SPRICHT GOTT ?
Das Wort Gottes – was ist das eigentlich?
Predigttext: Hebräer 4,12-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
12 Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
13 Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.
Exegetische und homiletische Einführung
Das Wort Gottes wird in der Predigt laut. Es informiert nicht nur, es „geschieht“. Es spricht die Hörer an, stellt in die Entscheidung. Diese steilen Sätze aus dem EKK-Kommentar von Erich Grässer (EKK XVII/1, 1990) zeigen, wie gut sich unsere Predigtverse entlang der Kategorien der dialektischen Theologie auslegen lassen. Als heutige Leserin habe ich das Gefühl, hinter all diese Sätze dicke Fragezeichen malen zu müssen. So fremd scheinen sie mir der Erfahrungswirklichkeit meiner Predigthörerinnen und -hörer zu sein. Menschen möchten „etwas mitnehmen“ aus der Predigt, die Predigt soll ihnen „etwas geben“. Solche geistliche Konsumorientierung und spirituelle Ökonomie unterscheidet sich kategorial von der Erfahrung, durch Gottes Wort „getroffen“ zu sein.
Dass die Bibel „Gottes Wort“ sei, wird zwar in schlichter Identifikation noch als erlerntes Wissen wiederholt – aber dahinter steht kaum noch Glaubenserfahrung. Wer kommt schon in den Gottesdienst, um dort infrage gestellt zu werden? Die Bibel ist Aufbewahrungsort christlichen Wissens, sie muss sich, wie der Koran, die Frage gefallen lassen, wie viel Gewaltpotenzial sie verkörpert, man kennt sich in ihr aus oder nicht – aber ist sie „Wort des lebendigen Gottes“? Sie wird daran gemessen, wie verständlich und zugänglich sie ist, aber für den Glauben spielt sie nur noch in sehr geringen Fällen eine Rolle. Viel wesentlicher ist die eigene Lebens- und Welterfahrung, aus der sich der Glaube speist. Das „Gott spricht“ hängt luftleer im Raum.
Ich kann die Predigtverse nicht bedenken, ohne mich nicht grundsätzlich an dieser Frage abzuarbeiten. Wie kann ich einen neuen Zugang zum Sprechen Gottes eröffnen? Spricht Gott nur durch die Bibel? Spricht Gott nicht viel mehr durch die Ereignisse, die uns beunruhigen oder beunruhigen könnten, von Köln bis zum Klimawandel? Fragen der Geschichtstheologie dringen in die Predigt ein. Wo und wie wird die Lebendigkeit Gottes erfahren?
Diese grundsätzlichen Fragen passen zur Position des Predigttextes, der einen Hauptteil (Hebr 3,7-4,11) abschließt und dem Proömium Hebr 1,1-3 korrespondiert. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass mit dem „Wort Gottes“ Christus bzw. Gott selbst gemeint ist. Die Eigenschaft „lebendig“ ist ein Gottesprädikat. Im Licht der Frage nach dem Gewaltpotenzial der Bibel ist festzustellen, dass das Schwert nicht zuerst tötende, sondern entlarvende Funktion hat. Auffällig nach den durchgefeilten Sätzen ist der abrupte Schluss vom menschlichen logos als Antwort auf den göttlichen, der über die Übersetzung mit “Rechenschaft“ m.E. hinaus geht.
Spricht Gott?
Alles wäre in Ordnung, wenn es nicht hieße: Das Wort Gottes, sondern: das Wort des Menschen. „Denn das Wort des Menschen ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringet durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Zu fordern, er hätte eingreifen sollen, sagte der nordrhein-westfälische Innenminister in Bezug auf die Ereignisse in Köln, „wäre, als wenn Sie fordern, dass die Gesundheitsministerin selbst Blinddarmoperationen durchführt”. Es hagelte wilden Protest. Zu recht. Hunderte von Sexualstrafdelikten mit Blinddarmoperationen zu vergleichen, das offenbart nur Hilflosigkeit und den Versuch die eigene Haut zu retten. Entlarvend. Ein Wort wie ein zweischneidiges Schwert. Davon gibt es noch mehr. Ausländerschwemme, genauso wie Rentnerschwemme – wer das sagt, macht sich noch nicht einmal die Mühe, einen anderen Standpunkt als den eigenen einzunehmen. Und vor allem macht er sich die Wirkung seiner Worte nicht klar. Schwemme – das ist wie das Treibgut, wie der Abfall aus dem Meer, der ans Ufer geschwemmt wird. Etwas Überflüssiges, etwas Lästiges. So muss sich der Mensch fühlen, der so bezeichnet wird. Die Rentnerin, die ihr Leben lang gearbeitet hat. Der junge Mann, dem in seiner Heimat jede Lebensperspektive genommen ist.
