Unserer Berufung gerecht werden

Gottes Ruf und Geschichte im Alten und im Neuen Testament

Predigttext: 5.Mose / Deuteronomium 4,31-40
Kirche / Ort: Magdeburg
Datum: 10.01.2016
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Epiphanias
Autor/in: Pastor em. Dr. habil. Günter Scholz

Predigttext: 5.Mose / Deuteronomium 4,31-40 (Überstzung nach Martin Luther, Revision 1984)

31 Denn der HERR, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben, wird auch den Bund nicht vergessen, den er deinen Vätern geschworen hat.
32 Denn frage nach den früheren Zeiten, die vor dir gewesen sind, von dem Tage an, da Gott den Menschen auf Erden geschaffen hat, und von einem Ende des Himmels zum andern, ob je so Großes geschehen oder desgleichen je gehört sei,
33 dass ein Volk die Stimme Gottes aus dem Feuer hat reden hören, wie du sie gehört hast, und dennoch am Leben blieb?
34 Oder ob je ein Gott versucht hat, hinzugehen und sich ein Volk mitten aus einem Volk herauszuholen durch Machtproben, durch Zeichen, durch Wunder, durch Krieg und durch seine mächtige Hand und durch seinen ausgereckten Arm und durch große Schrecken, wie das alles der HERR, euer Gott, für euch getan hat in Ägypten vor deinen Augen?
35 Du aber hast's gesehen, auf dass du wissest, dass der HERR allein Gott ist und sonst keiner.
36 Vom Himmel hat er dich seine Stimme hören lassen, um dich zurechtzubringen; und auf Erden hat er dir gezeigt sein großes Feuer, und seine Worte hast du aus dem Feuer gehört.
37 Weil er deine Väter geliebt und ihre Nachkommen erwählt hat, hat er dich herausgeführt mit seinem Angesicht durch seine große Kraft aus Ägypten,
38 damit er vor dir her Völker vertriebe, die größer und stärker sind als du, und dich hineinbrächte, um dir ihr Land zum Erbteil zu geben, wie es jetzt ist.
39 So sollst du nun heute wissen und zu Herzen nehmen, dass der HERR Gott ist oben im Himmel und unten auf Erden und sonst keiner,
40 und sollst halten seine Rechte und Gebote, die ich dir heute gebiete; so wird's dir und deinen Kindern nach dir wohlgehen und dein Leben lange währen in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, gibt für immer.

Exegetische Bemerkungen

Ich gehe davon aus, „dass eine Komposition Deuteronomium relativ konzentriert in der Exilszeit in Babylon ... erstellt wurde“ (K. Finsterbusch, UTB 3626). Dazu gehört auch die erste Moserede Dtn 1,6 – 4,40*, deren Teil der Predigttext ist. V 31 ist Schlusspunkt der Paränese: Gott wird in guten und in schweren Zeiten stets zu seinem Bund stehen. In den vv 32-40 wird dies im Blick auf die Vergangenheit und auf die erzählte Gegenwart von Mose expliziert. Themen sind die Erwählung des Volkes, dargestellt an der Sinaigesetzgebung und am Auszug aus Ägypten bis hin zur Gabe des Gelobten Landes. Der Singularität des Gottesvolkes entspricht die Einzigartigkeit Gottes im Himmel und auf Erden (P. Sloterdijk, Im Schatten des Sinai, 26f). Erwählung und Monotheismus sind so untrennbar aufeinander bezogen (Dtn 4,39), ebenso aber auch Unergründlichkeit („oben im Himmel“) und Erkennbarkeit („unten auf Erden“).

Homiletische Bemerkungen

Die Schwierigkeit besteht zunächst darin, dass mit dem Deuteronomium eine Verfassung für das nachexilische Israel vorliegt, verbunden mit Elementen eines Nationalepos. Was geht mich das an? – Doch dann bleibe ich am Stichwort der Erwählung hängen (Dtn 4,37). Schon länger bewegt mich die Frage, wie ich der inzwischen wieder salonfähigen Bestreitung der Kanonizität des Alten Testaments wirksam entgegentreten kann. Ich sehe die Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament in Gottes Erwählungshandeln, und das möchte ich in der Predigt zum Ausdruck bringen. Dabei gehe ich davon aus, dass auch meine Hörer um den neuerlichen Streit wissen. Der Blick auf Gottes Erwählungshandeln ermöglicht mir auch, Gott erkennbar zu machen von Anbeginn bis heute, biblisch und kompetent über Gott zu reden und auch uns – über die Gemeinde und als Getaufte – als Erwählte zu betrachten.

