Füllhorn

Erntedank – Fülle an Segnungen

Predigttext: Jesaja 58, 6-12
Kirche / Ort: Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Thomas / Lübeck
Datum: 01.10.2017
Kirchenjahr: Erntedankfest
Autor/in: Pastor Björn Schneidereit

Predigttext: Jesaja 58, 6-12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

6 Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

Meditation und Überlegungen zur Predigt

Beim Lesen des Prophetenwortes malen sich mir besonders dessen prächtigen Verheißungen vor Augen und ins Herz. Wer sich den Armen zuwendet mit Taten der Liebe, dem wird Gottes Segnungen versprochen. Eine Fülle an Segnungen (V. 8-12), die mich am Erntedankfest an ein Füllhorn denken lässt. Von Licht in meinem Dunkel ist die Rede, von Heilung, die mir widerfährt, von Gottes Nähe, wenn ich rufe, von nie versiegenden Wasserquellen. Lebensfülle, die sich jeder Mensch wünscht.

Als zweites drängt sich die damit verbundene Kausalität in das Zentrum meines Nachsinnens über den Text. Ursache und Wirkung. Die Segnungen sind gebunden an Bedingungen. Wenn – Dann. Dies könnte lutherische Gnadenfrömmigkeit kritischen Einwand erheben lassen. Gleichwohl ist mir bewusst, dass sich „sola gratia“ nicht auf alle Lebensbereiche bezieht, sondern auf die Erlösung des Menschen. Daher entschließe ich mich, darauf den Fokus meiner Predigt zu setzen: Den alttestamentlichen Text und dessen innewohnende Theologie ernst zu nehmen. Ich möchte herausstellen, dass der Mensch in der Tat durch Fleiß und Tatkraft zur Steigerung seiner Lebensqualität beitragen kann. Der Prophet Jesaja vermag dies ebenso auf den spirituellen Bereich anzuwenden, wenn er sich dem Thema Fasten zuwendet.

Da das Fasten für mich ein zentraler Bezugspunkt des Textes ist, nehme ich zum vorgeschlagenen Perikopentext Vers 6 hinzu. Der gesamte Abschnitt kann sodann aus meiner Sicht pars pro toto für den kult- und sozialkritischen Akzent der Jesajaverkündigung stehen. Dies gilt daher ebenso in dessen Sinne für heute aufzunehmen. Spiritualität ist nichts Weltentrückendes sondern etwas Weltverwandelndes. Diese prophetische Deutung des Fastenbegriffs mag die Hörerin und den Hörer überraschen. Fasten ist medial präsent. Klosterseminare, Dokumentationen in Funk und Fernsehen sowie Literatur haben das Fasten unters Volk gebracht – jedoch vorrangig in einer Art und Weise, die sich mit den Auswirkungen für das Individuum befasst und nicht auf Auswirkungen für das Kollektiv bzw. einer sozialen Gruppe zielt. So stellt sich die Frage, inwiefern heutige soziale (Un-)Gerechtigkeit und schwindende Glaubenspraxis in unserer Gesellschaft von dem Prophetenwort neu inspiriert werden könnte, wenn man mit ihm ernst machen würde.

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Dieses Bild zeigt ein Füllhorn. Es ist so reich mit den Früchten der Erde gefüllt, das es überquillt. Das Füllhorn ist ein altes, mythologisches Symbol. Es steht für Glück, Fruchtbarkeit, Reichtum und Überfluss. Damit ist es zugleich auch Wunschbild des Menschen aus der Fülle des Lebens zu schöpfen. Wir wollen nicht kärglich am Existenzminimum leben, sondern ein Leben führen, dass blüht, wächst und gedeiht.

Diese Sehnsucht nach der Fülle des Lebens zu stillen, bedarf wie in der Landwirtschaft der Arbeit. Damit eine Apfelplantage oder ein Maisfeld eine gute Ernte einbringt, muss der Boden vorher beackert werden. Das Wissen um diese Kausalität – also dem Prinzip von Ursache und Wirkung – ist uns vertraut und wird pointiert zusammengefasst in dem Sprichwort: „Ohne Fleiß, kein Preis!“

Protestanten verkünden zu Recht, dass uns der Himmel ganz gewiss allein durch das Erlösungswerk Christi und allein aus Gnade offensteht. Gleichwohl ist aus Lebenserfahrung unbestreitbar, dass wir in einem gewissen Maße mitverantwortlich sind für die Qualität unseres irdischen Lebens. Das beginnt bereits in der Schule. Wer sich verweigert zu lernen, um lieber stundenlang am Computer zu spielen, der knackt vielleicht den Highscore, wird jedoch schlechte Zeugnisse ernten, was den Einstieg ins Berufsleben oder Studium enorm erschweren kann. Andererseits gilt: Wer sich anstrengt, fleißig ist und Freude am Lernen entwickelt, erntet mit großer Wahrscheinlichkeit einen guten Abschluss, womit ein fruchtbarer Boden für die Zukunft bereitet ist.

Blicken wir von den Schülerinnen und Schülern in die erwachsene Welt der Unternehmer, entdecken wir auch hier das Prinzip von Ursache und Wirkung. Die Unternehmensführung arbeitet beständig an Verbesserung von internen Ursachen, die eine Ertragssteigerung zur Folge haben. Ebenso gilt dieses Prinzip in Sport oder Musik. Auch unser St. Thomas-Chor singt heute mit wunderbarer Wirkung für Herz und Ohr, weil er in vielen Stunden der vergangenen Monate für den Gottesdienst geprobt hat. Ursache und Wirkung.

