recht! Jesus selbst kommt mir zur Verteidigung zur Hilfe!“, schildert er seinen Zuhörern, was er sieht. Da ist bei den Menschen das Maß voll. Empört und aufgebracht über diese gotteslästerlichen Reden jagen sie Stephanus aus der Stadt und töten ihn. Ehe Stephanus unter den Einschlägen der Steine stirbt, fleht er Gott an um Aufnahme in sein Reich und bittet um Vergebung für seine Peiniger.
Mit der Vergebungsbitte an seine Mörder stirbt er.

Wie ähnlich ist doch das Schicksal des Stephanus mit dem Schicksal Jesu! Und es sollten nicht die einzigen bleiben. Mutig und voller Herzenswärme sind sie für ihren Glauben eingetreten. Sie haben sich nicht beirren lassen von Verfolgungen, Repressionen und Todesandrohungen. Und viele haben diese Glaubenstreue mit ihrem Leben bezahlt. Nur wenige Namen möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen. Wenn ich sie ausspreche, erfüllen mich tiefe Ehrfurcht und Bewunderung für Glaubensstärke und Todesmut: Maximilian Kolbe, Jochen Klepper, Dietrich Bonhoeffer. Aber glauben wir nicht, dass mit dem Ende des Nationalsozialismus das Leiden verfolgter Christen ein Ende genommen hätte. Wie sehr ähneln das Schicksal Jesu und das Schicksal des Stephanus, das Schicksal der Widerstandskämpfer des letzten Jahrhunderts dem der vielen verfolgten Christenmenschen unserer dieser Tage. Und Papst Franziskus hat das sehr treffend gesagt: „Es ist nicht erforderlich, in die Katakomben oder ins Kolosseum zu gehen, um die Märtyrer zu finden: die Märtyrer leben jetzt, in zahlreichen Ländern. Die Christen werden ihres Glaubens wegen verfolgt. In einigen Ländern ist es ihnen untersagt, ein Kreuz zu tragen: sie werden bestraft, wenn sie es doch tun. Heute, im 21. Jahrhundert, ist unsere Kirche eine Kirche der Märtyrer”.

Ich empfehle Ihnen, liebe Mitchristen: Besuchen Sie einmal die Internetseite „Kirche in Not“. Es ist erschütternd, was dort zu lesen ist, welche Filme dort gezeigt werden: In 133 Ländern unserer Erde werden Christen verfolgt – und das europäische Christentum schaut zu. Innerhalb von 10 Jahren haben sich Angriffe auf Kirchen, christliche Familien und christgläubige Einzelpersonen mehr als verdreifacht. Ob das in China ist, im Nahen Osten oder in Nordafrika, in Indien, Malaysia, ja sogar im buddhistischen Sri Lanka: Immer wieder sind es Christen, die Ziel von Anfeindungen werden und Opfer von Gewalttaten und Mord. Woher nehmen diese Menschen die Kraft, an ihrem Glauben festzuhalten? Bis in den Tod? Woher nahm Stephanus seine Glaubensstärke, seinen Mut, vor seinen Feinden zu predigen, wissend, dass sie ihn dafür töten würden? Und auch noch für seine Peiniger um Vergebung zu beten? Sie alle sind Zeugen einer der schwersten christlichen Tugenden: der Feindesliebe. Wir lesen es im Philipperbrief. Jesus „… war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Wir lesen es in der Bergpredigt Jesu:

„Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar? Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.
Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‘ Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist”,

Wer dieses Wort in sich aufnimmt, sieht auf einmal in den Worten der Bergpredigt Jesus selbst. Sein Verzicht auf alle eigenen Ansprüche, seine Aufgabe aller Anrechte. Diese Botschaft ist gedeckt durch sein Leben und Sterben. Wie sollte Jesus in der Bergpredigt anders reden angesichts des Wegs, den er selbst gegangen ist? Jesus selbst ist mit seinem Leben und seinem Schicksal das sprechendste Zeugnis seiner eigenen Worte: Gewaltlosigkeit, Demut, Liebe, Aber was in diesem Text schließlich an Radikalität kaum noch zu überbieten ist, ist die theologische Begründung, die Jesus am Ende gibt. Warum soll ich denn meine Feinde lieben und für die bitten, die mich verfolgen? Ganz einfach: weil wir zur Familie Gottes gehören. Als Kinder Gottes steht uns das überragende Vorbild unseres himmlischen Vaters vor Augen, der es eben nämlich genau so macht: Der nämlich seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte!

