Gerechtigkeit

Hunger ist nicht von Gott gegeben - Jesus befähigt uns, Früchte der Gerechtigkeit zu bringen

Predigttext: Jesaja 5,1-7
Kirche / Ort: Heiliggeistkirche / Heidelberg
Datum: 12.03.2017
Kirchenjahr: Reminiszere (2. Sonntag der Passionszeit)
Autor/in: Pfarrer Dr. Vincenzo Petracca

Predigttext: Jesaja 5,1-7 (Übersetzung nach Martin Luther)

Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg

Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen

Das Weinberglied ist von seiner Umgebung eindeutig abgegrenzt. Es lässt sich folgendermaßen gliedern:

Vers 1 und Vers 2: 1. Strophe (Exposition, Situation) , Vers 3 und Vers 4: 2. Strophe (Verzögerung, Reflexion), Vers 5 und Vers 6: 3. Strophe (Konsequenz aus der Situation), Vers 7: 4. Strophe (Deutung).

In Vers 1a findet sich ein Introitus. Der erste Satz der 1., 2. und 3. Strophe endet im Hebräischen jeweils mit dem Wort „Weinberg“ (mit Suffix). Die 1. und 2. Strophe enden mit dem Kehrvers über das Warten auf gute Trauben, das enttäuscht wird. Auch die 4. Strophe endet mit dem Warten des Weinbergbesitzers. Doch statt — wie im zweimal verwendeten Refrain — auf Trauben zu warten, wird ein Verfremdungseffekt eingesetzt. Dieser Effekt dient der Verstärkung der Pointe. Sie lautet: Erwartet wird von JHWH soziale Gerechtigkeit. Diese Pointe wird dem Hörer durch ein Wortspiel eindrücklich nahe gebracht, welches mit polaren Begriffspaaren die Erwartung und Enttäuschung JHWHs ausdrückt. Hierbei wird die Enttäuschung durch die Redefigur „doch siehe da“ eingeleitet.

Auf verschiedene Arten wird versucht, dieses Wortspiel ins Deutsche zu übertragen: Statt „Recht“ war „Unrecht“, statt „Gerechtigkeit“ war „Schlechtigkeit“ (Luther 2017); oder: Statt „Guttat“ war „Bluttat“, statt „Rechtsspruch“ war" Rechtsbruch“ (Einheitsübersetzung). Die eigentlichen Wortsinne meinen „Recht“ und „Gerechtigkeit“ einerseits, andererseits das rechtswidrige Blutvergießen (oder die dem Rechtsschwachen vor Gericht angetane Gewalt) und das Wehgeschrei der politisch und sozial Vergewaltigten.

Im Lied gibt es einen unvermittelten Bruch von der Er-Form in die Ich-Form: Während in der Strophe 1 und 4 der Sänger spricht, vollzieht sich in Strophe 2 und 3 ein Sprecherwechsel. Nun spricht der Weinbergbesitzer (durch den Mund des Sängers) selbst, somit wird die Distanz zum Hörer aufgehoben. Diese Unmittelbarkeit wird in Strophe 2 dadurch verstärkt, dass die Zuhörer direkt aufgefordert werden, selbst ein Urteil zu sprechen. Das ist auch der Zweck der Doppelfrage in Vers 4. Die 3. Strophe gibt dann selbst die Antwort auf diese Fragen und schildert die sorgfältige Vernichtung des Weinberges.

Am Ende der 3. Strophe beginnt die Enthüllung der Metaphern, durch den Befehl, dass der Regen ausbleiben soll: Der Weinbergbesitzer kann also nur Gott sein. Die weiteren Metaphern werden dann in Strophe 4 aufgelöst: Der Weinberg ist das Volk Israel, und die Früchte sind Früchte des Rechts und der Gerechtigkeit. Um die Pointe des Liedes nicht an der Verstocktheit des Herzens und der Verbohrtheit des Verstandes abprallen zu lassen (Jes 6,10), verwendet das Weinberglied einen genialen Kunstgriff: Die Zuhörer werden aufgefordert, selbst ein Urteil zu sprechen. Wahrscheinlich haben sie gedanklich den Weinberg verurteilt.

