Gesten des Glaubens
Worte überzeugen nicht immer
Predigttext: Epheser 3,14-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Reden hilft nicht immer. Worte im Überfluss verlieren an Überzeugungskraft. Oft lassen sich Gesprächspartner von Worten nicht mehr überzeugen, wohl aber von kleinen Gesten oder Blicken. Die Liebe eines Paares beginnt meist mit einer Geste oder einem Blick, dem Gespräche erst später folgen. Oder man denke an die große Politik: Bevor sich zwei Staatspräsidenten zum Gespräch zurückziehen, treten sie vor die Journalisten und Fotografen. Demonstrativ geben sie sich die Hand, länger als eigentlich vorgesehen, damit auch der verschlafenste Fotograf, der vergessen hat, seine Kamera einzuschalten, noch sein Foto schießen kann. Erst auf diesen Handschlag folgt das vertrauliche Gespräch, von dem die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist und über das sie später nur durch eine karge Pressemitteilung informiert wird. Wer zurückdenkt an Willy Brandt, den sozialdemokratischen Bundeskanzler der siebziger Jahre, der wird sich nicht an den Wortlaut von seinen vielen wichtigen Reden erinnern können. Aber der Klang seiner rauhen, immer ein wenig verkratzten Stimme wird ihm noch vertraut im Ohr klingen. Und am besten wird er sich an ein schwarzweißes Bild erinnern:
Am 7. Dezember 1970 besuchte Willy Brandt als Bundeskanzler die polnische Hauptstadt Warschau. Vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos von Warschau legte er einen Kranz nieder, rückte die Schleife zurecht und sank dann in die Knie und verharrte für eine halbe Minute in dieser Stellung. Brandt erzählte später, dass er diese Geste nicht vorher geplant habe. Und seinem Freund Egon Bahr vertraute er an: „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht“. Das Bild vom knienden Bundeskanzler ging um die Welt: Da bat jemand um Vergebung für all das, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg den Polen, den Juden und anderen Völkern angetan hatten. Ich halte mich ein wenig beim knienden Willy Brandt auf, weil auch der Briefschreiber an die Epheser als erstes vom Knien spricht. Er kniet vor Gott, um zu beten, was Willy Brandt, dem Agnostiker, eher fremd war. Willy Brandt rang sich durch zu einer stillen Geste, mit der er um Vergebung bat. Am 8. Mai, dem Jahrestag der Befreiung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, gewinnt eine solche Geste der Demut, der Bitte und der Achtung vor den Opfern ihr eigenes unaufdringliches Gewicht.
Das Knien war für Willy Brandt eine Geste der Achtung, für andere stellt es eine elementare Geste des Glaubens dar. Glauben, Vertrauen auf Gott geht nicht im dauernden, unablässigen Reden und Sprechen auf. Glaube besteht auch aus Gesten, Bewegungen, Handlungen. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche fand, die Christen müssten erlöster aussehen. Er beklagte, er könne die Christen in ihrer Verzagtheit und Traurigkeit gar nicht erkennen. Welche Gesten beschreiben den christlichen Glauben? Das Knien ist eine Geste der Demütigung und der Reue. Das machte sie den Intellektuellen stets verdächtig. Deswegen war die Geste der Vernunft immer der aufrechte Gang, das erhobene Haupt, welches sich vor keinem Machthaber beugt, wenn er Zwang und Gewalt ausüben will.
Christen trauen dem aufrechten Gang häufig nicht. Sie sehen im Menschen grundsätzlich einen Sünder, den Martin Luther als den in sich selbst verkrümmten Menschen bezeichnet hat. Der verkrümmte Sünder kann sich nicht richtig bewegen, er ist im wahren Sinn des Wortes ‚gefallen‘; eingeschränkt in seinem Bewegungsfreiraum, abhängig von den muskulären und geistlichen Spannungen, die ihm eine gesundheitsschädliche Körperhaltung hineinzwingen. Weder der aufrechte Gang noch Verkrümmungen können gelungene Gesten des Christlichen sein. Was könnte aber an ihrer Stelle in Frage kommen als Geste des Christlichen? Ich will drei Beispiele nennen.