Es ist so offensichtlich. Es ist so einleuchtend. Es gibt viele Eigenschaften Gottes, über die man streiten mag und die Themen füllen ganze Bibliotheken theologischer Literatur. Aber daran gibt es nicht den geringsten Zweifel: dass Gott es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte und seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute! Und daran nimmt Jesus Maß! An dieser unglaublichen Güte, an dieser unglaublichen – ja man muss fast sagen moralfreien Großzügigkeit, an dieser unglaublichen Liebe und Hinwendung zum Leben eines jeden Menschen, wer er auch sei, was er auch tue – an Gutem wie an Bösem. Natürlich: auch daran stößt sich wieder unser gesunder Menschenverstand wieder an. Das kann doch unmöglich wahr sein! Doch. Es ist tatsächlich wahr. Wie heißt es in Matthäus 19: „Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist es unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.“ Jesus nennt es Vollkommenheit.

Wie aber um alles in der Welt, sollen wir so vollkommen werden, wie unser Vater im Himmel ist? Können wir das überhaupt? Also, ganz ehrlich: Ich kann das nicht. Wenn ich höre, wie im Irak und in Syrien Christen – man nennt sie dort Yesiden – diese kleine Religionsgemeinschaft , die schon Dutzende, oft blutige Verfolgungskampagnen durch ihre Tapferkeit und ihren Kinderreichtum überlebt hat, jetzt durch massenhafte Ermordungen, Zwangskonvertierungen und der Versklavung von Frauen und Kindern ausgerottet wird, da kann ich nicht still bleiben und Gott regnen lassen über Gute und Böse. Wenn ich höre, dass in jeder Sekunde die auf unserer Uhr verstreicht, ein Mensch irgendwo auf unserer Erde an Hunger stirbt – andererseits aber 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel Jahr für Jahr weggeworfen werden – das ist rund ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel, da kocht in mir eine solche Wut, dass ich nicht still bleiben kann und Gott regnen lassen über Gut und Böse.

Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass wir nicht ruhig und duldsam bleiben können, ja nicht duldsam bleiben dürfen. Wie verträgt sich das dann aber mit dem Aufruf Jesu, dann, wenn uns einer schlägt, ihm auch noch die andere Backe hinzuhalten?
Martin Luther hat darauf eine ganz einleuchtende und hilfreiche Antwort gefunden:
Wenn Du siehst, dass einem Deiner Mitchristen, Deiner Brüder oder Schwestern, wenn irgend einem Deiner Mitgeschöpfe, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, Unrecht angetan wird, dann wehre Dich, und setz Dich ein mit all Deiner Macht, damit Deinen Mitgeschöpfen geholfen wird. Verteidige sie, hilf ihnen, stell Dich ihren Peinigern in den Weg. Wenn Du aber selbst Opfer wirst von Gewalt und Lüge, Schandtaten und bösen Worten, so schweige, so wie es Jesus tat vor Pilatus. Schweige und dulde. Gott wird Dir zum Recht verhelfen – heute oder morgen. Oder: ein anderer Christ wird sich für Dich einsetzen und Dich schützen. Genau so geht die Sache mit der Feindesliebe:
Den Bruder oder die Schwester verteidigen.Sich selbst aber in Gewaltlosigkeit üben. In diesem Sinne ist es ganz wichtig, dass wir heute an die verfolgten Schwestern und Brüder in 133 Staaten unserer Erde denken. Und etwas für sie tun: Beten und Handeln. Sie unterstützen mit unseren Gaben. Uns politisch dafür einsetzen, dass die Freiheit der Religionsausübung endlich in allen Ländern unserer Erde zu einem Menschenrecht wird.

