Kennen wir Jesus noch nicht?

"Auf und macht die Herzen weit ..."

Predigttext: Markus 1,32-39 (mit Exegese)
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 22.10.2017
Kirchenjahr: 19. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Markus 1,32-39 (Übersetzung nach Martin Luther)

Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus und ließ die Dämonen nicht reden; denn sie kannten ihn. Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. Und Simon und die bei ihm waren, eilten ihm nach. Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Orte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus.

Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen zum Predigttext

Der Predigttext zum 19. Sonntag nach Trinitatis – Thema „Heilung“ – ist aus dem 1. Kapitel des Markus-Evangeliums (heraus)geschnitten. Mit Mk. 1,1 („Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“) öffnet sich ein großes Tor in das Evangelium. Wir treffen auf Johannes den Täufer, sind bei der Taufe Jesu und – kaum angedeutet – seiner Versuchung dabei, um dann gleich in den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu hingenommen zu werden. Die ersten Jünger werden berufen und Menschen geheilt.

Unser Predigttext erzählt schon die dritte Heilung. Der Reigen beginnt in der Synagoge, in der Jesus lehrt (1,21) – es ist Sabbat! -, um dann am Abend („da die Sonne untergegangen war“ – Sabbat ist vorbei) vor einer uns nicht näher bezeichneten Tür einen Höhepunkt zu erreichen.

Man achte auf die Worte: alle Kranken und Besessenen – die ganze Stadt. 1,28 legt die Spur: „Und die Kunde von ihm erscholl alsbald überall in das ganze Land um Galiläa.“ Doch vorher schon sind alle entsetzt (1,27). In diesem „alle“ oder „ganz“ versteckt sich die Universalität des gerade angefangenen Evangeliums. Über diesen Geschichtenkranz, schnell und eilig erzählt, mit vielen „und“ verknüpft und zusammengehalten, steht in Kurzfassung die Verkündigung Jesu: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (1,15).

Im Evangelium wird Schritt für Schritt, aber auch immer steigernd, diese Botschaft entfaltet. Eine Beobachtung ist nicht unwichtig: In Mk. 1 reden die Dämonen –und verstummen. 1,23-26 lässt die Dämonen sogar – bevor Menschen es machen – ein Christusbekenntnis ablegen (Jesus von Nazareth – der Heilige Gottes), bevor sie vertrieben werden, um ihnen in 1,34 den Mund ganz zu verbieten, aber: weil sie ihn, Jesus, kennen! Warum muss das so betont werden?

Kennen wir Jesus noch nicht? Müssen uns die Dämonen sagen, wer er ist? Kennen sie ihn besser, besser als wir? Im Wissen und Bekennen des Heiligen Gottes, von ihm getroffen und aufgestöbert, stellt sich die Machtfrage. Die Dämonen wissen und bekennen jetzt, dass sie den Platz zu räumen haben. In unserem Predigttext müssen sie still von dannen ziehen. Wohin? Zu neuen Opfern? In den ersten Szenen des Evangeliums wird Jesus vorgestellt. Gibt Mk. 1,1 vor, dass wir das „Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ vor uns haben, hören wir in 1,11 die Stimme vom Himmel „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“ und dann aus dem Mund der Dämonen in 1,24 „Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“

Die Dämonen partizipieren an der Offenbarung Jesu, um dann, von ihm überwunden, das Feld zu räumen. Ein Herrschaftswechsel wird sichtbar (reden – schweigen). Auffällig ist, dass sich Jesus „am Morgen“ (1,35) entzieht und an einer einsamen Stelle betet. Spricht er das jüdische Morgengebet? Warum alleine? Jedenfalls findet er im Gebet an diesem Morgen seinen Weg. Danach sucht Jesus die nächsten Orte auf, um dort zu predigen und die Dämonen auszutreiben. Wir sehen die Geschichte aufbrechen und den Radius erweitert. Simons Einwand oder Rückfrage „Jedermann sucht dich“ (1,37) kann Jesus nicht halten und zum Ortsheiligen machen. Ob das je eine Versuchung, eine Möglichkeit war?