Am Ende des Liedes erfahren sie dann, dass das Lied auf sie gemünzt ist. Eine persönliche Betroffenheit ist unvermeidlich, denn mit ihrem Urteil haben die Hörer sich selbst überführt! Im Weinberglied sind drei verschiedene Bedeutungsebenen miteinander verwoben: Das Verhältnis der Braut zum Bräutigam, das Verhältnis des Weinbergs zu seinem Besitzer und das Verhältnis Israels zu JHWH. Das Bildfeld „Brautleute“ ist mit dem Bildfeld „Weinberg“ durch das Hohelied verbunden (Hld 1,6; 2,15; 8,11f.):

Der Weinberg ist ein Bild für die Geliebte. Vordergründig handelt das Lied über den misslungenen Anbau eines Feldstückes, der israelitische Hörer konnte es aber auch als die Geschichte einer tragischen Liebe deuten. Einzelaussagen des Weinberglieds können jedoch nicht — wie im Hohen Lied — als erotische Anspielungen verstanden werden, sondern die Bildfelder sind nur im ganzen miteinander verbunden: Wie schon Hosea, Jesajas älterer Zeitgenosse, das Verhältnis JHWHs zu seinem Volk als das Verhältnis von Bräutigam und Braut beschreibt (Hos 1,3).

Es ist anzunehmen, dass die Zuhörer von Anfang an verstanden, dass der Weinberg im übertragenen Sinn gebraucht wird. Die wahre Bedeutung der Metapher „Weinberg“ haben sie aber wohl erst am Ende des Liedes erkannt. In älterer Zeit wurde der Weinberg vermutlich noch nicht als Metapher für Israel verwendet, vielmehr das verwandte Bild vom Weinstock. Zum einen symbolisiert der Weinstock die Fruchtbarkeit und den Segen Israels, der Israel als das auserwählte Volk ausweist (Gen 49,10f.; Dtn 33,28; Am 9,13ff.). Zum anderen meint er das Volk Israel selbst (Hos 10,1; Jer 2,21; Ez 15,1-6). In Ps 80,9-16 beinhaltet das Bild vom „Weinstock“ sowohl die Vorzugsstellung Israels gegenüber anderen Völkern als auch die Sorge JHWHs für sein Volk. Summa: Der Aufbau, die Verschränkung der Bedeutungsebenen, der Verfremdungseffekt mit dem Wortspiel in der letzten Strophe sowie der Kunstgriff, die Hörer ihr eigenes Urteil sprechen zu lassen, machen das Weinberglied zu einer literarischen Perle des Alten Testaments! Des öfteren wird sowohl die Einheitlichkeit des Textes als auch seine Echtheit in Zweifel gezogen. Obige ausführliche Analyse des textlichen Charakters des Weinberglieds, vor allem die komplizierten Klammerungen der Strophen, legen dennoch die Vermutung nahe, dass der Text einheitlich ist.

Das Lied stammt wohl aus der Frühzeit des (Proto-)Jesaja (um 740 v. Chr.), einer langen Periode des Wohlstands des Nord- und Südreiches. Es hat die Form eines paradigmatischen Rechtsentscheids (Berger, Formgeschichte des NT, S. 51f.) Ein paradigmatischer Rechtsentscheid ist ein Gleichnis, das ein einmaliges Geschehen schildert.

Der Hörer wird mit einer rhetorischen oder direkten Frage aufgefordert, selbst zu urteilen. Ein Beispiel für eine paradigmatische Rechtsentscheidung ist das Gleichnis Nathans (2 Sam 12,1-14); dort fällt David ein Urteil im Streitfall des Lammraubes (2 Sam 12,5f.). Ähnlich wie im Gleichnis Nathans müssen im Weinberglied die Angesprochenen erkennen, dass das Urteil ihnen gilt: „Du selbst bist der Mann!“ (2 Sam 12,7). Die Formbestimmung des Liedes als Gleichnis verbietet es, die Bildhälfte allegorisch auszudeuten.

