“Geh!”
Die Geschichte Abrahams – Evangelium für Grauhaarige und die Rentenabklärung
Predigttext: 1. Mose / Genesis 12,1-4 (Übersetzung nach Martin Luther)
Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Gen. 12 markiert einen Neuansatz, nachdem die sog. Urgeschichte (1-11) ausklingt: Gott schreibt mit Abra(ha)m neue Geschichte, obwohl vom Lebensalter her ein alter Mann zum Hauptdarsteller avanciert. Betont wird aus dieser Konstellation eine heilsgeschichtliche Figuration. Eine jugendliche Geschichte setzt ein, sichtbar gesegnet und groß angelegt. Als Vätergeschichten (die Mütter sollten gleichwohl nicht fehlen) gehen größere Kränze von Erzählungen in die Genesis ein. Insofern haben es auch die wenigen Verse unseres Predigttextes in sich. Kinder lieben Abra(ha)m besonders. Dass dann doch wohl überwiegend Senioren die Predigt hören werden, ist dabei ein bemerkenswertes, wenn auch nicht immer reflektiertes Hoffnungszeichen. Alt wird jung, reif neugierig, grau lebendig. Modell Auferstehung! Gen. 12,1-4 ist das Evangelium für Grauhaarige.
Bezogen auf die Lesungen des 5. Sonntag nach Trinitatis thematisiert auch Gen. 12,1-4 das Risiko dieses Aufbruchs, zugleich aber das große Vertrauen, nur so Neuland erobern zu können. Wer das Bewährte bewahren will, verliert seine Zukunft. Aufbruch ist angesagt, ermöglicht und gesegnet. In diesem Dreiklang agiert unbeabsichtigt und unbeaufsichtigt Abra(ha)m. Er verweist nicht auf Erfahrungen, er macht sich auf.
Der Schlüssel liegt nicht in einer Vernunftabwägung, die durchaus zur Seniorität gehört, sondern in dem Wort Jhwhs: Geh! Doch weiß der Herr (V.1), zu wem er spricht? Was liegt ihm daran, diesen Menschen anzusprechen? Und mit ihm diese Sippschaft? Der Text legt auch nicht (!) nahe, dass Abra(ha)m weiß, wer ihn auf die geheimnisvolle und befremdliche Reise schickt, wer ihm die Heimat auswechselt. Warum überhaupt ein Ortswechsel? Ohne Rückfahrticket? Die Entscheidung ist endgültig und ohne Rechtsmittel. Aus den vielen Fragen, die sich einstellen, präparieren sich keine Antworten heraus. Gen. 12,1-4 zeichnet sich durch eine so große Offenheit aus, dass das unbekannte Neuland mehr ist als die Landschaft, die gefunden werden wird. Es ist eine Nomaden-Geschichte in mehrfacher Hinsicht und Prägung. Zelte dominieren. Jedenfalls beginnt hier die Geschichte, die mit dem Wort „Glauben" die Weltgeschichte verändern wird.
75 Jahre
Darf ich die Predigt heute überhaupt halten? 75 bin ich noch nicht. Ich habe eine feste Adresse, ein Bankkonto, vertragliche Verpflichtungen und familiäre Bindungen. Ich möchte keinen von Euch, von Ihnen missen. Ansonsten habe ich noch viele, zu viele Bücher, die ich lesen müsste. Das alles mitschleppen? Im Rucksack? Ein Kamel habe ich nicht. Nein, ich werde wohl bis an mein Lebensende hier bleiben, weiter in Ehren ergrauen und dereinst mein Grab hier finden. Merkwürdig: zähle ich es auf, bin ich doch langweilig. Ob ich Abraham beneiden soll, weiß ich noch nicht. Ihr könnt mir dabei helfen, Spuren zu finden, die über den Tag hinausreichen. Versprochen: Nach dieser Predigt werden wir nicht mehr die Alten sein. Ich werde sie wohl doch halten müssen, die Predigt. Die Predigt eines Fünfundsiebzigjährigen.
66 Jahre
Aber da liegt mir doch ein Lied auf der Zunge! 75 spielt da keine Rolle, wohl aber 66. Wollen Sie mitsummen? Ausnahmsweise erlaubt. Geht auch ohne Orgelbegleitung…
Ihr werdet euch noch wundern
wenn ich erst Rentner bin
sobald der Stress vorbei ist
dann lang ich nämlich hin
Oho, oho, oho
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.
Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran.
Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss.
Mit 66 Jahren, ist noch lang noch nicht Schluss.
Im Sommer bind’ ich Blumen
um meine Denkerstirn
und tramp nach San Francisco
mein Rheuma auskuriern
Oho, oho, oho
und voller Stolz verkündet
mein Enkel Waldemar
der ausgeflippte Alte
das ist mein Opa
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an … Am Ende reimen sich Spaß, Schuss und Schluss. Den Sänger
kennen Sie? Udo Jürgens. Wir schreiben das Jahr 1977. Das Lied hat sich gut gehalten. Das Lied
erzählt in mehreren Strophen die Geschichte eines Mannes, der mit dem Eintritt in den Ruhestand seine neue Freiheit ausgelassen und unbekümmert zelebriert. Mit eingezogenem Bauch und schnittiger Frisur, Lederdress und 110 PS Motorrad unter sich. Eine neue Ära wird eingeläutet. Ihr werdet euch noch wundern!
Und sehen mich die Leute
entrüstet an und streng
dann sag ich meine Lieben
ihr seht das viel zu eng
Geh!
Nein, Abraham sang dieses Lied nicht. Rentner war er auch nicht, eher Familienoberhaupt. Mitten im Leben. Mit viel Ehre und Würde. Wie er sich gefühlt hat, erfahren wir nicht. Auch nicht, wie gesund er noch war. Künstliche Gelenke allerdings können wir ausschließen. Auf einmal, ganz unvermittelt, wird er zur Hauptperson in einem Stück, das sich jeder Bühne entzieht. Er soll, mit seiner großen Familie – und den Rindern und Schafen – seine alte und vertraute Heimat verlassen. Geh! sagt eine Stimme. Geh! Hat er sie nur gehört? Sonst keiner? Schon sehr mutig, so einfach alle Zelte abzubrechen und anscheinend ohne Widerworte den Aufbruch zu wagen. Haben tatsächlich alle ihr Glück im Wagnis gesehen, noch einmal neu anzufangen? Kaum zu glauben, was hier abgeht. Was Abraham und die Seinen gewinnen? Land, ja, Land – und Nachwuchs. Nicht in Worte zu fassen. Der Erzähler hat auch nur ein Wort: Segen.
Abraham zieht los. Mit allem, was ihm gehört, was zu ihm gehört. Nichts, niemand bleibt zurück. Unberührt von allem. Ein Zurück gibt es nicht. Es ist, als ob es nur noch Zukunft gibt. Die Vergangenheit verschwindet. Mit jedem Meter, mit jedem Morgen, mit jedem Abend. Und Abraham ist 75. Wie wird seine Zukunft aussehen? Wie kann er sein Leben messen? Was bleibt ihm? Die Gräber der Vorfahren veröden. Mit ihnen die Geschichten, Erinnerungen und Wunden. Das Neue zieht alles in seinen Bann.Geh!
Neuanfang
Während der Jungrentner sich mit seinen 66 Jahren langgehegte Wünsche erfüllt, ansonsten aber in seinem Lebensumfeld verwurzelt bleibt, beginnt Abraham ganz neu. Gewachsene Strukturen, bewährte Umgebungen, vertraute Gelände tauscht er ein – gegen Neuland. Damit ist mehr gemeint als die Erde, auf der Zelte aufgestellt, Hütten gebaut, Weiden abgegrenzt werden. Neuland steht für neue Erfahrungen, neue Ordnungen, neue Träume. Neuland steht auch für neue Gottesbegegnungen, kurz: für Glauben.