Mk. 1 gibt ein Thema vor, das unterschiedlich und vielfältig im Evangelium zu immer neuen Geschichten und Überlieferungen führt: Jesus predigt und treibt die Dämonen aus. Beides bedingt einander, muss aber differenzierend erzählt und bezeugt werden. Jede Predigt treibt die Dämonen aus, jede Dämonenaustreibung ist eine Predigt. Es geht um das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist nahe! Dieser Satz am Anfang leuchtet das ganze Evangelium aus, kaum dass man es betritt. Kapernaum verlassen wir dann auch schnell.

Damit kommen wir mit unseren Vorüberlegungen homiletisch zu der Frage, was wir mit unserer Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis erreichen wollen oder können: welche Dämonen machen wir aus? Welche vertreiben wir? Was geschieht mit uns, wenn uns Dämonen sagen müssen, wer Jesus ist? Lassen wir das zu? Bringen wir sie deswegen zum Schweigen? Brauchen wir nicht ihr Zeugnis – das Zeugnis, überwunden zu sein? Mk. 1 hat hier einen Spannungsbogen geschaffen, den wir aushalten müssen. Spannend ist, was oder wer überhaupt Dämonen sind. Redaktionell treffen wir in den VV. 32-34 auf die Beziehung von Kranken und Besessenen, in den VV. 35-38 auf die Beziehung von Predigt und Exorzismus. V. 39 fasst zusammen: „Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus.“ Die Zeitangaben sind wohl alles andere als zufällig. Die VV. 32-34 spielen am Abend, die VV. 35-38 beginnen am Morgen.

Maik Schwarz schlägt in seiner Predigtmeditation zu diesem Sonntag in den „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“ (Wernsbach 2016, S. 350-354) vor, den Beter Jesus und überhaupt das Gebet in den Vordergrund zu rücken. „Kennen wir Jesus noch nicht?Wann nehme ich mir im Alltag Zeit für das Gebet? Im stillen Gebet vor dem Aufstehen? … Wann nehme ich mir Zeit, über mich hinaus zu sehen, Gott zu loben mit Psalmen und auf seine Stimme zu hören …? … Jesus hat im Predigttext für sich einen Weg gefunden – das Morgengebet – und gibt uns damit einen Vorschlag, wo wir anfangen könnten auf unserem Weg zu einer ausgewogenen Work-Pray-Balance“ (S. 354).

Das Gebet Jesu – ohne nähere Spezifikation - ist auch Scharnier und Wendepunkt! (vgl. V. 35). Es verankert in diesem kunstvollen und grandios einfachen 1. Kapitel des Markusevangeliums unsere Auseinandersetzungen mit „bösen“ oder „unreinen Geistern“ (V 27). Im Gebet ist verortet, dass das Reich Gottes bezeugt und der Kampf mit den Dämonen aufgenommen wird. Predigtlied ist EG 482,1-4 „Der Mond ist aufgegangen“ In der Mitte der Predigt wird EG 444,1-3 gesungen: „Die güldene Sonne“ Die Predigt endet mit EG 454 „Auf und macht die Herzen weit“.

 

 

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Der Mond ist aufgegangen

Gesungen haben wir, am helllichten Tag: Der Mond ist aufgegangen. Ein Abendlied. Ein Kinderlied. Sie sind überrascht? Matthias Claudius beschreibt den klaren Nachthimmel und die still gewordene Welt. Wir sehen den herbstlichen Nebel in der Dämmerung, den schwarzen Wald dort drüben, den Mond in seinem klaren Licht. Aber der Dichter aus dem Norden Deutschlands weiß auch von dem Halbmond zu erzählen – und von unseren halben Sachen. Von unserem Halbwissen. Von unseren beschränkten Einsichten und Sichtweisen. Über manches lächeln wir verwegen und stolz, „weil unsere Augen sie nicht sehn.“