Ja, entlarvend, durchdringend bis ins Mark sind solche Worte. Sie offenbaren, wes Geistes Kind einer ist. Nur: Sie richten vor allem den, der sie spricht. Das Wort aber, von dem in unserem Predigtabschnitt die Rede ist, richtet nicht den, der es spricht, sondern den, zu dem es gesprochen wird. Das ist etwas anderes. Aber das kennen wir ja auch, dass Menschenworte so richten. Worte, die wir in unserer Kindheit hörten, besonders. Du hast zwei linke Hände, lass mich mal machen. So ein Wort nimmt ein Kind mit und traut sich nichts mehr zu. Und gibt dadurch seinem Richter recht. Worte sind wie Gefängnisse, in die man gesteckt wird und dann selber hinein schlüpft, unbewusst, und die Tür von innen verriegelt. Aber in unserem Predigtabschnitt ist eben nicht von Menschenworten, sondern vom Wort Gottes die Rede. „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Das wird einfach so behauptet. Müssen wir das dann auch einfach so glauben? Ist es so?
Spricht Gott in der Bibel?
Das Wort Gottes – was ist das eigentlich? Unsere erste Antwort wäre wahrscheinlich: Das finden wir in der Bibel. Im Gottesdienst wird es vorgelesen. Und darüber gepredigt. Und dann? Ist das Wort Gottes wirklich lebendig? Die ehrliche Antwort heißt: Nein. Zumindest nicht immer. Meistens ist doch das Wort Gottes aus der Bibel vor allem eins: schwer verständlich. Wenn man es zum ersten mal liest oder hört, oft gar nicht verständlich. Es muss mit vielen anderen Worten erklärt werden. Dazu ist dann die Predigt da. Mich haben schon manche gefragt: Warum gibt es das eigentlich im Gottesdienst, dass an einer Stelle einer aufsteht und einfach so aus der Bibel etwas vorliest? Das bringt doch gar nichts, das versteht man ohnehin nicht. Ich antworte: Dahinter steht die Erfahrung, dass das Wort Gottes auch von selber wirken kann, ohne Erklärung. Aber kann es das? Manchmal ja. Vielleicht haben Sie das schon einmal erlebt: Ich komme in den Gottesdienst, mit den Gefühlen, die gerade in mir sind, und da höre ich ein Wort aus der Bibel, einen einzigen Satz vielleicht nur, und der „trifft’s voll“, wie manche heute sagen würden. Der trifft mich in meiner Situation, spricht mich unmittelbar an. Da kann ich das Gefühl bekommen: Heute hat Gott zu mir gesprochen. Aber trifft das Wort dann wirklich so, wie es hier beschrieben steht? Scheidet es Seele und Geist, auch Mark und Bein“, ist es ein „Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“? Manchmal deckt es vielleicht etwas in mir und meinem Leben auf. Aber genau so gut kann es trösten, stärken, Hoffnung geben. Dann ist das Wort kein Schwert, sondern eine Feder oder eine Stütze zum Gehen.
Lebendiges Wort
So will ich unser Predigtwort auch verstehen: Für Gott kann richten auch aufrichten bedeuten. Trennen kann sein Wort auch zwischen den lähmenden Gedanken, in die ich mich manchmal einfange, und seiner Hoffnung, die befreit. Unterscheiden kann es zwischen den Ängsten, die mich beherrschen, und der Verheißung einer Zukunft, die mir gilt. Entlarven kann es die verkehrte Weise, in der wir zu leicht unser Predigtwort verstehen: nur als Wort vom Gericht. Dann bedient es unsere Schuldgefühle, gleichzeitig aber auch unsere Versuche, Schuld abzuwehren, wo es nur geht. Aber Gott führt sein Schwert anders als Menschen. Sein Wort ist lebendig. Es will und schafft Leben. Aber ist es wirklich das Wort? Es ist doch eigentlich der, der es spricht! Wenn Menschen miteinander sprechen, berühren sie einander mit ihrem Leben. Das kann gut tun oder nicht. Und wenn mich ein Bibelwort trifft? Ist es dann nicht auch eher mein eigenes Leben, das durch dieses Wort zum Schwingen gebracht wird. Klingt nicht einfach etwas an, was schon in mir ist? Oder ist es mehr? Ist es Gott? Kann Gott sprechen? Wer hat ihn denn jemals gehört? Warum hält sie sich so hartnäckig, die Rede von Gottes Wort?
Ich glaube, liebe Gemeinde, es ist ein Bild. Ein Bild für die Erfahrung: Gott kommt uns nah. Da ist ein Jenseits, das sich für uns öffnet. Ein Grund für das Ungründbare und Unbegründbare, der irgendwie die Brücke zu uns schlägt. Und zwar so, dass wir davon reden, dass wir überhaupt an ihn, den wir etwas hilflos Gott nennen, glauben können. So, dass wir etwas verstehen, etwas zum nachdenken haben. Wir sagen er spricht, weil wir selber durch dieses Sprechen nach Worten suchen können für das, was uns da geschieht. Weil wir antworten können. Und dieses Sprechen ist mehr als der Spiegel der eigenen Seele. Es ist die Erfahrung: das Unbegründbare hat einen Namen und einen Sinn. Es gibt mehr her als unser eigenes Echo, es gibt eine Welt her: Es werde Licht, und es ward Licht. Gott spricht, und Menschen erfahren: Unsere Geschichte, diese Mischung aus Gewolltem und Ungewolltem, ist in Wahrheit eine Mischung aus machen und geführt oder gerufen werden: Zieh aus aus deinem Vaterland, sprach Gott zu Abraham, du sollst ein Segen sein. Gott spricht, und Propheten fühlen sich gerufen, weiter zu sprechen in seinem Namen, Unrecht aufzudecken oder Menschen zu trösten. In ihren Worten liegt eine verändernde Kraft, eine Wahrheit, eine Hoffnung. Gott spricht, und ein Mensch wird geboren, Jesus, und Menschen spüren in ihm diese verändernde Kraft, die sie Gott nennen.
