Verloren?

Verloren ist noch lange nicht verloren

Predigttext: Lukas 15,1-10
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 02.07.2017
Kirchenjahr: 3. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Lukas 15,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther)

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

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Verloren ist noch lange nicht verloren

Lohnt es sich eigentlich, 99 Schafe ungeschützt zurückzulassen, um – vielleicht – das eine verlorene Schaf zu finden? Ob es sich lohnt, fragt der Mensch, der 100 Schafe hat? Was fragst du? Jetzt muss ich losziehen. Wer weiß, wo das Schaf abgeblieben ist. Es soll ihm nichts geschehen. Ich bin dann mal weg … Die 99 Schafe haben nichts gemerkt. Lohnt es sich eigentlich, für 1 Drachme einen so großen Aufstand zu machen? Silbergroschen übersetzt Luther – hört sich gut an. Es ist aber nicht viel. Oder doch? 10% des Besitzes immerhin – das lässt man doch nicht einfach verschwinden. Oder gibt es verloren. 1 Drachme lässt nicht ruhen.

Lohnt es sich eigentlich, um einen Menschen zu kämpfen, ihm nachzugehen, ihn immer wieder zu suchen? Schon bizarr: Menschen gehen auch verloren. Oder besser: Menschen werden verloren gegeben. Das ist dann eine andere Geschichte. Aber von der erzählt Jesus – eigentlich.

Such-Geschichten

Bevor etwas, bevor jemand gefunden wird, muss erst gesucht werden. Eine Binsenweisheit zwar, aber alles andere als selbstverständlich und gewöhnlich. Der Mensch, der 100 Schafe hat, bemerkt, dass ihm auf dem Weg – oder gar auf der Weide – 1 verloren gegangen ist. So schwer wird es für ihn nicht sein, 100 abzuzählen – oder kennt er seine Schafe so gut, dass der Blick reicht?

In der Geschichte, die Jesus erzählt, bleiben viele Einzelheiten außen vor. Sie interessieren nicht. Oder haben nicht zu interessieren. Alles dreht sich nur um das 1 Schaf. Wie lange der Weg ist, es zu finden? Der Mensch ohne Namen legt sein Schaf auf die Schulter und trägt es nach Hause. Ist das Schaf müde? Abgekämpft? Kann es nicht mehr laufen? Das Schaf auf der Schulter sagt mehr als 1.000 Worte. Fast schon väterlich fühlt sich das an – oder auch zärtlich. Dass man mit Schafen nicht schimpfen kann, wissen wir alle. Aber man könnte es erzählen. Doch kein Wort davon.

Es ist eine Such-Geschichte. Überlegt, aktiv, beherzt. Die Frau hat eine Drachme verloren. Ist sie aus dem Geldbeutel gefallen? Wurde sie gar nicht achtsam in den Geldbeutel gelegt? Wechselgeld? Wer nur 10 Drachmen hat, sieht sofort, was los ist. Wo ist sie nur? Das Haus – so war das damals – hatte kein Licht. Also muss Licht gemacht werden. Eine Funzel. Wir sehen die Frau auf Knien rutschen, jede Ecke ausleuchten. Ausleuchten? Die Schatten tanzen. Viel zu sehen ist nicht. Da nimmt sie den Handfeger, kehrt schon fast liebevoll den Boden, Stück für Stück. Wenn sie noch hier ist, muss sie im Staub liegen. Eine Drachme im Staub. Auffällig, wie aufmerksam die beiden sind, der Mann mit den Schafen und die Frau mit den Drachmen. Beide nehmen den Verlust wahr und lassen nichts unversucht, ihn aufzuklären, nein, zu finden, was verloren gegangen ist. Das macht die Geschichte so unnachahmlich schön: Weiß ich immer, was verloren geht? Was zurückbleibt? Was sich entfernt?

Ich möchte die beiden Geschichten nicht missen. Sie sind eine Wahrnehmungsübung, ein Hingucker. In unserer Gesellschaft wird über viele Menschen geredet. Auch die Texte, die geschrieben werden, sind lang. Generation Allah – zum Beispiel. Ist die Generation Allah verloren? Ich las im Internet davon. Eine These, die Bände spricht. Viele junge Menschen radikalisieren sich, weil sie an etwas Großes noch glauben wollen – oder müssen. Wirtschaftlich abgehängt, ohne eigene Perspektiven, nehmen sie Heilsversprechen für bare Münze und werden zu Streitern in einem Heiligen Krieg. Wenn sonst nichts, dann wenigstens das. Wir hatten das alles schon – mit anderen Namen, anderen Schlagzeilen, anderen Bildern. Eigentlich sind die letzten 100 Jahre voll davon.

Wir lassen uns nicht gerne erinnern. Die Erinnerung tut weh. Es könnte uns auffallen, dass wir spielend über „verlorene“ Generationen reden können. Im Süden Europas werden auch Generationen verloren gegeben. Junge Menschen, die keine Arbeit finden, alte Menschen, die zu viel haben um zu sterben, zu wenig, um zu leben. Zahlen sind angeblich unbestechlich. Darum lieben wir Statistiken. Sie werden zelebriert in der Aura des Objektiven. Aber, Entschuldigung, es wird geredet – wie über Mieten, Autopreise oder Urlaubspläne. Worüber geredet wird, ist aber offen. Nicht heimlich, nicht nur geahnt. Öffentlich wird diskutiert, bestritten und dann wieder – vergessen. Die Zahlen von gestern interessieren nicht einmal mehr den Historikern.