Wenn ich dann wissen will, was unsere Augen nicht sehn, höre ich mich singen: „Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel.“ Habe ich wirklich „wir“ gesungen? Mitgesungen? Es ist mir gar nicht aufgefallen. Wenigstens im Lied werde ich zum Menschen, der weder sein Leben noch seine Welt in der Hand hat. Der das auch sagt – und besingen kann. Tagsüber läuft das Leben. Es muss laufen. Oft läuft es an mir vorbei. Ich komme nicht mit. „Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.“

Abendevangelium

Ich lese noch einmal den ersten Teil des Evangeliums vor: Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus und ließ die Dämonen nicht reden; denn sie kannten ihn. Am Abend. Die Sonne ist untergegangen. Alle Kranken und Besessenen werden zu Jesus gebracht. Die ganze Stand versammelt sich vor seiner Tür. Was für ein Aufmarsch! Der Sabbat ist vergangen. Jesus hat in der Synagoge gelehrt. Zum ersten Mal hat Jesus auch einen Menschen geheilt, der von einem bösen Geist besessen war.

Eine merkwürdige, aber auch sehr schöne Geschichte: Der böse Geist weiß sogar zu sagen, wer Jesus ist: Jesus von Nazareth – du bist der Heilige Gottes. Ich weiß nicht, wer überhaupt mitbekommen hat, welcher Kampf hier stattfindet. Jesus muss mit dem bösen Geist eigentlich nicht kämpfen – er verweist ihn einfach, verbannt ihn, bedroht ihn. Sein Wort hat Gewicht. In der ersten Predigt, heute morgen in der Synagoge von Kapernaum, und in seinem Umgang mit den bösen Geistern. Das passt alles zusammen. Wie am ersten Tag der Schöpfung, als die Welt noch ungeordnet war, aber dann ins Licht geriet. Schließlich tritt Jesus an mit dem machtvollen Anspruch:

Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!

Am Abend. Die Sonne ist untergegangen. Was ist das für ein Wunder: Menschen bringen alle Kranken und von Bösen Geistern besessenen Menschen zu Jesus. Alle, die keine Hoffnung mehr haben, die sich verloren geben, die ihren Platz im Leben aufgegeben haben – sie haben wieder Hoffnung, sie finden sich, die kommen in das Leben zurück. Wir sehen sie vor der Tür. „Alle“ hört sich viel an. Doch Kapernaum war ein Nest. Dass hier die „ganze“ Welt abgebildet wird, hat der Evangelist Markus fein säuberlich zwischen den Zeilen versteckt. Er ist auch der erste, der das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, wie er in der Überschrift schreibt, erzählt. Schnell, fast zu schnell, und in nur wenigen Sätzen, wird uns nicht nur Jesus vorgestellt, sondern auch menschliche Geschichten erzählt. Wie die von den Leuten, die am Abend, als die Sonne untergegangen war, alle (!) Kranken und alle (!) Besessenen vor die Tür schleppen. Oder ist das zu despektierlich?

Im Evangelium heißt es nur: sie bringen sie. Wie, darf ich mir vorstellen. Und ausmalen. Ich denke an eine ältere Frau im Krankenhaus. Sie erzählt, dass ihr besonders die Nächte sauer sind. Nicht nur die Schmerzen machen ihr zu schaffen. Schlimmer sind die Gedanken, die in immer neuen Anläufen kreisen. Wie wird es weiter gehen, wenn sie nach Hause kommt? Zu Hause wartet ein pflegebedürftiger Mann sehnsüchtig auf sie. Die große Wohnung. Ein kleiner Garten. Dann, erzählt sie auch, ist so vieles ungeordnet. Sie führt das auch aus. Streit unter den Kindern. Streit zwischen den Geschwistern. Alte Geschichten, an denen sie nicht unbeteiligt ist. Worte von einst wachsen sich zu Ungeheuern aus.

