Gemeinsames Gebet
Israelsonntag – Gedenken an Israel und der Treue Gottes zu seinem Volk
Predigttext: Jesaja 62, 6-12 (Übersetzung nach Martin Luther 2017)
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wiederaufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
8 Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen,
9 sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Exegetisch-homiletische Erwägungen
Die Analyse des Jesajabuches Kap. 56-66 ist umstritten. Die teilweise lose miteinander verbundenen Worte des „Dritten Jesaja“ gehen nach Ansicht vieler Exegeten auf mehrere Verfasser zurück. Das Zentrum des „Tritojesaja“ sind die Kap. 60-62, die von der Mehrzahl der Exegeten auf einen Propheten „Tritojesaja" zurückgeführt werden können, der nach der Rückkehr aus dem Exil in Jerusalem gewirkt hat. Seine Worte zeigen auffallend enge Berührungen mit der Verkündigung „Deuterojesajas“, dessen Verkündigungs- und Hoffnungsziel der erlöste Zion war.
Nun waren Teile des Volkes zum unerlösten Zion zurückgekehrt, sie mussten aber feststellen, dass ihre Hoffnung enttäuscht wurde. Die Kap. 60-62 gehören inhaltlich eng zusammen – „als Verkündigung des eschatologischen Heils, das in Jerusalem anbrechen wird“ (Hans-Joachim Kraus). Aber das Volk ist noch nicht angekommen, doch erfährt es durch den Propheten von V. 6ff. eine Gottesweisung. Denn die Trümmer des in Schutt und Asche liegenden Jerusalem waren nur zum Teil geräumt. Insofern mussten die Rückkehrer sich einen Weg durch Schutt und Geröll bahnen.
Strittig ist in der Exegese, wer in V. 6f, die „Wächter“ sind. Mit Claus Westermann sind darin auf keinen Fall himmlische Wesen „über den Mauern Jerusalems“ zu sehen, sondern die vom Propheten angeredeten Menschen in Jerusalem. Die Funktion dieser Wächter wird sehr eigenwillig beschrieben. Sie sollen Gott an seine Verheißungen erinnern. In der schwierigen Situation der nachexilischen Zeit bringt Tritojesaja wieder die grundlegenden Verheißungen Gottes ins Spiel, die Deuterojesaja im Exil dem Volk verkündigt hatte. Es geht mit Hans-Joachim Iwand, um „die Wiederholung eines Verlorenen, einer faktisch verlorenen und betrogenen Hoffnung“.
Der Prophet spricht zu Gott und fordert seine Gemeinde auf, dies ebenfalls zu tun und Gott keine Ruhe zu geben, „bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden“ (V. 7). Auch die jüdische Exegese fragt danach, wer diese Wächter sind. Ein jüdischer Ausleger personalisiert diese Wächter mit Begriffen: der erste Begriff ist „Schmach“. Damit soll an die schmachvolle Geschichte des Volkes Israel erinnert werden, denn dieses Volk war Gott gegenüber ungehorsam geworden. Der zweite Begriff ist „Umkehr“. Damit will der Ausleger deutlich machen, dass die Vergangenheit immer wieder bedacht werden muss und dennoch ein neues Gottesverhältnis begründet werden kann. Und der dritte Begriff ist „Gottesverheißung“. Damit soll deutlich werden, dass der Mensch allein durch Gottes Hilfe sein Leben leben kann.
Die Bewohner Jerusalems werden ermuntert (V. 10ff), durch die Tore hinauszuziehen, um den Weg für die zu bereiten, die noch nicht zurückgeholt sind, die sich noch in der Fremde befinden. Damit soll auch für sie das Heil konkret und erfahrbar werden. Aber – und dies ist ganz entscheidend! – die Rückführung der übrigen Exilierten ist allein Gottes Sache, ohne den nichts bewegt werden kann. Was auf dem Zion passiert, ist Ausdruck der Liebe Gottes zu seinem Volk Israel und erweiternd gesprochen: Ausdruck der Liebe und Zuwendung zu allen Menschen.
Mitten im Sommer ein besonderer Sonntag, der sich mit dem Gedenken an Israel beschäftigt. Damit gemeint ist die Treue Gottes zu seinem Volk Israel, aber auch unser Respekt vor diesem Volk, dessen Geschichte mit dem Christentum wie auch mit der Geschichte unseres Volkes so eng verbunden ist. Aus dem Predigttext ergibt sich ein Thema, das existentiell mit dem Lebensthema der Menschen zur Zeit Tritojesajas wie auch für die Menschen unserer Tage verbunden werden kann: Das Ganze steht noch aus. Das heißt: Unser jetziges Leben ist noch unvollständig, was im Augenblick ist, ist nicht die ganze Wirklichkeit. Dieses Thema gilt für den Einzelnen ebenso wie für ein ganzes Volk. „Siehe, dein Heil kommt“, das Heil ist noch nicht angebrochen, es kommt noch, auch der Glauben verheißt dem Menschen, dass er mit seinen großen Wünschen an das Leben rechnen darf. Das Ganze geschieht im Beten vor Gott, der dieses Gebet erhört und die Menschen nicht mehr verlässt.