Faszinierend ist, dass Abraham sich auf ein Wort Gottes hin aufmacht. Abraham stellt keine Rückfragen, erbittet keine Bedenkzeit, erwartet keine Erklärungen. Ist das Glauben? Die Ursituation von Glauben? Mir ist das unheimlich. Haben nicht viele Menschen in ihrem Leben erlebt, wie gerade eine solche Haltung Angst macht, den Willen bricht, Freiwild schafft? Abraham steht ganz am Anfang. Er weiß noch nichts von Missbräuchen, auch nichts von Machtgelüsten. Für ihn ist Glauben das große Vertrauen, in eine neue Zukunft aufzubrechen, neu anzufangen und dabei reich gesegnet zu werden. Abraham wird später Vater des Glaubens genannt werden. Das macht ihn bis heute wichtig für Juden, Christen und Muslime. Der Apostel Paulus weiß ihn zu rühmen und als leuchtendes Vorbild vorzustellen. Ganz modern: Glaube ist keine Berechnung, keine Leistung, keine Sorge. Eine große Offenheit, ein grenzenloses Vertrauen wird bei Abraham sichtbar, die die Freiheit zu nutzen wissen, noch einmal Neuland zu betreten. Wer Zukunft will, wird aufbrechen müssen. Wer nicht aufbricht, wird von der Vergangenheit verzehrt. Treu und redlich. Gott aber wagt, Menschen anzusprechen und mit ihnen neue Räume, neue Überlieferungen, neue Hoffnungen zu erobern. Wie das Land, das sich am Horizont auftut und im Nebel auftaucht. Gibt es zum Glauben eigentlich eine Alternative?
Neuland
Nicht nur Abraham bricht auf. Gott bricht ebenfalls auf. Er hat die Welt geschaffen, mit den Menschen ein Fiasko erlebt und seine eigene Verletzlichkeit erfahren. Gott war drauf und dran, seine Schöpfung wieder rückgängig zu machen. Die ersten Kapitel der Bibel, auch Urgeschichte genannt, erzählen nicht nur das Auf und Ab, sie bezeugen in vielen kleinen Szenen die Treue und Liebe Gottes. Gott wächst geradezu an seiner Treue. Nein, seine Schöpfung ist geliebt und ja, auch die Menschen mit ihren Köpfen und Herzen. Allesamt nach Gottes Bild. Königliche Würde. Wenn auch nicht die Krone der Schöpfung. Krone der Schöpfung ist der siebte Tag. An ihm ruht Gott, um sich an seiner Schöpfung zu freuen und alles in seiner Hand abzuwägen. Gott putzt sozusagen alle Dinge und gibt ihnen ihren Glanz.
Heute bricht Abraham auf. Gott selbst schlägt ein neues Kapitel in seiner Geschichte auf. Das Neuland, das er betritt, teilt er mit Abraham, mit seinen Leuten, mit uns. Das ist Gottes Glaube! So habe ich das eigentlich noch nie wahrgenommen. Die Geschichte vom Aufbruch – ist die Geschichte vom neuen Anfang Gottes. Mit seinen 75 Jahren ist Abraham genau der Richtige. Ich habe mich immer schon gefragt, was Gott an Abraham gefunden hat. Altenteil und Neuland! Es gehört schon etwas dazu, das zusammen zu sehen. Aber es ist eine glückliche Fügung: aus alt wird jung, aus reif neu, aus erfahren neugierig. Ob Gott sich selbst so beschreiben kann? Es ist sein Ding, in seiner Liebe treu zu bleiben, mit Menschen neue Wege zu gehen und alles zu verwandeln, was alt und verbraucht ist. Abraham! Erzähle!
Verbrauchte Hoffnungen
Vielleicht hören wir die vielen Geschichten, die heute im Umlauf sind. Das Land Abrahams ist ein Zankapfel geworden, umstritten, heiß umkämpft. Wir denken an den nahen Osten, an Israel, an Palästina. Es ist schwierig, über die Beziehungen und Verwerfungen zu reden. Religiös trennt Abraham, er muss für vieles herhalten. Für Besitzansprüche und für verlorenes Land. Am Ende der Argumentationen hat sich die Vergangenheit zu rechtfertigen, nicht die Zukunft. Ist Abraham der richtige Gesprächspartner, der gute Gewährsmann?