Im Kopf bekommen sie Fratzen, im Herzen beißen und wuchern sie. Wenn ich dann darüber nachdenke, frage ich, wie Dämonen, böse Geister eigentlich aussehen. Gibt es sie überhaupt als eigenständige Wesen? Oder sind das nicht die Geister, die nicht nur alles verfinstern, sondern auch alles ins Licht zerren? Meinen Glauben ebenso wie mein Gemüt, meine Hoffnungen ebenso wie meine Erfahrungen. Matthias Claudius erzählt von dem Nebel, von dem Wald, schwarz und schweigend, und von dem Mond, er nicht nur weit weg ist, sondern alles in sein Licht taucht. Was die Frau im Krankenhaus erzählt, hat natürlich viele Aspekte und Seiten. Ich denke gerne daran zurück, über wie vieles wir auch sprechen konnten. Heute kommt mir die Geschichte in den Sinn, weil gerade am Abend die Dinge noch einmal ein Eigenleben bekommen, Verdrängtes sich an den Tisch setzt, Vergessenes Erinnerung einfordert.

Am Abend, als die Sonne untergegangen war, hilft Jesus vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren, und trieb viele böse Geister aus. Und Markus überlegt nicht lange. Ich sehe ihn schreiben: „und ließ die Geister nicht reden, denn sie kannten ihn.“ Es ist also ein Evangelium für die Nacht! Und dass das so betont ist: „Am Abend, als die Sonne untergegangen war“, macht diese Geschichte zu einer Geschichte in der Nacht. Sollen wir noch abwägen, dass es nicht alle, sondern nur viele sind, denen geholfen wird? Markus erzählt das so. Sehr realitätsnah, sehr nüchtern. Während „alle“ gebracht werden, wird nicht allen geholfen – doch Vorsicht: aber „vielen“ geholfen. Das Evangelium weckt keine falschen Hoffnungen. Es gibt auch nach diesem Abend noch Verlorenheit, Schmerz und Angst. Aber es gibt eben auch, sichtbar für alle, neue Anfänge, neues Vertrauen, neues Selbstbewusstsein. Der Evangelist erzählt nicht, was sich hinter der Tür abgespielt hat. Beichtgeheimnis! Möchten Sie nicht auch eine – oder auch – mehrere Nächte Revue passieren lassen?

Das Evangelium erzählt, aktiv, aktivierend, herausfordernd, dass wir Menschen in der Nacht nicht alleine lassen. Der Abend wird zu einer Chiffre, zu einem Zeichen, zu einem Wunder, dass Menschen gut schlafen können. Wieder mit Aussicht auf Leben. Mit der Hoffnung, dass es einen guten Morgen gibt, vor dem wir keine Angst haben. Singen wir jetzt ein Morgenlied! EG 444,1-3 Die güldene Sonne.

Evangelium am Morgen

So eine schwungvolle Melodie! Die Sonne geht auf! Nicht nur draußen, wo Blumen und Vögel sie schon lange erwarten – hier, drinnen, im Herzen! Leben und Wonne! Die Finsternis weicht! Der Mond verbleicht! Wir danken nicht nur dafür, behütet worden zu sein – in der Nacht -, sondern bitten um Gottes Beistand. „Dass er uns beistehet und weiche nicht fern.“ Die höllische Macht kommt in diesem Morgenlied auch vor – als vergangen. Doch Schrecken und Wüten sind nicht so weit weg, als dass man sie vergessen oder beschweigen könnte. Höllische Macht! Gemeint sind Zweifel, Resignation und Angst. Glaube, der seinen Halt verliert. Leben, das ins Bodenlose fällt. Nachterfahrungen. Mit vielen Gesichtern und Geschichten. Doch die güldene Sonne bringt Leben und Wonne, die Finsternis weicht! Übrigens: kein aber! Ich lese den zweiten Teil des Evangeliums vor: Und am Morgen, noch vor Tage, stand Jesus auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. Und Simon und die bei ihm waren, eilten ihm nach. Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Orte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.