Der Mensch, der dieses Kausalprinzip anerkennt, strebt oft nach Optimierung des Erfolges im beruflichen oder privaten Leben. Das liegt im Trend der Zeit. Die Bücherregale füllen sich monatlich mit Neuerscheinungen zu diesem Thema. Ich gebe Ihnen eine kurze Kostprobe anhand von drei Buchtiteln:
– Die stärkste Marke sind Sie selbst. Schärfen Sie Ihr Profil mit Human branding!
– Coach-selbst-sonst-coacht-keiner. 101 Tipps zur Verwirklichung Ihrer beruflichen und privaten Ziele
– Biohacking. Optimiere dich selbst: Besser schlafen. Mehr leisten. Ausgeglichener sein. Länger leben.

Doch nicht nur in der Sparte „Lebensratgeber“ oder „Literatur für Führungskräfte“ finden wir die Nutzbarmachung von Ursache und Wirkung für mehr Lebensglück, und nicht nur zu unserer Zeit, auch in der Religion und vor etlichen Jahrhunderten war es dem glaubenden Menschen vertraut, Gottes Wirken durch bestimmte Handlungen anzuregen. Gottes Aufmerksamkeit und sein Segen sollte durch Verzicht, Reinigung, Buße und Sammlung erlangt werden. In der spirituellen Tradition kennen wir diese Übungen unter dem Namen „Fasten und Beten.“

Mit dieser Hinleitung komme ich nun zum heutigen Predigttext. Ein Wort des Propheten Jesaja. Er führt uns vor Augen, wie der Mensch Gottes segnendes Handeln durch Fasten befördern kann. Vergessen Sie jedoch alle gängigen Vorstellungen, die Sie vielleicht mit diesem Wort verbinden. Es geht bei Jesaja nicht darum auf Essen und Trinken zu verzichten, Weihrauch zu entzünden, in der Heiligen Schrift zu lesen, sich ins Kloster zurückzuziehen, sondern was Gott durch Jesaja als Fasten definiert, klingt wie folgt: Ich lese aus dem 58. Kapitel des Propheten Jesaja:

(Lesung des Predigttextes).

Jesaja besaß ein ausgeprägtes Gespür für Missstände in Religion und Gesellschaft verbunden mit einem mutigen Eintreten für Gerechtigkeit. Er fühlte sich zur Kult- und Sozialkritik berufen. Dabei war es nicht Jesajas Absicht die kultische Traditionen oder Spiritualität der Gläubigen per se abzuschaffen oder in Nächstenliebe aufzulösen, vielmehr war er überzeugt, dass die aufrichtige, herzliche Hinwendung zu Gott Wirkungen nach sich zieht, die sich konkret und weltlich erfüllen. Der katholische Theologe Paul Michael Zulehner hat dies auf seine Weise in seinem Text, „Wer in Gott eintaucht“, ausgedrückt:

Wer in Gott eintaucht,
taucht neben den Menschen,
vorab den Armen auf.

In Gott Eingewurzelte „erben“ von Gott
eine hohe Aufmerksamkeit
für das Leid der Menschen.

Gottnähe macht leidempfindlich.
In einer Kultur des Wegschauens
üben solche Menschen das Hinschauen.

Wer mystisch gottvoll wird,
kann dann gar nicht anders
als in Gottes Art zu sagen:
„Ich kenne ihr Leid.“ (Ex 3,7)

Das ist das Markenzeichen
jener Gemeinschaft,
die sich Gottes Volk nennt. –

Das Streben nach Gottes Segen für mehr Fülle des Lebens ist auch dem gläubigen Menschen nicht fremd – und Gott verbietet dieses Streben nicht. Jedoch eröffnet er uns einen alternativen Weg, diesen Segen zu erlangen. Nicht durch Selbstoptimierung, nicht durch Wünsche an das Universum, auch nicht durch reines Üben wie Fasten und Beten zum Wohle meines Leibes und meiner Seele, sondern durch gute Taten für das Wohl des Nächsten fließt Gottes Segen zurück zu mir.

Wer sich der Not der Familie Mensch – dem eigenen Fleisch und Blut – zuwendet, dem gilt die prophetische Verheißung: „Dein Licht wird in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt“.

Das Thema soziale Gerechtigkeit brennt auch nach der Bundestagswahl vielen Bürgerinnen und Bürgern unter den Nägeln, ebenso nehmen wir als Kirche einen anhaltenden Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust in dieser Gesellschaft wahr, der sich faktisch in Zahlen bemessen lässt, sowie im Traditionsabbruch samt mangelnder Kenntnis und Bereitschaft zur Praxis des Glaubens („ praxis pietatis“).

Für beides – also für mehr Lebensfülle in Gesellschaft und Kirche dürfen und sollen wir beten und fasten. Das Prophetenwort fordert am Erntedankfest aber dazu heraus, es in einer bestimmten Weise zu tun – nämlich: die Lebensfülle der Armen in den Blick zu nehmen, ihnen segnend nahe zu kommen, was wiederum Gottes Nähe und Segen in unserem Leben freisetzen wird. Dieser Gedanke des „sich-um-den anderen-drehen“ anstelle um sich selbst, ist nicht von dieser Welt. Es könnte aber sein, dass es der beste Gedanke ist für die Zukunft dieser Welt.

 

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