Aber dass Menschen verloren gegeben werden, in aller Öffentlichkeit, ist genau das Gegenteil von dem, was Jesus erzählt. Verlorene Generationen sind mehr als 100 Schafe oder 10 Drachmen. Aber wer einen Menschen sucht, sucht eigentlich alle, jeden. Such-Geschichten sind nicht so harmlos, wie sie sich anhören. Und ich dachte, ich könnte die Geschichten, die Jesus erzählt, auswendig. Schade. Erwischt!

Geschichten der Freude

Was machen die beiden eigentlich danach? Das 1 Schaf ist gefunden und tummelt sich wieder unter den anderen. Der Stacheldraht, der Wolf, der Dieb – sie sind schon (fast) vergessen. Die Drachme ist auch wieder im Geldbeutel der Frau. Bald wird sie ohnehin wieder ausgegeben. Sie wissen schon: der Kreislauf des Geldes.

Die Schafe haben ein wenig mehr Zeit – enden dann aber auch beim Schlachter. Aber ich muss mich zügeln. Der Pessimist geht mit mir durch. Nein, es wird gefeiert! Richtig gefeiert! Freunde und Nachbarn, Freundinnen und Nachbarinnen werden persönlich eingeladen. Kein Geburtstag, kein neues Auto. Keine Beförderung. Nur: Ich habe etwas verloren – und gefunden. Freut euch mit mir! Es ist, als ob diese Freude nicht alleine bleiben kann. Sie muss laut werden. Eben wie eine Party. Freunde und Nachbarn hatten nicht einmal Zeit, sich um Geschenke zu kümmern. Schon interessant: es wäre komisch, wenn sie etwas mitbringen würden. Angezeigt ist nur zu feiern. Und das jetzt, sofort, ohne großes Zögern. In den Geschichten geht alles Schlag auf Schlag. Schön, dass es so ist.

Das Suchen findet – die Freude. Und die Freunde. Wer überlegen will, kann das morgen noch machen. Jesus, der die kleinen Geschichten erzählt (und später dann auch noch das Gleichnis vom verlorenen Sohn) gibt den Ton vor. Die rationale Abwägung, was sich lohnt, was wir verkraften können, was vernünftig ist, gewährt keine Zukunft. Begründet keine Hoffnung. Aber die Freude, die geteilt wird, wenn Verlorenes gefunden ist – sie ist der offene Himmel. Haben wir das schon einmal probiert? Vieles wird bei uns nur zur Kenntnis genommen. Auch, wenn Menschen, die sich schuldig gemacht haben, wieder bei uns auftauchen. Irgendwie liegt ein Bann darüber. Alte Geschichten mutieren zu Gefängnissen. Könnte ein Fest die Zungen lösen und neue Erfahrungen ermöglichen?

An vielen Stellen wird sachlich über Schicksale entschieden. Das passiert auch in Schulen, Universitäten, in Kirchengemeinden. Sachlich. Sach-lich. Als ob Menschen und ihre Erfahrungen eine Sache wären. Merkwürdig genug, dass wir keine Alternativen mehr suchen, menschliche Geschicke wie unsere eigenen zu beschreiben. Könnte ein Fest die Zungen lösen und neue Erfahrungen ermöglichen? Wenn Menschen Erfolg haben, etwas schaffen, etwas in ihrem Leben erreicht haben, fällt es leicht, ein Fest zu geben. Vielleicht sind dann auch nur die Gewinner unter sich.

Setzen wir unsere Überlegungen fort, spüren wir, was in den Geschichten Jesu versteckt und doch so offen ist: Es ist die Einladung, sich mitfreuen zu können – wenn uns Menschen begegnen, die als verloren galten und jetzt wieder dazu gehören. Es ist die Einladung, sich mitfreuen zu können – wenn uns Menschen begegnen, die wir verloren gegeben haben und uns jetzt ins Gesicht sehen. Letztlich ist es die Einladung, sich mitfreuen zu können – wenn niemand mehr verloren gegeben wird. Und da wir den Anfang machen, kann das Fest heute noch beginnen. Verlorenheit ist ein großes Wort. Freude ein noch größeres.

Die Liebe zum Detail

Jesus erzählt die beiden kleinen Geschichten murrenden Menschen. Sie erheben sich über Jesus, weil er barmherzig ist mit Menschen, die eben als Verlorene gelten. Ein weites Feld. Über Pharisäer und Schriftgelehrten sollten wir jetzt nicht den Stab brechen. Da ist dem Evangelisten etwas durchgegangen. Lukas weiß das auch. Worüber wir aber reden, ist, dass wir Menschen in Geschichten einschließen, die wir nicht öffnen wollen. Hören Sie auch das „Murren“? Es ist schwer, barmherzig zu sein, wenn Menschen alles abrechnen, aufrechnen, zurechnen. Schuld zumal. Was verloren ist, was wir verloren geben – das könnten wir selbst sein. Da lobe ich die kleinen Details: Der Mann, der sein Schaf gefunden hat, trägt es auf den Schultern nach Hause. Die Frau ruscht auf Knien durch ihr Haus, lässt ihre Funzel in jede Ecke scheinen und fegt den Staub zusammen. Da ist sie – die Drachme. Das Leben. Die Zukunft. Verloren ist noch lange nicht – verloren.

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