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Manchmal sagen Karikaturen mehr als breite Ausführungen und komplizierte Analysen. Ich habe eine Karikatur von einem Religionslehrer vor Augen. Er sitzt vor der Klasse, hinter sich die Tafel, darauf ein paar griechische Buchstaben, die wohl einen Satz aus dem Neuen Testament ergeben sollen. Dazu die Sprechblase eines Schülers zu seinem Nachbarn: „Weißt du, was der will?“ Ja, es ist schwer, über Gott zu reden. Wir hier verstehen uns. Aber werden wir auch draußen verstanden? Ist Gott nicht vielen Menschen so fremd geworden, dass sie sich fragen: „Wovon redet der?“ Ich gebe zu, es ist schwer, gleichsam von einer dritten Person zu reden, die nicht zu be-greifen ist. Nicht zu be-greifen ist in doppeltem Sinn: nicht zu sehen und nicht anzufassen, aber auch höher und größer als alles Vorstellungsvermögen. Da flüchtet man allenfalls noch in die Abstraktion: „eine höhere Kraft“, und schiebt Gott bewusst aus dieser Welt: „der da oben“.

Die Bibel allerdings spricht anders von Gott. So, dass Gott uns wieder etwas angeht. Sie sagt aber nicht nur: „Gott geht dich etwas an“, sondern auch umgekehrt: „Du gehst Gott etwas an“. Du gehst Gott etwas an, weil er ein Auge auf dich geworfen hat. Du gehst Gott etwas an, weil er dich erwählt hat. Man muss sich freilich auf die Sprache und die Gedankenwelt der Bibel ein bisschen einlassen. Dann lernt man Gott wieder kennen und kann über ihn reden: Er ist immer wieder der, der sich Menschen aussucht, zu etwas beruft, erwählt. Und so ist er nicht mehr nur „der da oben“, sondern zugleich auch „der da unten“, der, der sich bemerkbar macht in denen, die er erwählt hat. Um den Gott da oben, der da unten Menschen erwählt, aber auch ein Volk, schließlich seinen Sohn und nicht zuletzt auch uns, seine Gemeinden landauf landab, darum geht es heute.

(Lesung des Predigttextes)

Diesen Textabschnitt aus der Bibel werden Sie noch nicht gehört haben. Er ist neu. Vor ca. sechs Jahren haben die Landeskirchlichen Arbeitskreise Christen und Juden eine neue Predigtordnung empfohlen, in der die Schönheit und Klarheit gerade auch alttestamentlicher Texte hervortreten soll. Sie wird in diesen Jahren erprobt, und ich habe heute davon Gebrauch gemacht. Aus zwei Gründen. Zum einen gibt es mal wieder durch einen Berliner Theologieprofessor den Trend, das gesamte Alte Testament aus der christlichen Bibel zu verdrängen. Warum? Das Gottesbild des Alten Testaments – Kriegsgott aufseiten Israels usw. – sei ein vorchristliches, und außerdem dürfe man den Juden nicht ihre heilige Schrift einfach wegnehmen. Unsere heilige Schrift sei das Neue Testament. Ich möchte mich diesem Trend widersetzen und darum die Schönheit und Klarheit gerade auch alttestamentlicher Texte zur Sprache bringen. Zum anderen gibt es für mich einen roten Faden, der sich durch beide Testamente zieht und den ich nicht um drei Viertel kürzen möchte; denn er zeigt mir eine immerwährende Tätigkeit Gottes, an der ich seine Spuren in dieser Welt, erkennen kann: seine Erwählung. Die kostbaren Perlen der Erwählung sind wie auf einer Kette aufgereiht vom Anfang des Alten Testaments bis in die späten Schriften des Neuen Testaments.

Da berichtet die Bibel von einem Urahn der Israeliten, den Gott sich zum Stammvater des Volks erwählt hat. Er heißt Jakob und war ganz und gar kein Heiliger. Im Gegenteil, seinen Bruder hat er betrogen, auch seinen Vater; dafür wurde er dann freilich auch von seinem Schwiegervater hinters Licht geführt. Eine Geschichte von Gaunereien. Aber Gott hat ihn erwählt. Was Gott tut, müssen wir nicht immer verstehen. In diesem Stammvater Jakob aber hat Gott zugleich sein Volk Israel erwählt. Israel ist das auserwählte Volk, sagt die Bibel. Unser Predigttext sagt es auch: Hat je ein Volk die Stimme Gottes aus dem Feuer und Rauch des Sinai reden hören? Sind je einem Volk auf diese Weise die Gebote mitgeteilt worden? Hat je ein Gott versucht, ein Volk aus einem Unterdrückervolk herauszuholen (Gemeint ist der Auszug der Israeliten aus Ägypten mit Gottes Hilfe)? Die Antwort kommt prompt: „Weil Gott deine Vorfahren, Israel, geliebt und ihre Nachkommen erwählt hat, hat er dich herausgeführt mit seinem Angesicht durch seine große Kraft aus Ägypten, damit er vor dir her Völker vertreibe, die größer und stärker sind als du, und dich hineinbrächte, um dir ihr Land als Erbteil zu geben, wie es jetzt ist.“

Wer wollte da noch daran zweifeln, dass sich Gott ein Volk, nämlich das Volk Israel, auf dieser Erde erwählt hat, um uns allen zu zeigen: Ich bin nicht nur der da oben, nein, ich bin auch der bei euch, mitten in eurer Welt, mitten in eurer Geschichte. Ihr geht mich etwas an! Da, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, sind Gottes Spuren zu erkennen, in seinem Volk, im Heiligen Land. Dass dieses Land – historisch gesehen – durch eine Völkerwanderung der Israeliten aus Ägypten eingenommen wurde, und dass damit offenbar Flucht und Vertreibung der Urbevölkerung verbunden waren, darüber mag ich gar nicht nachdenken. Ich soll nur wissen: Gott der Herr ist da, mitten unter uns, er hat sich sein Volk erwählt. Warum gerade dieses Volk und unter welchen Umständen, das sollen nicht meine Gedanken sein, das sind Gottes Gedanken da oben im Himmel.