Die Eigenart des Gleichnisses besteht darin, dass es eine selbständige Bildhälfte mit einer Pointe besitzt. Diese Pointe allein ist die Zielaussage der Erzählung (= Skopus der ganzen Erzählung). Die Pointe des Liedes ist, dass JHWH Gerechtigkeit erwartet und enttäuscht wird, worauf der Entzug seiner Fürsorge ankündigt wird.

Worin bestand aber konkret das Vergehen des Volkes? Der Endredaktor antwortet auf diese Frage, indem er die Weherufe (Jes 5,8ff.) anhängt: Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht und Feld an Feld fügt, bis kein Platz mehr da ist und ihr allein im Lande ansässig seid ... Die Zielaussage des Weinberglieds ist somit, dass JHWH auf der Seite der politisch und sozial Vergewaltigten zu finden ist. Am Umgang mit ihnen entscheidet sich das Gottesverhältnis sowie das Wohl des gesamten Volkes.

In der Perikopenrevision ist das Weinberglied aus der Reihe 4 nach vorne in die Reihe 3 gewandert. Der erste Teil der Predigt ist als Erzählpredigt gestaltet und soll die Predigthörenden die Form des paradigmatischen Rechtsentscheids nachempfinden lassen. Aus diesem Grund wird der Predigttext nicht vor der Predigt gelesen, da sonst die Pointe schon verraten wäre. Der Predigttext ist abschnittsweise in die Erzählung eingebettet. Er folgt der Guten Nachricht in VV 1-6. Der Schlussvers ist hingegen eine eigene Übertragung.

Literatur: K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. - G. Fohrer, Das Buch Jesaja, Bd. 1, Züricher Bibelkommentare, 2. Aufl., Zürich-Stuttgart 1966, S. 74-78. - P. Höffken, Probleme in Jesaja 5,1-7, ZThk 79 (1982), S. 392-410. - O. Kaiser, Das Buch des Propheten Jesaja Kap. 1-12, (ATD 17), 5. Aufl.,,Göttingen 1981, S. 96-100. - W. Schottroff, Das Weinberglied Jesajas (Jes 5,1-7). Ein Beitrag zur Geschichte der Parabel, ZAW 82 (1970), S. 68-91. - H. Wildberger: Jesaja I: 1-12, (BK X/1), Neukirchen 1972, S. 163-174.

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„Sing uns ein Lied!” rief eine Stimme, die gewohnt war zu befehlen. “Ein Liebeslied”, forderte sein Nachbar. Er trug einen etwas schiefen Turban. “Nein, besser ein Trinklied!” widersprach der erste. Der unbekannte Sänger stand in der Mitte eines überfüllten Platzes. Um ihn hatte sich eine Menschentraube gebildet. Gespannt, fiebrig, vom Wein berauscht. Jerusalem war brechend voll. Das Weinlesefest hatte viele aus dem judäischen Umland in die Stadt gezogen. Zur Zufriedenheit der Zurufer stimmte der Sänger ein Lied an.

„Ich will singen für meinen Freund, das Lied meines geliebten Freundes von seinem Weinberg: Auf einem fruchtbaren Hügel liegt sein Stück Land, dort hackte er den Boden mit eigener Hand, er mühte sich ab, las alle Felsbrocken auf, baute Wachturm, Kelter, setzte Reben darauf. Auf süße Trauben hoffte er zu Recht, doch was im Herbst wuchs, war sauer und schlecht. Jerusalems Bürger, ihr Leute von Juda! Was sagt ihr zum Weinberg, was tätet denn ihr da? Die Trauben sind sauer, so entscheidet doch ihr: War die Pflege zu schlecht, liegt die Schuld denn bei mir? Auf süße Trauben hoffte ich zu Recht, doch was im Herbst wuchs, war sauer und schlecht.”

