“Gott, deine Gedanken …”

Trinitatis - Die wirklich großen Dinge haben ein Geheimnis

Predigttext: Römer 11, 33-36
Kirche / Ort: St. Martinikirche / 21635 York - Estebrügge
Datum: 22.05.2016
Kirchenjahr: Trinitatis (Dreieinigkeitsfest)
Autor/in: Pastorin Dr. Martina Janßen

Predigttext: Römer 11,33-36 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

zurück zum Textanfang

Kennen Sie diese „Liebe ist …“ – Cartoons von Kim Casali? Der erste Cartoon wurde 1971 in der Los Angeles Times veröffentlicht und seit Mitte der 70er Jahre tummeln sie sich bis heute in deutschen Zeitschriften: Zwei süße Figuren, Mann und Frau, mit zu Herzen gehenden Sprüchen. „Liebe ist … das letzte Stück Apfelkuchen zu teilen, … beim Kuscheln das Handy auszuschalten …, gemeinsam nach den Sternen zu greifen …“

So viele Sätze und Bilder, um zu beschreiben, was Liebe ist, so viele Facetten, die einen anrühren. Fröhlich, zärtlich und manchmal mit einem Augenzwinkern sind diese Cartoons. Ich fand die als Kind gut und war der Überzeugung: Liebe mag vieles sein, vor allem aber ist sie toll. Als ich in die Pubertät kam, hat sich das geändert. Da hatte Liebe nichts mehr mit der heiteren Welt der „Liebe ist …“ – Cartoons zu tun, sondern wurde kompliziert, tat weh und war doch das, wonach ich mich gesehnt habe. So fand ich gerade in der Pubertät Gefallen am Lateinunterricht, denn da entdeckte ich ganz andere Beschreibungen der Liebe. „Ach, ich liebe und ich hasse. Du fragst. Warum ich das tue. Weiß nicht. Ich fühle nur: es geschieht und tut weh“ (Catull, Carmen 85 / Übersetzung Max Brod, 1914). Bei den Worten dieses lateinischen Dichters habe ich mich plötzlich besser aufgehoben gefühlt, denn er traf für mich damals den Nagel auf den Kopf, wenn er von der Liebe mit all ihren Ambivalenzen, ihrer Zerrissenheit, all ihrer Faszination und Unentrinnbarkeit schreibt. „Du fragst. Warum ich das tue. Weiß nicht. Ich fühle nur: es geschieht.“

Auch wenn da dunkle Seiten sind und vieles, das man nicht versteht oder unter dem man leidet, gehört die Liebe zu den größten Gefühlen, die es gibt. Nur erklären kann man sie nicht ganz. Ich kann keine Checkliste machen, mit Hilfe derer ich mich dann entscheide, einen bestimmten Menschen zu lieben oder nicht – etwa in dem Sinne: Das spricht für ihn, das spricht gegen ihn. Das mag bei anderen Entscheidungen hilfreich sein und klappen, aber bei der Liebe nicht. Bei der Liebe merke ich einfach: Ich liebe jemanden, ob ich will oder nicht, ob es sinnvoll ist oder nicht, ob man es versteht oder nicht. Ich tu es einfach – und manchmal auch gegen alle Vernunft. „Du fragst. Warum ich das tue. Weiß nicht. Ich fühle nur: es geschieht …“ Furchtbar und wunderbar ist die Liebe, unbegreiflich und unentrinnbar. Alle möglichen Erklärungen – seien sie psychologisch, seien sie soziologisch, seien sie hormonell – können nie ganz erfassen, was Liebe ist. Ganz erklären kann man sie nicht, aber man kann von der Liebe singen und dichten, sie beschreiben in all ihren Facetten und Widersprüchen. (Erich Fried:)

Was es ist
Es ist Unsinn –
sagt die Vernunft.
Es ist was es ist –
sagt die Liebe.

Es ist Unglück –
sagt die Berechnung.
Es ist nichts als Schmerz –
sagt die Angst.
Es ist aussichtslos –
sagt die Einsicht.
Es ist was es ist –
sagt die Liebe.

Es ist lächerlich –
sagt der Stolz.
Es ist leichtsinnig –
sagt die Vorsicht.
Es ist unmöglich –
sagt die Erfahrung.
Es ist was es ist –
sagt die Liebe.

In einem Möbelhaus habe ich vor kurzem ein Wandtattoo gesehen. „Liebe ist ein Wort vieler Deutungen und doch so unbegreiflich.“ Genauso ist es und gerade das macht die wirklich großen Dinge aus. Die wirklich großen Dinge haben ein Geheimnis, nie lassen sie sich ganz begreifen, nie sind sie glatt, immer bleibt das etwas, das höher und tiefer ist, immer haben sie eine Facette mehr als wir sehen können. Liebe ist so – und Gott. Den kann man auch nie ganz erfassen, aber man kann ihn bekennen und bejubeln.