Pater Werenfried van Straaten hat unsere tiefe Verbindung zu den verfolgten Christen dieser Erde in Worte gefasst, die mir tief ins Herz gegangen sind, und die auch hoffentlich Sie an dem heutigen Stephanustag nicht wieder loslassen: Die verfolgten Christen werden im Glauben geprüft. Wir als ihre Geschwister werden in der Liebe geprüft.

Gebet

(nach: Fürbitten zum Gebetstag für verfolgte und bedrängte Christen, hsg. von der Deutschen Bischofskonferenz zum 26. Dezember 2015 [Stephanus-Tag])

Wir bitten Dich für die Christen, die wegen ihres Glaubens verfolgt oder bedrängt werden. Wir denken besonders an unsere Schwestern und Brüder in Syrien: Gib ihnen Kraft, damit sie in ihrer Bedrängnis die Hoffnung nicht verlieren.

Wir bitten Dich für die Menschen, die aus ihren Städten und Dörfern fliehen mussten, um sich vor ihren Verfolgern in Sicherheit zu bringen: Lass sie auf offene Türen stoßen, damit sie Zuflucht und Beistand finden.

Wir bitten Dich für alle, die aus religiösen, politischen oder rassischen Gründen verfolgt werden: Sieh auf das Unrecht, das ihnen widerfährt, und schenke ihnen deine Nähe.

Wir bitten Dich für die Verfolger: Öffne ihr Herz für das Leid, das sie anderen antun.

Wir bitten Dich für die Kirche: Stärke unseren Glauben durch das Zeugnis unserer bedrängten Brüder und Schwestern. Mach uns empfindsam für die Not aller Unterdrückten und entschieden im Einsatz gegen jedes Unrecht.

Wir bitten Dich für alle, die mit dem Opfer ihres Lebens Zeugnis für dich abgelegt haben: Lass sie deine Herrlichkeit schauen.

Gott unser Vater, im Gebet tragen wir das Leiden der Verfolgten vor dich und die Klage derer, denen die Sprache genommen wurde. Wir vertrauen auf dein Erbarmen.

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Ein Kommentar zu “” … ich sehe den Himmel offen … “

  1. Pastor Heinz Rußmann

    Nach Weihnachten ist am 26.Dezember der Gedenktag des Märtyrers Stephanus. Sehr einfühlsam und bewegend predigt Pfarrerin Zager über ihn, sein Bekenntnis und seinen Tod. Nach dem Weihnachtsglanz kehren die Christen wieder zurück in den Alltag und tragen mit Jesus ihr vielfältiges Kreuz. Pfarrerin Zager parallelisiert zuerst das Martyrium des Stephanus mit Jesu Kreuz und mit Märtyrern wie Bonhoeffer und Kolbe. Ganz aufrüttelnd ist ihre Information, dass es in 133 Ländern auf der Erde unzählige christliche Märtyrer gibt. Nach Jesu Vorbild und Weisung schaffen es viele sogar, wie Jesus und Stephanus für die ihre Feinde zu beten und sie zu lieben. Wie können wir das schaffen? fragt die Predigerin. Man wird doch wütend bei der Folter und dem Leid der Märtyrer heute. Wütend wird man auch, wenn man sich den Irrsinn vor Augen stellt, dass eine Milliarde Menschen hungern und eine Milliarde Tonnen Lebensmittel im Jahr vernichtet werden. Martin Luther rät zu dem Märtyrer-Thema: Verteidige die Opfer nachdrücklich. Wenn du selbst Opfer bist als Christ, dann schweige und dulde es. Wir sollten die Märtyrer unterstützen mit Gebet und Geld und politischem Einfluss. – Nachdem ich 35 Jahre lang Pastor war an einer St.Stephanus-Kirche, habe ich keine so eindringliche, informierende und und mitreißende Predigt gelesen wir diese.

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