“Mein Gott, mein Gott …”
Der Tod bricht mitten hinein in geliebtes und unschuldiges Leben und schneidet es brutal ab
Predigttext: 2.Korinther 5,14b-15.17-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
14b Wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben.
15 Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.
17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
18 Aber das alles von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt.
19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Hinweise zum Predigtext (I.) und zur Predigt (II.)
I. Im Predigttext geht es zunächst um Begriff der Versöhnung und den Dienst der Versöhnung. Zwei Begründungen führt Paulus dazu aus: eine christologische (V14-17: Die Liebe Christi und ihre Folgen) und eine theologische (V18f: Die Versöhnungstat Gottes und der Dienst der Versöhnung). Daran schließt sich ein Aufruf zur Versöhnung an (V20), der in V21 noch einmal begründet wird. Der Text gilt als paulinisch. Paulus deutet den Kreuzestod Jesu als Sterben für alle, welches unterschiedlich gedeutet wird. Meint Paulus damit, dass alle als gestorben gelten, auch wenn sie nicht wirklich sterben müssen? Oder ist damit ein Sterben zugunsten aller Menschen gemeint, vergleichbar mit dem Gottesknecht von Jes 53? In V15 führt Paulus aus, wohin der Tod Christi abzielt: Das Leben der Menschen insgesamt – wie auch sein eigenes – kreist nun nicht mehr um sich selbst, sondern wird auf Christus hin gelebt. In diesem Zusammenhang spricht Paulus in V17 vom Menschen in Christus als „neuer Kreatur“.
Paulus schildert seine Versöhnung mit Gott in V18 als abgeschlossenes Geschehen. Durch das Erlebnis vor Damaskus wurden ihm selbst die Augen geöffnet, als sich ihm der Auferstandene selbst offenbart hat. Der Begriff „versöhnen“ hat wohl keinen religiösen, sondern einen säkularen Hintergrund; insbesondere ist damit die Versöhnung zwischen Streitenden gemeint (vgl. EKK 329). Der religiöse Gebrauch von „versöhnen“ begegnet nur bei Paulus (2Kor 5,18-20; Röm 5,10). V19 beschreibt in Kurzform das in V14f geschilderte Heilsgeschehen. Folge der Versöhnung ist das Nichtanrechnen der Sünde. Paulus bittet in Gottes Auftrag. Der Aufruf zur Versöhnung ist von Paulus so formuliert, dass Gott der Handelnde ist („Lasst euch versöhnen“, nicht etwa „Versöhnt euch“), wie auch in den Versen 18f Gott der Initiator der Versöhnung ist. Sich einlassen auf das Angebot ist unverzichtbare Voraussetzung der Versöhnung zwischen Gott und Mensch. Adressat des Aufrufes in V20 sind nicht nur Menschen, welche die Predigt vom Evangelium noch nicht erreicht hat, sondern auch die korinthische Gemeinde selbst, die von Paulus ermahnt wird, sie möge die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen haben (2Kor 6,1).
Literatur: Thomas Schmeller: Der zweite Brief an die Korinther (2Kor 1,1-7,4). EKK VIII/1, Neukirchen-Vluyn 2010.
II. Der Jahrestag der Germanwings-Katastrophe ruft in uns allen Erinnerungen von Trauer und Leid hervor. Es geht um Erfahrungen mit Todesfällen in unmittelbarer Umgebung, die zunächst Jugendliche und ihre Familien aus Haltern am See gemacht haben, die aber jeden von uns hätten treffen können. Der Tod bricht mitten hinein in geliebtes und unschuldiges Leben und schneidet es brutal ab. Auch damals am Kreuz haben es die Angehörigen Jesu so erfahren. Wie lebt man damit weiter? Was kann der Predigttext dazu sagen? Niemandem hilft hier eine dogmatische Abhandlung über Versöhnung. Schwierig ist besonders der Aufruf zur Versöhnung, der angesichts von Tod und Trauer beim ersten Hören als zynisch empfunden werden kann. Jedoch kann der Hintergrund dieser paulinischen Begrifflichkeit Menschen Trost spenden. Die Grundlage von Karfreitag ist die voraussetzungslose Liebe und Treue Gottes, die am Ende den Tod besiegt und die Perspektive von Auferstehung eröffnet.
