“So will ich mit euch gehen in ein neues Jahr …”
Wege gehen, die wir vorher noch nicht gegangen sind, und neue Räume erschließen, die uns überraschen werden
Predigttext: 2. Mose / Exodus 13,20-22
20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.
21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.
22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
Bilder
In wenigen Stunden geht das Jahr 2017 unweigerlich zuende. 365 Tage lassen wir hinter uns – und mit ihnen 8760 Stunden. Ein Teil dieser Stunden haben wir im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen. Ein Teil der verbleibenden Stunden ist so dahingeflossen. Aber so manche Stunde wird uns aus diesem Jahr in Erinnerung bleiben. Mögen es gute Stunden gewesen sein, in denen wir unser Glück gespürt haben. Mögen es Stunden der Erleichterung gewesen sein, in denen uns eine Last genommen wurde. Mögen es Stunden der Erfüllung gewesen sein, in denen wir buchstäblich heilfroh waren. Gewiss aber gab es auch so manche Stunde, an die wir wehmütig zurückdenken. Vielleicht weil wir eine Chance, die sich uns ergab, nicht genutzt haben, und dieser Möglichkeit noch immer nachtrauern. Vielleicht, weil etwas zerbrochen ist, was einen fühlbaren Schmerz bei uns zurückgelassen hat. Vielleicht, weil wir einem Missgeschick nicht ausweichen konnten und mit unserem Schicksal noch hadern.
Wir haben uns heute Abend hier zusammengefunden, um den Alltagstrott zu unterbrechen. Für eine kurze Zeit nehmen wir uns aus allen Zusammenhängen heraus. Wir gehen für eine dreiviertel Stunde auf Distanz zur Welt, mit der wir tagein, tagaus verwoben sind. Wir lassen die Bilder unseres Jahres an uns vorüberziehen. Wir gönnen uns den Abstand und setzen uns Fragen aus, die wir im Alltäglichen kaum zu stellen wagen:
Was hat mich 2017 am meisten überrascht und beeindruckt?
Was hat seine Spuren bei mir hinterlassen?
Was hat mich besonders mitgenommen und betroffen gemacht?
Was hat mich weiter gebracht und dankbar werden lassen?
Was ist leider unerfüllt und auf der Strecke geblieben?
Was hat mich fester, gewisser in meinem Glauben gemacht?
Was nehme ich aus diesem Jahr unbedingt mit in das neue?
Geschichten
Das Jahr 2017 war mehr als die Bilder, die uns in diesen Tagen wieder in Fernsehen und Zeitung begegnen. Viel näher stehen uns unsere eigenen Bilder und vor allem unsere eigenen Geschichten. Geschichten, die das Leben schreibt. Geschichten, die vom Leben erzählen, unserem Leben. Geschichten, die unsere Erlebnisse wiedergeben mit allem Glanz und Schatten. Jeder von uns hat seine Geschichte! Seine ganz persönliche, unverwechselbare, eigentümliche Geschichte. Sie kommt in keinem Bild, das über die Bildschirme flimmert, zum Ausdruck. Sie steht in keinem Buch der Geschichte, das man kaufen kann. Die Geschichte eines jeden von uns ist im Geiste eines jeden zuhause. In Gedanken und Gefühlen, in Erlebtem und Erfahrenem. Umgeben von Träumen und Illusionen, Ängsten und Hoffnungen, eingespannt zwischen Gestern und Morgen.