Die Geschichte seiner Erwählungen geht weiter. Aus seinem Volk hat er einen Menschen auserwählt, den er zu seinem Sohn gemacht hat. Das Markusevangelium erzählt uns, bei der Taufe Jesu habe sich der Himmel geöffnet, und eine Stimme sei zu hören gewesen: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich mein Wohlgefallen.“ Jesus, der auserwählte Sohn Gottes. In seinem Wesen, in seinem Wirken, in seinem Bild sollen wir Gottes Wesen, Wirken und Bild erkennen. So hat es Gott gemeint: In Jesus, meinem auserwählten Sohn, bin ich mitten unter euch. Jesus, der auserwählte Jude aus dem auserwählten Volk! Wir sind inzwischen im Neuen Testament und verstehen, warum es vom Alten nicht zu trennen ist. Gott wiederholt später noch einmal seinen Erwählungssatz vor ein paar Jüngern: „Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören.“ Richtet euch nach dem, was er sagt! Und nun geht die Geschichte der Erwählungen weiter: “Als Jesus auferstanden ist von den Toten”, so erzählt Matthäus, spricht er zu den erstaunten und erschrockenen Jüngern: „Gehet hin und tauft alle Völker auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie halten alles, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende”.Ist das nicht auch Erwählung? Der auferstandene Jesus Christus erwählt alle Getauften, auch uns, zu seinen Schwestern und Brüdern und so zu Gottes Kindern.

Der Apostel Paulus hat es auch so gesehen, wenn er an seine Gemeinden in Thessaloniki schreibt: „Ihr Lieben, wir wissen, dass ihr erwählt seid”. Und er hebt die Standhaftigkeit im Glauben hervor. Auch der 2. Petrusbrief weiß von der Erwählung der christlichen Gemeinde, weiß aber auch, dass sie sich nach außen zeigen muss in der geschwisterlichen Liebe untereinander. So dürfen auch wir uns als Erwählte betrachten. Die Last des Erwähltseins muss niemand von uns allein tragen. Nein, wir sind erwählt als Gemeinde. Erwählt von Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. Wir sind erwählt, durch manchen Streit und Krieg hindurch Frieden und Versöhnung zu stiften im Kleinen zuerst, aber auch, so wir können, im Großen. Wir sind auch ausersehen, Schimpf und Schande zu ertragen, wo Friedens- und Versöhnungsarbeit manch anderen Bestrebungen zuwider läuft. Aber wir haben keine andere Wahl, so wir denn unsere Berufung annehmen. Wir haben allerdings Gott auf unserer Seite. Mit seiner Hilfe wird es uns gelingen, unserer Berufung gerecht zu werden.

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Ein Kommentar zu “Unserer Berufung gerecht werden

  1. Pastor Heinz Rußmann

    Die Juden und Christen sind durch die ganze Bibel als Erwählte Gottes anzusehen. Das ist das Thema der Predigt von Pastor Dr. Scholz. Sehr lebendig ist schon die Einleitung aus dem Religionsunterricht. Menschen flüchten oft vor der Erwählung durch Gott und reden von ihm nur als höhere, anonyme Kraft. Nach der Bibel geht Gott Dich etwas an und Du gehst Gott sehr viel an! Dazu müssen wir uns auf die ganze Bibel einlassen und nach einer neuen Predigttext-Reihe mehr auch auf das Alte Testament. Die Reihe der von Gott Erwählten beginnt ja im AT mit der Erwählung der Erzväter und der Israeliten. Im Neuen Testament ist Jesus der von Gott erwählte Sohn Gottes. Der auferstandene Jesus Christus erwählt seitdem alle Getauften, also auch uns, zu den Kindern Gottes. Das bestärken Paulus und Briefe des NT. Schluss: Wir Christen sind erwählt, um für den Frieden heute einzutreten. Gott ist dabei auf unserer Seite.

    Ganz mitreissend und interessant ist diese Predigt, weil sie ein klares, positives Thema hat und die Erwählung durch den chronologischen Aufbau spannend und ohne ablenkende Umschweife zum klaren Ziel geführt wird. Interessant ist die Predigt auch für langjährige Gottesdienstteilnehmende durch den neuen Predigtext, den sie bisher noch nie gehört haben. Eine sehr erfreuliche und erfreuende Predigt!

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