Ein Evangelium am Morgen! Wie lange die Nacht war, wie hart sie womöglich war – das Evangeliums erzählt nichts. Markus lässt Jesus aufstehen (und das ist mehr als sich für den neuen Tag rüsten), in die Einsamkeit gehen und beten. Mit unseren Gedanken werden wir jetzt auch in die Einsamkeit geführt – ins Gebet. Als frommer Jude kennt Jesus das Morgengebet. Ein Dank an den Ewigen, ein Lobpreis! Eine Segnung des Tages! Jesus geht nicht in die Synagoge, um das Morgengebet mit anderen seiner Gemeinde zu sprechen, Jesus sucht die Einsamkeit. Im Lobpreis, in der Anbetung des EWIGEN – wie in der jüdischen Tradition der Gottesname umschrieben wird – findet Jesus nicht nur die Kraft, sondern überhaupt erst seinen Weg. Der Sohn Gottes, der Heilige Gottes – das sind die Namen, die Jesus bezeichnen und begleiten – ist im Gespräch mit seinem Vater, ihm zugewandt, von ihm getragen, von ihm auch gesegnet.

Die ausgebreiteten leeren Hände sind Gebetsgesten, die zusammengelegten, gefalteten Hände aber auch. Oder die geschlossenen Augen. Im Gebet zeigen wir die Offenheit, die Sehnsucht, die Leere für Gott. Der Morgen gehört dem Gebet. Im Gebet wird Morgen. Gott wird Morgen. Und was ist der Weg Jesu? Simon – das ist der Petrus – stöbert ihn auf. Er bringt die Nachricht mit, dass ihn alle suchen. Was auch immer das heißt – Jesus geht anderswo hin, in die nächsten Orte. Und nimmt seine – ersten – Jünger mit. „Lasst uns gehen“. Lasst uns aufbrechen“. Jesus sagt auch, warum. „dass ich auch dort predige, denn dazu bin ich gekommen.“ Dem Morgengebet erwächst die – Predigt! Wieder hören wir: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ Wir besingen das mit einem Morgenlied. „Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne, die Finsternis weicht.“

Darf ich noch eine Geschichte erzählen? Ich treffe im Bus, zufällig, einen Menschen, der mich kennt – ich ihn aber nicht. Zumindest weiß ich nicht, wohin ich das Gesicht tun soll – so sagen wir. Sie haben doch mal … und dann erzählt er mir von einer Predigt, die ich wohl auch vor langer Zeit einmal gehalten habe. Von Stroh habe ich gesprochen, dass Jesus in der Krippe umhüllt und gewärmt hat. Von Stroh, das den Sommer aufbewahrt. Von Stroh, das harte Böden weich macht im Stall. Einen Haufen Stroh hätte ich auch vor dem Altar ausgebreitet. Erzählt er. Den Geruch hätte er noch in der Nase. Langsam erinnere ich mich. Es war mühsam, Stroh zu finden. Nachts habe ich es zusammengesammelt und dann mit dem Fahrrad in die Stadt gebracht.

Doch dann erzählt der Mann, er habe sich wie Stroh gefühlt. Leer, gedroschen – Abfall. Die Predigt habe ihm gutgetan. Dass Gott seine größten Geheimnisse in Stroh bettet, das leere Stroh würdigt, Leben zu schützen – das habe seinem Leben wieder Sinn gegeben. Ich berichte davon mit meinen eigenen Worten, vielleicht auch viel zu fromm. Doch dass eine Predigt wie Sonnenlicht sein kann, höre ich selten. Eigentlich nie. Im Evangelium ist der Predigt eine ungeheure Kraft beigegeben. Sie schafft die Welt neu! Sie nimmt es mit Tod und Teufel auf! Sie vertreibt die bösen Geister! Und Jesus zieht ab diesem Morgen in die nächsten Orte, immer unterwegs: „Dass ich auch dort predige, denn dazu bin ich gekommen.“ Was in Kapernaum begann, eine Nacht hatte und einen Morgen, lässt die Welt in ein neues Licht geraten. Dann – ich bin jetzt verwegen – finden Menschen in ihr Leben zurück. Kranke werden gesund. Und wer auch immer von irgendetwas besessen war, wird frei.