Manchmal erzählen wir unsere Geschichte. Wir teilen uns darin mit und geben anderen Menschen Anteil an unserem Erleben. Es lässt uns aufatmen, wenn man jemanden trifft, der einem zuhört und sich in unsere Geschichte mit hineinnehmen lässt. Im Erzählen ereignet sich unsere Geschichte dann noch einmal vor den Ohren dessen, der zuhört. Unsere Geschichte ereignet sich geradezu neu. Und wir überdenken jedes Mal beim Erzählen auch unsere Bewertung neu für das, was wir erlebt und erfahren, was wir gefühlt und geglaubt haben. Seine eigene Geschichte zu erzählen, ist so wichtig! Meistens sind es Erlebnisse, die uns emotional sehr bewegt haben. Ereignisse, die unter die Haut gegangen sind. Erlebnisse, wo wir uns schrecklich geärgert haben und der Zorn noch nicht verraucht ist. Betrübnisse, die uns nicht aus dem Sinn gehen wollen und noch lange nachklingen. Begebenheiten, wo wir uns ungerecht behandelt und gründlich missverstanden fühlen. Unabänderliches, was nicht mehr ungeschehen gemacht oder korrigiert werden kann. All diese Erfahrungen müssen wir erzählen, damit wir sie selbst verstehen. Vielleicht mehrmals, damit wir sie verarbeiten und in unser Leben einordnen können. Vielleicht müssen wir bestimmte Geschichten immer wieder neu erzählen, bis wir sie selbst akzeptieren und annehmen können.
Wege
Auf dem Weg in ein neues Jahr fangen wir um Mitternacht, in der Stunde Null, nicht bei Null an. Wir haben eine Vergangenheit, ein Gestern. Erfahrungen sind in unserem Unbewussten gespeichert, die uns geprägt haben. Wir gehen nicht nur hin, sondern kommen auch her. Mit uns auf diesem Weg unseres Lebens sind unsere Urängste. Sie sprechen ein Wort mit, wie wir anderen Menschen begegnen. Sie beeinflussen unsere Haltung gegenüber dem Neuen und Unbekannten. Sie lenken uns, ob wir zurückhaltend oder schwungvoll in das neue Jahr hineinschreiten. Mit uns auf unserem Lebensweg ist unsere religiöse und spirituelle Einstellung. Sie ist mitverantwortlich für die Bewertungen unseres Lebens. Wenn unsere religiös-spirituelle Einstellung uns Dankbarkeit schenkt, dann beurteilen wir unser Leben eher positiv. Wenn wir auf einen vertrauen können, der mit uns auf unserem Weg ist, dann sind unsere Wege nicht sinnlos. Wenn wir beten können, dann können wir das loslassen, was uns bedrückt und belastet.
Zwischen den Extremen der Angst einerseits und der Vertrautheit andererseits bewegen wir uns Schritt für Schritt vorwärts. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Was lassen wir zurück, was werden wir nicht los? Was bleibt uns, was wollen wir behalten? Was verlieren wir, was gewinnen wir dazu? Wir können sagen, dass all unsere Wege dem Zufall überlassen sind – oder bekennen: “Bis hierher hat mich Gott gebracht!” Wir können vom Schicksal sprechen, das unbegreiflich ist – oder an den gnädigen Gott glauben, der uns bei unserem Namen gerufen hat und uns kennt. Wir können unsere Ängste im Lesen unseres Horoskops wiederfinden – oder „von guten Mächten wunderbar geborgen“ zuversichtlich und mutig in das neue Jahr gehen.