Unzählige Menschen sind in ständigen Aufbrüchen. Auf der Flucht vor Kriegen, vor Hunger, vor Hass. Sie verlassen ihre Heimat notgedrungen. Auf der Suche nach dem Neuland – eins heisst heute tatsächlich Deutschland – stoßen sie auf Abwehr und Vorbehalten. Verfolgen sie die Diskussionen in unserem Land mit den vielen sprachlichen Entgleisungen, können sie sich kaum willkommen fühlen. Wie war das eigentlich mit Abraham? Über sein Neuland, über seinen Aufbruch sprechen wir fromm und mit Achtung, aber – unter uns – er war nicht überall willkommen. Eindringling war er. Und damals schon ein Fremder. Lange, bevor uns das Wort zum ersten Mal begegnete. Was ist, wenn Abraham ein vertrocknete Land verlassen musste, um nicht mit seiner Familie und seinem Vieh unterzugehen? Seine Geschichte ist so großartig offen, dass wir sie in unseren Zeitungen lesen können. Und der Herr sprach zu Abraham: Geh!
Oft nehmen wir in unserer Gesellschaft, auch in unseren Gemeinden verbrauchte Hoffnungen war. Mit ihnen werden wir nicht alt werden können, auch keine neuen Ufer erreichen. Wer Zweifel kultiviert, bekommt Super-Zweifel, wer Ängste rechtfertigt, findet Ängste de luxe, wer mit dem Feuer spielt, kann sich nicht selbst löschen. Die Geschichte Abrahams ist ein Glücksfall. Große Weltliteratur. Mit Abraham gewinnt ein Wort so große Kraft, das sich alle Despoten fürchten: Glauben. Vertrauen. Treue. Ein Wortfeld, viele Geschichten. In ihnen erscheint Gott. Erfahren mit Menschen und ihnen doch in Liebe verbunden. Ein Wort genügt: Geh! Wer sich jetzt bequem in seinen Vorurteilen und Besitzständen aalt, hat die Zukunft hinter sich und seine Vergangenheit vor sich.
Ein glückliches Ende
Darf ich diese Predigt überhaupt halten? 75 bin ich noch nicht. Aber Abraham fasziniert mich. Sein Glaube. Ob es mein Glaube werden kann? Von vielem müsste ich mich trennen. Alle Dinge in die Hand nehmen. Sie putzen. Ihnen ihren Glanz geben. Abwägen. Lassen. Einfach lassen. Der 66jährige singt:
Ich sing im Stadtpark Lieder
das jeder nur so staunt
und spiel’ dazu Gitarre
mit einem irren Sound
Oho, oho, oho
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, unserem Herrn.
Das „Vorwort“ von Pfr. Wussow macht neugierig. Geht es um ihn oder um Abraham? O.k. nach der Predigt werden wir anders sein, verspricht er. Und dann kommt ein erster „Predigttext“: Der Song von Udo Jürgens „Mit 66 Jahren“ mit den großen Aufbrüchen der heutigen jungen Alten. Und dann die Konfrontation mit dem biblischen Alten, Abraham, der in ein neues Leben gehen soll: „Geh!“ Was ist anders als bei dem Alten in dem Schlager von Udo Jürgens? Was gewinnt Abraham, der biblische Fünfundsiebzigjährige?
Der 66-jährige „Jungrentner“ erfüllt (alle) seine Wünsche. Der 75-jährige macht einen Neuanfang auf ein Wort hin, das Wort Gottes. Er geht los, ohne nachzufragen. Wer von uns würde sich dies getrauen?
Der Prediger macht deutlich, dass nur ein „Neuanfang“ in ein „Neuland“ führt. Doch nicht nur Abraham bricht auf, auch Gott „schlägt ein neues Kapitel in seiner Geschichte auf“. Auch Er bricht auf …
Abraham bricht heute in Gestalt vieler Flüchtlinge auf. Das Wort von der Hoffnung und Sicherheit bewegt sie, z.B. zu uns nach Deutschland zu kommen. War Abraham damals in „Neuland“ willkommen?
Das Wichtigste ist doch, dass wir „verbrauchte Hoffnungen“ hinter uns lassen und uns aufmachen sollten auf das Wort Gottes hin: Geh! So treten wir unseren Weg in die Zukunft an, und Gott bricht mit uns auf. Er ist unsere Zukunft. Welchen Namen Gottes hatte Mose aus dem brennenden Dornbusch vernommen: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ (nach M. Buber)
Ob Abrahams Glaube auch unser Glaube werden kann? Mit dieser Frage entlässt uns Manfred Wussow in die eigenen Gedanken, Pläne und ersten Schritte.