Der letzte Satz des Evangeliums liest sich wie eine Zusammenfassung. Soll vielleicht auch eine Zusammenfassung sein: „Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus.“ Galiläa war nicht gerade der beliebteste Landstrich im alten Israel. Eher aussichts- und ausweglos. Eine verlorene, eine verhasste Gegend! In fast allen Hinsichten. Es trifft sich gut, dass hier der Weg Jesu beginnt! Und wenn wir vielleicht kurz Hinweise sammeln, was sich alles unter „bösen Geistern“ – Dämonen – versteckt, dann lasst uns da anfangen, wo Menschen andere Menschen mit Vorurteilen bedenken, ihnen Angst machen und Hass säen. Wo Menschen aus Streit nicht mehr herausfinden. Wo Menschen sich von alten Geschichten so gefangen nehmen lassen, dass es keine neuen mehr geben kann.

In Galiläa konnte man Lieder davon singen. Aber bei Morgenlicht bedacht: Hören wir lieber, was Menschen heute beklagen und betrauern. Böse Geister machen die Welt kaputt. Böse Geister lieben es, sich einzunisten. In der Nacht feiern sie ihre Feste. Ginge es nach ihnen, würde es auch nie Tag werden. Die Predigt vertreibt sie und eröffnet eine Welt, die anders ist als die, die wir kennen und mit der wir uns oft genug arrangieren. Dass Gottes Reich herbeigekommen ist, schlägt einen neuen Ton an. Jetzt dürfen sogar die Dämonen ein Bekenntnis ablegen: „Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“ Habe ich etwas vergessen? Ich fürchte, viel. Aber erzählen Sie sich doch eine Geschichte vom guten Morgen! Singen wir (EG 454) „Auf und macht die Herzen weit, euren Mund zum Lob bereit“.

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Ein Kommentar zu “Kennen wir Jesus noch nicht?

  1. Chr. Kühne

    Der Autor beginnt mit einer Überraschung: Im morgendlichen Gottesdienst wird „Der Mond ist aufgegangen“ gesungen. Das lässt nachdenklich werden. Der Abend wird in der Predigt zu einem Symbol für Geister, die aufwachen und den Menschen beherrschen wollen. Wird Jesus, der am Vormittag in der Synagoge noch von der Kraft und Gegenwart Gottes gesprochen hat, auch am Abend diese Kraft in Anspruch nehmen können? „Der Abend wird zu einer Chiffre, zu einem Zeichen, zu einem Wunder, dass Menschen gut schlafen können. Wieder mit Aussicht auf Leben …“ formuliert der Autor und lässt dann die Gemeinde ein Morgenlied singen. Der zweite Teil des Predigttextes kommt in den Blick: „Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne, die Finsternis weicht“. Im Morgenlicht klärt sich Jesus im Gebet vor Gott. Im Morgenlicht geschieht eine sonntägliche Predigt. „Im Evangelium ist der Predigt eine ungeheure Kraft beigegeben. Sie schafft die Welt neu!“ Der Autor berichtet noch von der wunder-vollen Wirkung einer eigenen Predigt. Und schließt dann mit der Kraft der Predigt: „Böse Geister machen die Welt kaputt. … In der Nacht feiern sie ihre Feste. …Die Predigt vertreibt sie und eröffnet eine Welt, die anders ist als die, die wir kennen und mit der wir uns oft genug arrangieren.“ Eine sehr intensive, farbige und ermutigende Predigt. Danke!

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