(Lesung des Predigttextes)

Bevor Paulus sich mit diesen Worten zu Gott bekennt, hat er sich an einer theologischen Frage abgearbeitet und sie nicht wirklich gelöst. Es ging darum, dass nach der Meinung des Paulus der Mensch einerseits nur durch den Glauben an Christus gerechtfertigt wird, d. h. nur durch Christus heil wird. Andererseits waren da die Juden, das auserwählte Volk Gottes, mit denen Gott seinen Bund geschlossen hatte. Viele glaubten nicht an Christus als Gottes Sohn. Was geschieht mit ihnen? Gibt es für sie – weil Gott Israel ja die Treue geschworen hat – einen Sonderweg zum Heil an Christus vorbei? Für Paulus war das nicht nur ein intellektueller Denksport, sondern eine wichtige Frage. Denn er war ja selbst Jude, aber eben einer von denen, die zum Glauben an Christus gekommen waren. Doch was war mit seinen Brüdern und Schwestern, die das nicht konnten? Wie kann es gelingen, die Treue Gottes zu seinem auserwählten Volk mit dem zum Heil nötigen Glauben an Christus zu vereinen? An diesem Widerspruch hat sich Paulus abgearbeitet, verschiedene Antwortwege gesucht und wohl selbst gemerkt, dass alles nicht wirklich logisch und glatt aufgeht.

Am Ende hat Paulus das Denken, Analysieren und Argumentieren gelassen und sich schlicht zu seinem Gott bekannt in all seiner unbegreiflichen Tiefe und all seinem unerforschlichem Reichtum. Paulus ist damit nicht allein. „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. (…) Ach, wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! Wollte ich zählen, so wären sie mehr als der Sand. Am Ende bin ich immer noch bei dir.“ – so betet zum Beispiel der Beter des 139. Psalms. Hinter solchen Worten stehen Erfahrungen. Gott ist mehr als wir uns vorstellen können. Und – es gibt Widersprüche in Gott, Facetten, die scheinbar nicht zusammenpassen. Einige Christen in der Frühzeit des Christentums – Gnostiker nannten sie sich – haben den Menschen in seinem Elend gesehen, wie er an Krankheit und Schmerzen und an dem Bösen leidet, das er tut und das ihm angetan wird, und sie haben sich gefragt: Wie passt das zu Gott als Schöpfer aller Dinge? Warum schafft Gott einen leidenden, unvollkommenen Menschen, wenn er doch der allmächtige Schöpfer ist, der alles gut macht? Die Gnostiker haben auf diese Frage keine Antwort gefunden und gesagt, es gebe zwei Götter: den schlechten, der die unvollkommene Welt gemacht hat, und den Guten, der uns davon befreit.

Andere wiederum haben gesagt: Auch wenn wir nicht alles, was wir an Gott erfahren, ganz zusammenbringen – wir glauben dennoch an diesen einen Gott, der uns seinen Geist gegeben hat, der uns immer wieder lebendig macht und uns in aller Zerrissenheit zusammenhält. Darum ist damals im zweiten Jahrhundert nach Christus das Glaubensbekenntnis entstanden, das Bekenntnis an den einen Gott mit mehreren Facetten: Vater, Sohn und Geist. Einer und doch drei. Schöpfer, Erlöser, Lebensspender. Einer und doch drei in all seiner unbegreiflichen Tiefe und all seinem unerforschlichem Reichtum. Immer wieder erfahren wir es: Gott hat viele Gesichter: solche, in die wir gerne schauen und nach denen wir suchen, solche, die uns verstören, und auch solche, die vollends im Schatten bleiben. Viele gelehrte Gespräche sind deswegen entstanden und werden immer neu geführt.

“Gott ist so”, sagen die einen, „Gott ist anders”, sagen die andren. Immer wieder arbeiten sich die Theologen daran gab, geben die unterschiedlichsten Antworten, doch so wirklich glatt geht das nie auf. Da ist immer etwas, was an Fragen offen bleibt. Das geht nicht nur den Theologen so. Ich glaube, wir alle arbeiten uns manchmal an Gott ab, weil wir ihn nicht verstehen. Denn nicht alles, was ich in meinem Leben erfahre, passt zu dem Bild, das ich von Gott habe. Dann kommen Fragen, die nicht im Kopf entstehen, sondern tief aus dem gequälten Herzen aufsteigen: Warum lässt Gott zu, dass ich so leide? Warum macht Gott Krankheit und Krieg nicht einfach ein Ende? Er ist doch allmächtig! Will er vielleicht nicht? Aber er ist doch barmherzig? Das ist dann kein Gedankenspiel, sondern das erschüttert mich in Mark und Bein. Da zweifle ich und ringe ich, und glaube am Ende doch und immer noch.

“Du fragst: Warum ich das tue. Weiß nicht. Ich fühle nur: es geschieht …“ Da geht es mir wie Paulus, der an Gott festgehalten hat, weil er einfach nicht anders konnte, auch wenn er Gott nicht ganz verstand. Da merke ich: Ich glaube an Gott, ob ich will oder nicht, ob es sinnvoll ist oder nicht, ob man es versteht oder nicht. Ich tu es einfach. Immer wieder. „Am Ende bin ich immer noch bei dir, Gott.“

Was er ist
Er ist unbegreiflich –
sagt die Vernunft.
Er ist schwach –
sagt der Tod.
Er sei mit dir –
sagt der Liebende.
Er ist was er ist –
sagt mein Glaube.

Er ist der Schöpfer –
sagt der leichte Sommertag.
Er ist nicht da –
sagt die durchwachte Nacht.
Er ist der Friede –
sagt die Sehnsucht.
Er ist was er ist –
sagt mein Glaube.

Er ist der Richter –
sagt die Angst.
Er ist der, der mich trägt –
sagt das Vertrauen.
Er ist der Leuchtturm-
sagt das Schiff in Not.
Er ist was er ist –
sagt mein Glaube.

(Erneute Lesung des Predigttextes)

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.