Lieder
"Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr" (EG 382)
"Wie sollen wir es fassen" (Lebensweisen 20)
"Meine engen Grenzen" (Lebensweisen 21)
Früher war noch alles gut. Als sie alle gemeinsam zur Schule gegangen sind. Deutsch, Mathe, Bio, Religion, Spanisch. Ein ganz normaler Schüleralltag war es, als sie in der Klasse noch zusammen waren. Ganz normal wünscht man sich irgendwann. Spätestens dann, wenn nichts mehr normal ist. Jeder Tag vor dem 24. März 2015 war normal. Jeder Moment, so scheint es heute, alles war gut, bevor ein Flugzeug abstürzte über den Französischen Alpen. Gestern war der Jahrestag der Germanwings-Katastrophe. Gestern vor einem Jahr starben 150 Menschen, darunter 16 Schülerinnen und Schüler aus Haltern am See. Wenn es wenigstens ein ganz normales Unglück gewesen wäre; die Triebwerke ausgefallen wären oder ein Unwetter zum Absturz des Flugzeuges geführt hätte. Nein, es war anders. Ein psychisch kranker Mann, der als Kopilot im Cockpit saß, hatte die Maschine mit voller Absicht abstürzen lassen. Ein erweiterter Suizid, so nennen Fachleute die Tat. Wenn man nicht nur sich selbst umbringt, sondern eine Menge Menschen mit in den Tod reißt.
Ein Jahr danach. Noch immer sind nicht alle zur Tagesordnung zurückgekehrt. Noch immer ist nicht alles aufgeklärt, obwohl sich viele Fachleute mit dem Absturz beschäftigt haben. Kann man diese Katastrophe jemals fassen, sie jemals in den Griff bekommen? Die Fluggesellschaften haben sehr schnell reagiert und Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Nie wieder soll ein Pilot oder Kopilot unbeaufsichtigt im Cockpit bleiben. Die französische Behörde, die den Flugunfall untersuchte, hat empfohlen, im Gefahrenfall Ausnahmen von der ärztlichen Schweigepflicht zuzulassen. Der kranke Kopilot hatte in fünf Jahren 41 Ärzte aufgesucht. Immer wieder wurde eine schwere Erkrankung diagnostiziert. Sein Arbeitgeber bekam davon nichts mit. Der Mann flog weiter, bis zu diesem 24. März 2015, als er alle, die an Bord der Maschine waren, mit in den Tod nahm. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne“ (Psalm 22,2).
Die 16 Schülerinnen und Schüler, die in der Germanwings-Maschine saßen, waren unter fast 40 Schülern einer zehnten Klasse ausgelost worden. Die, die am Ende am Berg zerschellt sind, hatten das Los gezogen. Rabea war dabei, Aline, Fabio. Eine Schülerin namens Helli. Sie hätte den Rückflug eigentlich noch verpasst, denn sie hatte ihren Reisepass bei ihrer Gastfamilie vergessen. Doch der Flug von Barcelona nach Düsseldorf startete 20 Minuten später. Sie schaffte es gerade noch, in die Unglücksmaschine einzusteigen. „Ich weiß nicht, wie ich den nächsten Tag überstehen soll“, sagte der Schulleiter des Gymnasiums, nachdem ihn die Nachricht vom Absturz der Maschine erreicht hatte. Vor einem Jahr war noch alles gut. Vielleicht hat Maria, die Mutter Jesu, so etwas gedacht. Jetzt steht sie auf der Schädelstätte – Golgatha. Am Kreuz hängt ihr Sohn. Vor dreißig Jahren habe ich mein Kind unter Schmerzen geboren. In diesem kalten Stall in Bethlehem. Etwas ganz besonderes sollte mein Kind sein: der Sohn des Höchsten. Hatte Gott es nicht versprochen? Jetzt stirbt er hier vor meinen Augen. “O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn”.
Drei Wochen nach der unbegreiflichen Katastrophe stehen in der Trauerfeier für die Opfer im Kölner Dom 150 Kerzen vor dem Altar. Für jedes Opfer eine, auch für den Täter. Welche Antwort gibt der Glaube angesichts von so viel Leid, so viel Schmerz, von Schuld, von Tod? In die Stille von Karfreitag hinein hören wir die Stimme von Paulus, wie er seiner Gemeinde, auch uns heute zuspricht. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden“. Kann uns das helfen, wenn wir uns so sehr nach dem Alten sehnen, es herbeiwünschen? Wenn wir uns dieses neue Leben ohne die Tochter, ohne den Sohn nicht ausgesucht haben? Wenn wir den Tag verfluchen, diesen einen Tag im März, diesen „Karfreitag“, den Tag des Kummers, des Leides?