„Was macht man denn mit so einem Weinberg? So viel investierte Mühe! So wenig Wein! Was macht man nur damit?” Der Turbanträger musterte seinen fragenden Nachbar. Teure Kleidung, aber etwas angetrunken. Vielleicht ein Emporkömmling, ein Möchtegernreicher aus dem Land! „Ach, du verstehst gar nichts! Das ist ein Liebeslied! Kein Trinklied! Der Weinberg meint seine Braut.“ Er suchte mit seinem Blick die glühenden Augen einer jungen verschleierten Frau in seiner Nähe. Mehr zu ihr, fuhr er laut fort: “Ich komme in meinen Garten, Schwester Braut, trinke meinen Wein, berausche mich an der Liebe!“ Dann wandte er der Kopf wieder abrupt zu seinem Nachbarn: „Kennt man auf dem Land nicht die berühmten Liebeslieder des Königs Salomo?” Die beiden stritten, ob es sich um ein Weinberglied oder um ein Liebeslied handelte. Der Rhythmus des Liedes schlug unheilverkündend um:

„Ich sage euch, ihr Leute, das tue ich jetzt: Weg reiß ich die Hecke, als Schutz einst gesetzt; zum Weiden sollen Schafe, Ochsen hinein! Und die Mauer ringsrum, die reiße ich ein! Zertrampelnden Füßen geb ich ihn nun preis! Schlecht lohnte mein Weinberg mir Arbeit und Schweiß! Ich will nicht mehr hacken, Unkraut soll sprießen! Der Himmel soll ihm den Regen verschließen!” „Weg mit dem Weinberg! So wenig brauchbaren Ertrag! Das ist nicht richtig! Das geht nicht an!” “So viel vergebliche Liebesmühe”, verbesserte der mit dem Turban. „Er hat recht, das liederliche Weib mit einem Tritt wegzujagen!” Er blickte verstohlen zu der jungen Frau. Ihr Gesicht war verzerrt, die Augen geschlossen, als gelte der Tritt ihr.

Die Männer konnten ihren Streit nicht von neuem beginnen, denn das Ende des Liedes traf sie ohne Warnung. „Der Weinberg Gottes ist Israel — seid ihr! Der Lustgarten Gottes ist Juda — seid ihr! Ja, er hoffte auf Guttat, Doch siehe, da war Bluttat! Er hoffte auf Gerechtigkeit, Doch siehe, da war Schlechtigkeit!” Das Johlen war verstummt. Eine Stille hatte sich über dem Platz gelegt, wie ein übergeworfenes Leichentuch. Die letzten Verse gällten noch im Ohr. Langsam begriff der Turbanträger. Eine raffinierte Falle hatte der Sänger ausgelegt, und sie waren hineingetappt. Wer war er?

Vielleicht ein Prophet? Er hatte den alten Trick des Prophet Natan verwendet. Als König David seinen Soldaten Urija ermorden ließ, um dessen Frau Batseba zu heiraten, da sandte Gott den Natan zum König. Er trug ihm einen Streitfall vor: Ein Reicher raubte einem Armen sein einziges Lamm, um es für sein Festmahl zu schlachten. Was soll mit diesem Reichen geschehen, o König? David entschied, ohne lange zu zögern: Der Reiche wird zum Tode verurteilt! Da schleuderte ihm Natan ins Gesicht: Du selbst bist der Mann! Du hast dir die Frau des Urija genommen und ihn ermorden lassen! Du hast dein eigenes Urteil gesprochen! Du selbst bist des Todes!

Die Gedanken des Turbanträgers tanzten wirr, verzweifelt. „Ich bin ihm ins Netz gegangen, wie David den Natan. Der fruchtlose Weinberg, das bin ich selbst!” Er suchte mit seinem Blick den Sänger. Doch dieser war bereits in der Menge verschwunden. Auch die Frau mit den glühenden Augen fand er nicht mehr. Einzig der Reiche grinste selbstsicher, als könne ihm nichts etwas anhaben. Zorn flammte im Turbanträger auf, über seine Voreiligkeit, über seine Dummheit, über sich selbst: „Ich habe das liederliche Weib verurteilt. Und ich habe damit mein eigenes Urteil gesprochen. Fortjagen, mit einem Tritt, wird mich Gott!” Als er den Kopf zur untergehenden Sonne hob, färbte sich sein Gesicht rot. Als frage er die Sonne, murmelte er: “Ist er ein Prophet? Wenn er ein Prophet ist, so ist noch Hoffnung! Als David vor Natan Reue zeigte, begnadigte ihn Gott. Gibt es auch für mich, für uns die Möglichkeit der Gnade?” So stelle ich mir vor, dass es sich abgespielt hat. Damals, vor vielleicht 2700 Jahren, in Jerusalem.