Gott spricht, und Menschen erfahren, dass Gott auch durch sie etwas von dieser Kraft, diesem Leben weitergeben will – und sie fangen an zu reden, zu predigen, aufzuschreiben, weiter zu tragen. Gott spricht, und Menschen hören etwas, nehmen etwas in sich auf, was sie sich selber nicht geben können – und oft auch nicht geben wollen. Denn kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. Gott will noch immer, dass seine Wahrheit und seine Hoffnung uns erreicht. Und uns ergreift, schöpferisch, verändernd, lebendig. Gott spricht auf vielfältige Weise. Vielleicht nicht nur durch die Bibel. Vielleicht auch durch das was uns einfach passiert, Schönes oder Trauriges. Vielleicht auch durch das was in der Welt passiert, wahrscheinlich am ehesten durch das, was wir lieber ausblenden würden. Niemals spricht er so, dass das was geschieht dadurch göttlich wird – so wie Menschen in Hitlerdeutschland den Führer ein Werkzeug Gottes glaubten und seinem Tun göttliche Autorität zumaßen. Nein, er spricht so und nur so, dass wir ihn erleben, den lebendigen Gott, ungreifbar und doch nah, richtend und aufrichtend.
Gott spricht so, dass wir etwas erkennen, was wir vorher nicht erkannten, über uns selbst, über einander, über das, was ist und geschieht. Manchmal tut seine Wahrheit weh. Aber weil Gott sie spricht, führt sie zum Leben. Manchmal werden wir enttäuscht im wörtlichen Sinne – dass wir die Täuschung erkennen, die zu glauben doch so schön war. Manchmal werden wir befreit – auf einen Weg, der zuerst schwer ist, aber doch wichtig für uns. Wie Gott auch spricht und uns berührt – immer dürfen wir Antwort geben mit unserem Leben und mit unserem Tun. Das ist mit Rechenschaft gemeint. Eingehen und zugehen auf das Leben, das uns und die Welt neu werden lässt wie am ersten Tag.
Das Wort Gottes informiert nicht nur, sondern geschieht, es trifft uns und macht betroffen. Das haben Martin Luther und Karl Barth und andere vertreten. Heute aber möchte der Zuhörer etwas für sich mitnehmen, was ihn bewegt, sagt Pfarrerin Ulrike Krumm. Gott spricht nicht nur durch die Bibel, sondern auch durch Ereignisse und Erfahrungen. Das betont die Predigerin sehr erhellend in ihren Vorüberlegungen. Sie beginnt ihre Predigt mit der Macht von Worten der Menschen. Ausländerschwemme ist so ein mächtiges,einschneidendes Wort. Jeder trägt scharf verletzende Worte mit sich: Du hast zwei linke Hände … Gottes Wort wird auch lebendig und nachwirkend beschrieben im Predigttext. Oft ist es für Hörer schwer verständlich. Die Predigt versucht die Bibeltexte zu erklären. Gottes Wort deckt etwas auf, aber es tröstet auch und ermutigt und macht lebendig. Das ist der Sinn der Verse aus dem Hebräerbrief. Aber kann Gott zu uns sprechen? Wer hat ihn gehört? Mit poetischen Formulierungen kommt die Verkündigerin des Gottes Worts zu der Antwort: “Da ist ein Jenseits, das sich für uns öffnet. Ein Grund für das Ungründbare und Unbegründbare, der irgendwie die Brücke zu uns schlägt. Es gibt mehr her als als unser eigenes Echo, es gibt eine Welt … Gott will noch immer, dass seine Wahrheit uns erreicht. Und uns ergreift, schöpferisch, verändernd, lebendig. Wie Gott uns auch erreicht- immer dürfen wir Antwort geben mit unserem Leben und Tun”.
Sehr bemerkenswert ist an dieser Predigt, dass sie die traditionelle Rede von Gottes Wort hinterfragt und durch heutige persönliche religiöse Erfahrungen aktualisiert. Besonders begeisternd finde ich an der Predigt die oft poetische Sprache der Predigt, die ich oben zum Teil zitiert habe. Eine gleichzeitig klare und verständliche und emotional anrührende Predigt.
Ergänzen möchte ich noch, dass mich persönlich Jesu Wort ergriffen hat, als ich vor Jahrzehnten als Soldat im Manöver die Düsenjäger über mir hörte. Ich las die Bergpredigt, und die tiefe Gewissheit ergriff mich: Jesus, Du hast einfach recht. Dadurch wurde ich Pastor.