Raum
“Sie zogen aus … Und der Herr zog vor ihnen her …!”, heißt es in unserem Predigttext. Den angestammten Ort verlassen, aufbrechen, losziehen, es wagen, neue Räume betreten, das ist immer ein Wagnis. Darum fragen wir ja auch: Was wird das neue Jahr uns bringen?! Der Dichterpfarrer Kurt Marti macht uns Mut: “Wo kämen wir hin, wenn alle sagten: ‘Wo kämen wir hin’, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.” Also gehen wir, um zu schauen, wo wir hinkommen … Nur Mut! Wir können dabei Wege gehen, die wir vorher noch nicht gegangen sind und neue Räume erschließen, die uns überraschen werden. Wie folgende Geschichte beschreibt:
Eines Tages kam ein Professor in die Klasse und kündigte einen Überraschungstest an. Er verteilte sogleich das Aufgabenblatt, das wie üblich mit dem Text nach unten zeigte. Dann forderte er seine Studenten auf, die Seite umzudrehen und zu beginnen. Zur Überraschung aller gab es keine Fragen – nur einen schwarzen Punkt in der Mitte der Seite. Nun erklärte der Professor Folgendes: „Ich möchte Sie bitten, das aufzuschreiben, was Sie dort sehen.“ Die Schüler waren verwirrt, begannen aber mit ihrer Arbeit. Am Ende der Stunde sammelte der Professor alle Antworten ein und begann sie laut vorzulesen. Alle Schüler ohne Ausnahme hatten den schwarzen Punkt beschrieben – seine Position in der Mitte des Blattes, seine Lage im Raum, sein Größenverhältnis zum Papier … Nun lächelte der Professor und sagte:
„Ich wollte Ihnen eine Aufgabe zum Nachdenken geben. Niemand hat etwas über den weißen Teil des Papiers geschrieben. Jeder konzentrierte sich auf den schwarzen Punkt – und das gleiche geschieht in unserem Leben. Wir haben ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen und zu genießen, aber wir konzentrieren uns immer auf die dunklen Flecken. Unser Leben ist ein Geschenk, das wir mit Liebe und Sorgfalt hüten sollten, und es gibt eigentlich immer einen Grund zum Dankbarsein – die wunderbare Natur, unsere Freunde und unsere Familie, die Arbeit, die uns eine Existenz bietet, die Wunder, die wir jeden Tag sehen können …“
Doch wir sind oft nur auf die dunklen Flecken konzentriert – die gesundheitlichen Probleme, der Mangel an Geld, die komplizierte Beziehung mit einem Familienmitglied, die Enttäuschung mit einem Freund, unsere überhöhte Erwartungshaltung … Die dunklen Flecken sind sehr klein im Vergleich zu allem, was wir in unserem Leben haben, aber sie sind diejenigen, die unseren Geist beschäftigen und trüben. Nehmen Sie die schwarzen Punkte wahr, doch richten Sie ihre Aufmerksamkeit mehr auf das gesamte weiße Papier und damit auf die Möglichkeiten und glücklichen Momente in ihrem Leben und teilen sie es mit anderen Menschen!
Zeit
„Sie zogen aus“ >in ein neues Jahr<. „Und der Herr zog vor ihnen her …!” Ist das nicht eine wunderbare Verheißung an diesem Altjahresabend! Wo auch immer unser Weg hinführt, wir gehen nicht allein. Die große, weiße Fläche auf dem Papier unserer Geschichte – sie ist voller Lebendigkeit, sie ist voller Möglichkeiten, sie ist voller Hoffnung. Blicken wir darauf. Auf das, was uns erfreut und beglückt, was uns bewegt und ermutigt, was uns hält und trägt, nicht auf den schwarzen Punkt, der uns lähmt. Ja, vertrauen wir auf den, der uns vorausgeht und mit uns unsichtbar auf unserem Wege ist. Dann dürfen wir erfahren, was Dietrich Bonhoeffer so treffend sagt:
Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Eine erkenntnisreiche und hilfreiche Predigt, die dem Altjahrsabend angemessen ist.
Vielen Dank für diese Anregung mit dem weißen Blatt und schwarzem Punkt! Eine gute Veranschaulichung von Haltungen.
Freundliche Grüße und gute Aussichten aufs neue Jahr!
Herzlichen Dank. Die Geschichte ist mir vor ca. 4 Jahrzehnten begegnet. Ich freue mich, sie zur Jahreswende zu lesen. Sie rückt vieles an den rechten Platz, das Misslungene und ganz ausdrücklich das Viele Gelungene.
Ich erlaube mir, sie vielen Freunden und Bekannten weiterzusagen.
Gottes Segen für das Neue Jahr. Johann Hertl