Soziale Gerechtigkeit im Jesaja-Buch

Als der Prophet Jesaja zum ersten Mal öffentlich auftrat. Vielleicht haben Sie etwas gespürt von der Faszination dieses Liedes. Von der Kraft, mit der es damals die Hörerinnen und Hörer bloßlegte. Das Lied heißt das „Weinberglied” und steht im 5. Kapitel des Buches Jesaja. Es ist eine der literarischen Perlen des Alten Testaments — in wunderbarer hebräischer Versform geschrieben. Kunst hin, Kunst her. Der Inhalt schmeckt freilich so, als verschlucke man einen Frosch. Jesaja kündigt seinem Volk das Gericht an. Wieso? Der letzte Vers des Liedes nennt den Grund: „Gott wollte Guttat, doch siehe, da war Bluttat! Gott wollte Gerechtigkeit, doch siehe, da war Schlechtigkeit! “Schlechtigkeit” ist eine sehr freie Übersetzung. Übersetzt man wörtlich aus dem Hebräischen, dann heißt es: Gott wollte Gerechtigkeit, doch siehe, da war der Hilfeschrei der politisch und sozial Vergewaltigten! Das ist das Thema des Weinbergliedes:

Der Hilfeschrei der Gequälten und Geschundenen ist zu Gott gedrungen. Und Gott ist nicht bereit, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hinzunehmen. Zur Zeit Jesajas herrschte eine Wirtschaftsblüte. Durch die Gesellschaft hingegen ging ein tiefer sozialer Riss: Während die Oberschicht in Luxus schwelgte, verarmte die Unterschicht zusehends. Die Reichen vergrößerten ihren Besitz auf Kosten der Armen. Das Jesaja-Buch interveniert in dieser Situation. Direkt im Anschluss an das Weinberglied heißt es unmissverständlich: Wehe euch, die ihr Haus an Haus reiht und Feld an Feld fügt, bis kein Platz mehr da ist und ihr allein im Land ansässig seid (Jes 5,8). Akkumulation von Eigentum auf Kosten der Armen wird scharf abgelehnt.

Das Prophetenbuch meint: Wer glaubt, Gott hat seinen Platz im Tempel und kümmert sich nicht darum, was auf dem Marktplatz geschieht, der irrt gewaltig! Unerbittlich pocht er auf das Lebensrecht der Armgemachten. Soziale Gerechtigkeit und die Liebe zu Gott lassen sich nicht trennen. Am Umgang mit den Armen entscheidet sich das Gottesverhältnis. Tritt Israel ihr Lebensrecht mit Füßen, so zerstört es letztlich seine Beziehung zu Gott. Denn Gott steht auf der Seite der Entrechteten und sozial Vergewaltigten.

Soziale Gerechtigkeit in Deutschland

Ich glaube, die Botschaft des Prophetenbuches gilt auch heute: Gott ergreift Partei für die Opfer, die im wirtschaftlichen Getriebe zermahlen werden. An den Rändern unserer Gesellschaft, genauso wie in der südlichen Hemisphäre unserer Erde. Bei der Haushaltsdebatte im Herbst fiel der Satz im Bundestag: „Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick“. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Das gilt für viele, aber nicht für die Unterschichten. Zudem geht das Gespenst der Angst um in unserem Land. Angst vor gesellschaftlichem Abstieg. Angst, weniger zu haben als bisher, weil so viele Flüchtlinge im Land sind. Dies ist Folge der sozialen Spreizung der letzten Jahre:

Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Die Schere geht immer weiter auseinander. Der 1. Armuts- und Reichtumsbericht unserer Landesregierung stellt das auch für Baden-Württemberg fest. Wichtigster Grund ist die zunehmende Bedeutung von Einkünften aus Vermögen. Die Vermögen sind ungleicher verteilt als die Erwerbseinkommen. So der Bericht der Landesregierung. Der Bericht legt seinen Schwerpunkt auf Kinderarmut. Jedes 5. Kind in Baden-Württemberg lebt in Armut. Was für eine beschämende Zahl für ein so reiches Land!