„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ sagt Paulus. Versöhnen? Mit diesem Unglück wollen wir uns nicht versöhnen, das uns so brutal viel Schmerz zugefügt hat! Sollen wir dazu noch Ja sagen?Als klar war, dass ihre Schwester Rabea in der Todesmaschine saß, die irgendwo in den Alpen brutal zum Absturz gebracht wurde, versuchte Emma sofort zu funktionieren. Die Polizei fragte nach persönlichen Dingen, damit ihre Schwester einwandfrei identifiziert werden konnte. Emma übernahm das sofort und suchte die Haarbürste von Rabea heraus, ihre Mutter war dazu nicht in der Lage. Sie stand unter Schock. „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe“ (Psalm 22,3).
Paulus beschreibt , wie er das Kreuz, wie er Karfreitag versteht aus dem, wie er selbst Gott erlebt hat. Er sagt: Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes. Nichts Hohes, nichts Tiefes, keine Angst, kein Leid, keine Schuld, nicht einmal der Tod selbst. Vielleicht würde Paulus es heute so sagen: Gott war da an diesem verfluchten Tag, an diesem verfluchten Kreuz. Gott selbst hat das schlimmste Leid getragen, die größte Einsamkeit, die tiefste Verlassenheit, den Tod. Paulus nennt „Versöhnung“, dass Gott selbst alles beiseite geräumt hat, was uns von ihm trennt. Gott will uns nah zu sein in unserem Leid, in unserer Schuld, in unserem Tod. Er lädt uns ein, mit allem Schmerz, mit unseren Tränen, mit unserem Versagen zu ihm zu kommen. Bis zum Ende geht Gott diesen Weg zu uns und mit uns. Er war da am Kreuz. Gott war da in diesem verfluchten Flugzeug. Gott war bei jedem einzelnen Menschen in der Maschine, in jeder Sekunde, bis zum Tod. Er ist auch jetzt bei ihnen und sie dürfen bei ihm sein.
Vor einem Jahr war noch alles ganz normal. Jetzt sitzen Janik, Luis, Dana, Emma und Henrik zweimal im Monat im Jugendclub der Erlöserkirche in Haltern. In einer Trauergruppe der Kirche sprechen sie miteinander, lachen und weinen, geben sie sich gegenseitig Halt. Hier dürfen sie alles sagen, alles fragen. Hier müssen sie auf niemanden Rücksicht nehmen. Hier dürfen sich um sich selbst kümmern. Emma und Dana sind beste Freundinnen. Sie sind nicht mehr dieselben wie vor dem Absturz. Manchmal reden sie über den Tod und was danach kommt. Der Gedanke, dass sie ihre Schwester, ihre Freundin vielleicht einmal wiedersehen, gibt den beiden Mädchen Kraft. Gestern haben die Jugendlichen den ersten Jahrestag der Katastrophe irgendwie überstanden. Manche sind an die Absturzstelle gefahren. „Mir kommt das so lang vor, dass meine Schwester nicht mehr da ist“, sagt Jannik. Er überlegt, ob es daran liegen könnte, dass die schönen Momente ihm immer noch kürzer vorkommen als die traurigen.
Kurz vor seinem Tod am Kreuz spricht Jesus seine Mutter Maria und seinen Jünger an. Beide sind verzweifelt und traurig. „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ und „Siehe, das ist deine Mutter“, sagt er zu den beiden. Tut euch zusammen als neue Familie. Trauert zusammen, weint miteinander, lacht, lebt weiter. Das ist mein Wunsch für euch. Nochmal Paulus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“. Gott ist da in der Familie, wo jetzt jemand fehlt und wo der Schmerz darüber einfach nicht aufhören will. Die Trauer bleibt niemandem erspart. Doch Gott lässt diese Welt nicht ins Chaos versinken, auch wenn es sich an einem Karfreitag so anfühlt. Gott ist da, er hält auch unser Leben in Händen. Er trägt uns durch. Was sich verändert hat nach Karfreitag? Was sich verändert hat nach einem Jahr? Es wurde Ostern und es wird Ostern. Ganz sicher.
Aus aktuellem Anlass spricht Pastorin Frerichs zuerst überaus eindringlich und ausführlich über den schrecklichen Absturz des Germanwings -Flugzeugs mit 150 Toten vor einem Jahr. In die leidvolle Stille am Karfreitag spricht sie als Trost die Worte des Paulus aus dem Predigttext: Ist jemand in Christus so ist er eine neue Kreatur. Und : Lasst euch versöhnen mit Gott. Gott hat durch Jesus selbst das schlimmste Leid getragen, weil er uns nahesein will. Gott ist auch in jedem schwierigen Augenblick bei uns. Der Schlussabschnitt bringt noch einen damit zusammenhängenden zusätzlichen Trost. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Nach dem Kreuz und Leid wird es Ostern. – Diese Predigt ist aktuell, ansprechend, tröstlich und zeitnah. Sie spricht sicher viele Menschen an.