Die erste Geste sehe ich in der zum Segen erhobenen Hand. Glaube will weitergegeben werden, nicht als menschliche Einstellung, sondern als das Geschenk von Gottes Barmherzigkeit. Das ist der Segen. Die Finger der erhobenen Hand zeigen auf den Vater im Himmel, von dem der Segen kommt. Gleichzeitig strahlt er von der Handfläche ab auf diejenigen, denen er zugesprochen werden soll. Niemand ergebe sich dem Irrtum, nur der Pfarrer, die Pfarrerin, könne am Ende von Gottesdienst, Taufe und Trauung segnen. In der Evangelischen Landeskirche in Baden können Pfarrer, Pfarrerinnen, seit neuestem auch Paare segnen, die in einer eigetragenen Partnerschaft leben. Aber unabhängig vom Amt ist jeder Christenmensch durch die Taufe ermächtigt und aufgefordert, im Segnen Gottes Barmherzigkeit an andere weiterzugeben.
Die zweite wichtige Geste der Christen finde ich in den zum Gebet gefalteten Händen. Wer betet, schließt in einem ruhigen Moment die Augen und faltet die Hände. Der Beter wendet sich von der Welt, die ihn umgibt, ab, um sich einige Minuten lang auf das Gespräch mit Gott zu konzentrieren. Wer, vielleicht in einer Kirche, einen ins Gebet versunkenen Menschen sieht, wird sich in Acht nehmen, um den Beter nicht abzulenken oder gar zu stören. Die gefalteten Hände sind ein Symbol für den Menschen, der sich Gott zuwendet. Auch der Beter wird später wieder zu Gesprächen bereit sein, aber für die Dauer seines Gebets ruht alle Arbeit. Darum sind die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Nichts soll den Beter ablenken.
Das Knien beim Gebet – drittes Beispiel – gehört ebenfalls zu diesen Gesten des Betens. Evangelische Christen sind vom knienden Beten oft befremdet. Dem Knien, ich erinnere nochmals an den weltklugen Willy Brandt, eignen Momente von Demut, Respekt und Achtung vor einem anderen, größeren. Wer kniet, der gibt den aufrechten Gang auf. Wer kniet, der beugt sich, aber – das ist sehr wichtig – er verkrümmt sich nicht in sich selbst. Im Mittelpunkt des Glaubens steht nicht der Mensch selbst, seine Größe, sein Ruhm, seine Handlungsmacht. Im Mittelpunkt des Glaubens steht Gott. Und deswegen beugt der Autor des Epheserbriefs, um zu beten, seine Knie. Der kniende Beter nimmt sich selbst nicht so wichtig und stellt stattdessen Gott in den Mittelpunkt. Die Knie kratzen am Ego. Aber sie lassen Gott seinen Raum. Deswegen gilt es, einige geistliche Verkehrsschilder zu beachten:
Niemand fordert die Christen auf, vor ihren Mitmenschen zu knien. Das Beten verlängert nicht das menschliche Spiel von Macht und Demütigung. Das Knien rückt Verhältnisse zurecht. Das Knien gibt dem allmächtigen und barmherzigen Gott den Raum, der ihm zusteht. Und noch mehr: Wer kniet und betet, sagt damit auch, dass er bereit ist zu empfangen. Wer die Hände faltet, der wartet zuversichtlich auf das Handeln Gottes, den wir im Vertrauen und Glauben ansprechen. Und Gott handelt, in aller Gnade, in allem Überfluss und in aller Großzügigkeit. Mit ihrem Gebet, sei es im Knien oder mit gefalteten Händen, erkennen Christen an, dass sie in ihrem Leben allein nicht zurechtkommen. Alle Versuche, den aufrechten Gang einzuüben, scheitern am selbstverursachten Stolpern und Stürzen. Die eingerosteten Spannungen der Verkrümmung und der Sünde lassen sich nicht von selbst auflösen.
So wichtig diese Gesten des Kniens, des Händefaltens und des Betens sind, noch wichtiger beim Gebet sind die Zusagen und Verheißungen Gottes, der in aller Überfülle, Großartigkeit und Herrlichkeit an den Menschen handelt. Aus der Geschichte des Jesus von Nazareth wissen wir: Gott ist so vorzustellen, dass er den Menschen segnend, in Barmherzigkeit und Gnade entgegenkommt, sich auf sie einlässt, sie freundlich empfängt, sie aufnimmt, sie schützt, sie pflegt und heilt, wenn sie krank sind. Dem Knien des Menschen entspricht eine überschwängliche Offenheit, Freundlichkeit und Güte Gottes. Wegen dieser Offenheit und Güte ist Gott in Jesus Christus Mensch geworden. Aus dieser Zuwendung Gottes strömen Kraft, Hoffnung, Glauben und Vertrauen. Das ist die geistliche Energie, welche das Vertrauen von Christenmenschen nährt und vorwärts treibt. Diese Energie zielt nicht auf äußerliche Gesten, sondern auf den, wie der Epheserbrief sagt, „inwendigen Menschen“.