Soziale Gerechtigkeit in der südlichen Hemisphäre der Erde

Und wie sieht es auf der Erdkugel aus? Wenn die Welt ein Dorf wäre, das 100 Einwohner hätte, und man würde alle Proportionen beibehalten, dann würde dieses Dorf folgendermaßen aussehen: Es gäbe 57 Asiaten, 21 Europäer, 14 Nord- und Südamerikaner und 8 Afrikaner. Es gäbe 52 Frauen und 48 Männer, 30 Weiße und 70 mit anderer Hautfarbe. Nur 6 Personen besäßen 60 % des gesamten Reichtums des Dorfes und 5 von ihnen kämen aus den USA, eine Person aus Europa. Dagegen würden 80 Personen in maroden Häusern leben und 50 von ihnen würden an Unterernährung leiden. So ungleich sähe dieses Dorf aus. Und ich übertrage: So ungleich sieht es auf unserer Erde aus. Das ist freilich nicht die Schuld Gottes!

Hunger ist nicht von Gott gegeben. Es ist nicht so, dass Gott so wenig wachsen lässt, dass es nicht genug zu essen auf der Welt gäbe. Nein, Hunger ist gemacht. Durch ungerechte Rohstoffpreise, durch ungerechte Handelsstrukturen, durch Krieg, durch manch andere Gründe mehr. Die Vereinten Nationen haben berechnet, dass bei einer gerechten Verteilung genug Lebensmittel für die knapp 7,5 Milliarden Menschen auf unserem Planeten vorhanden wären. Hunger ist ein Verteilungsproblem.

Im Abendmahl befähigt uns Jesus zu Früchten der Gerechtigkeit

Letztlich forderte das Jesajabuch seine Zeitgenossen zum Umdenken auf. So wie Gott uns im Abendmahl zum Sinneswandel ruft, das wir gleich miteinander feiern. Im Wein und Brot begegnet uns der lebendige Jesus. Jesus, der arm unter Armen lebte. Wir können nicht alles tun. Und das ist gut so, denn das ist die Chance für Jesus, ins Spiel zu kommen. Jesus will unser Wegbegleiter sein. Es erinnert uns an die Liebe, mit der Gott uns umsorgt. Wie ein Winzer seinen Weinberg. Und Jesus befähigt uns, Früchte der Gerechtigkeit zu bringen. Auf einem fruchtbaren Hügel liegt sein Stück Land, dort hackt er den Boden mit eigener Hand, er müht sich ab, liest alle Felsbrocken auf, baut Wachturm, Kelter, setzt Reben darauf. Auf süße Trauben hofft er zu Recht …

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Ein Kommentar zu “Gerechtigkeit

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Selten hat mich eine Bußpredigt so bewegt, wie die excellente Predigt von Pfarrer Dr Petracca. Das Weinberglied des Jesaja ist “eine der literalischen Perlen” des Alten Testaments” Der Prediger macht daraus eine Perle der anspruchsvollen , ja eigentlich immer schwierigen Bußpredigt heute. Er folgt dabei der großen Rhetorik des Jesaja und erzählt auch zuerst von dem Weinberg und deseen Liebhaber um die hörer einzulullen. Sehr gelungen spricht der Pfarrer dann über mangelnde soziale Gerechtigkeit bei Jesaje und heute. Gott, der Vater Jesu steht auch heute auf der Seite der Armen und Entrechteten. Man kennt die erschreckenden Statistiken heute ja schon. Der Prediger aber formuliert es so geschickt, dass man die Aufforderung zur Buße nicht üblich beiseite schiebt, sondern annimmt. Sehr überzeugend wird der Hörer zum Schluß mit Jesus verbunden, der die Armen liebte und heute auch uns. – Das überaus schwierige Problem, über Buße zu predigen, hat diese Predigt ergreifend und aktuell gelöst. Zu ergänzen ist noch, dass die besonders gründliche und umfassende Exegese zu Beginn auch dem durch erfahrenen Lübecker Exegese – Kreis von Pastoren sehr gefällt. Man sollte sie weitergeben und besprechen.

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