Nur dort, wo es Christenmenschen in ihrem Inneren, in ihrem Herzen trifft, können die Veränderungen geschehen, die so dringend notwendig sind, um die Verspannungen der Sünde aufzulösen. Diese Kraft Gottes hat einen Namen. Der kniende Beter des Epheserbriefs wendet sich an Gott und bittet um die Hilfe des Heiligen Geistes. Betend zielt er damit auf Gott selbst. Umgekehrt sagt er aber auch etwas über die Epheser, denen er dieses Gebet am Anfang seines Briefes ins Stammbuch schreibt. Wer sich im Inneren verändern will, der wird das nur dadurch erreichen, dass er Gott um solche Veränderungen bittet. Wer sich im Glauben verändert, der nimmt Christus in sein Herz auf.
Die Person des gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth steht für eine uneigennützige, nie versiegende Liebe Gottes zu den hilfsbedürftigen Menschen. Damit sollen Leser und Hörer in Ephesus nicht belehrt werden. Der Autor des Epheserbriefs beabsichtigt etwas anderes: Er nimmt seine Leser mit ins Gebet. Er nimmt sie in sein Gebet auf. Dieser Beter sieht die Glaubenden, die ihn begleiten, und gibt das in seinen Worten an Gott weiter. Im Zentrum des Gebets steht die Liebe, die Gott den Menschen entgegengebracht hat. Gott wirkt an den Menschen, heilsam und zärtlich, so wie er in Jesus Christus Mensch geworden ist. Er wirkt in dem Heiligen Geist, den wir an Pfingsten als die große Kraft feiern, der in den Gemeinden der Ökumene Glauben wirkt und Hoffnung stiftet.
Die Liebe Christi strahlt in alle Richtungen aus, in Höhe, Länge, Breite und Tiefe. Wer darauf vertraut, der wird sich von keiner Geste der Abwehr oder des Hasses irre machen lassen. Niemand muss genau wissen, wie diese Kraft des Heiligen Geistes wirkt. Es genügt das Vertrauen darauf, dass diese Liebe vorhanden ist, auch wenn sie niemand wahrnehmen sollte. Wer das weiß, der kann nicht anders als Gott zu loben und zu danken.
Am Ende dieser Passage aus dem Epheserbrief steht jenes wunderbare Sehnsuchtswort: Gottesfülle. In diesem Wort Gottesfülle kommen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist untrennbar zusammen. Gottesfülle ist Gottes Gegenwart, überall, in jedem unbeachteten Stein, in jedem Sonnenstrahl, in jeder Wolke, die heute über den Sonntagshimmel zieht, aber auch in jedem Menschen, der uns heute begegnet. Wohin wir uns auch wenden, in die Breite, Tiefe, Länge, Höhe, überall begegnen wir Gottes Ebenbildern, mit ihren Verletzungen und Schwächen, mit ihrer Eifersucht und ihren Fehlern, mit ihrer Würde und Verletzlichkeit.
So verschieden Menschen und ihre Lebensgeschichten auch sein mögen: In dieser Würde und Gottebenbildlichkeit unterscheiden sich die Menschen nicht. Und deswegen brauchen sie, brauchen wir alle das Gebet, damit Gottes Liebe in jedermanns Herz scheint. Auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, von allen Kräften verlassen zu sein, wenn Erschöpfung und Verzweiflung sich breit machen, Gott hat uns zugesagt, die Kraft seiner Liebe weiter zu verschenken. Sie wächst dadurch, dass sie geteilt wird. Sie verdoppelt sich dadurch, dass sie im Gebet angesprochen wird. Gott lässt sich gerne bitten.
Lieber Pfarrer Vögele,
ihre Predigt hat mich persönlich tief berührt – und zugleich ermutigt, am Sonntag einmal mehr über Gesten und Zeichen zu predigen als über die Macht des Wortes.
Die beiden Gebetsgesten, das Händefalten und das Beten, näher zubetrachten, ist sehr reizvoll und hilft, den doch verbal und gedanklich stark überfrachteten Predigttext zu erhellen und zu “erleichtern”.
Was ich allerdings im Predigttext nicht finde, ist ein Fingerzeig auf die von Ihnen angesprochene Segensgeste.
So schön diese Geste auch sein mag – und die von Ihnen beschriebenen Gedanken dazu wahr und anregend – ich werde die Segensgeste in meiner Predigt nicht behandeln, weil ich denke, dass sie über den Topos des Predigttextes zu weit hinaus geht. Bedenkenswert ist sie – vielleicht bei anderer Gelegenheit – aber allemal.
Danke nochmals für Ihre tiefsinnige Predigt.
Und einen gesegneten Sonntag Exaudi.