Literatur
Ulrich Berges, Willem Beuken, Das Buch Jesaja. Eine Einführung, Göttingen 2016, bes. 211-215; Rudolf Bohren, Prophet in dürftiger Zeit. Auslegung von Jesaja 56-66, Neukirchen-Vluyn 1969, 112-119; Peter Höffken, Jesaja. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2004; Reinhard G. Kratz, Artikel Tritojesaja, in: TRE 34 (2002), 124-130 (Lit.!); Hans-Joachim Kraus, Das Evangelium der unbekannten Propheten. Jesaja 40-66, Neukirchen-Vluyn 1990; Konrad Schmid, Artikel Tritojesaja, in: RGG (4. Auflage) Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 625-627; Claus Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40-66, Göttingen 1966; ders., Predigten, Göttingen 1975, 80-84; Walther Zimmerli, Zur Sprache Tritojesajas, in: ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, München 1969, 217-233; Israelsonntag 2018. Dich aber ruft man: Aufgesuchte! Stadt, niemals verlassen. Predigthilfe und Materialien für die Gemeinde. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Berlin 2018.
Israelsonntag in Deutschland
Heute ist Israelsonntag, und an diesem Sonntag fällt uns unsere eigene deutsche Geschichte ein: Die Deutschen haben in der Zeit des Dritten Reiches große Schuld auf sich geladen. In dieser Zeit kam großes Unglück über das Volk Israel, über die Juden in Deutschland und Europa. In den Jahren zwischen 1933 und 1945 hätten wir mehr Wächter gebraucht, die gegen die Massenvernichtung eines ganzen Volkes aufgestanden wären. Man darf nur hoffen, dass wir Deutschen aus diesem Dunkel unserer Geschichte gelernt haben, und dass sich heute so etwas in unserem Land nicht mehr ereignet. Und doch lesen wir bald täglich von An- oder Übergriffen auf jüdische Bürgerinnen nicht nur in der Hauptstadt Berlin, sondern auch in kleineren Städten. Antisemitismus scheint in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wie auch jüngste soziologische Untersuchungen zum Antisemitismus belegen.
Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen unsers Landes, ja auch in vielen Teilen Europas, interessieren sich viele Jugendliche und auch Erwachsene für die neuen rechten Gruppen und Parteien meist angesichts von Arbeits- und Perspektivlosigkeit in den östlichen, aber auch westlichen ländlichen Regionen. Diese Menschen sind für diese Gruppen eine willkommene Klientel. Und es gibt in unserem Land, bedingt durch den neu aufgeflammten Rechtsextremismus, eine Debatte darüber, wie man über dieses Thema gerade mit Jugendlichen ins Gespräch kommt. Nun werden Sie, liebe Gemeinde sich fragen, weshalb der Predigttext, den wir gleich hören, für den heutigen Israelsonntag ausgewählt wurde?
(Lesung des Predigtextes)
Das Beten des Propheten
Hier geht es nicht um Politik, sondern hier geht es um das Gebet: Menschen beten tagaus, tagein zu Gott und flehen ihn für Jerusalem an. Der Prophet fordert die Menschen, die in unserem Text Wächter genannt werden, auf, „Gott keine Ruhe zu lassen“ – bis er Jerusalem wiederaufgebaut hat. Wie war es zu dieser Lage des Volkes Israel gekommen? Das Volk Israel war im babylonischen Exil fernab des Tempelheiligtums in Jerusalem, Jerusalem war zerstört, der Tempel zerstört und die Menschen hatten große Probleme über die Runden zu kommen. Sie mussten für die Babylonier Sklavenarbeit tun und hatten kaum genug zu Essen.
In dieser Lage schärft ihnen der Prophet Jesaja, der auch der dritte Jesaja genannt wird, ein: Betet immer wieder zu Gott, bedrängt ihn, so gut ihr könnt, bis Jerusalem wiederaufgebaut ist und es überall auf der Welt in Lobgesängen gepriesen wird. Die Menschen werden sicher damals viel von dem umgesetzt haben, was ihnen der Prophet geraten hatte. Und ich denke, dass es den Israeliten ähnlich ergangen ist, wie den deutschen Juden bei ihrer Deportation in die Konzentrationslager: Sie haben zu Gott gebetet, so wie es Menschen immer tun in ihrer Not. Dies hat keiner eindrücklicher formuliert als Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Christen und Heiden“:
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
Jerusalem und der Tempel wurden wiederaufgebaut. Im Jahre 70 n. Chr. wurde der Jerusalemer Tempel dann von den Römern zerstört – doch ist das irdische Jerusalem bis heute nicht der Ort, den wir im Lobgesang in unseren Gesangbuchliedern anstimmen. Vielmehr ist es das himmlische Jerusalem, das uns vor allem durch den Hebräerbrief als zukünftige Heimat verheißen ist, die wir als Christinnen und Christen suchen.
Wir leiden heute nicht wie zu Zeiten des dritten Jesaja materielle Not, wir sind nicht im Krieg, doch es gibt bei uns viele andere Nöte: Materialismus, Armut, Pflegenotstand, Arbeitslosigkeit und politischen Extremismus. In vielen unserer Gemeinden beklagen wir Glaubensnöte. Vielen Menschen ist der christliche Glaube ziemlich egal geworden, was sich ganz oft an den Zahlen unserer Gemeindeveranstaltungen ablesen lässt. Die Menschen sind zwar noch evangelisch, sind noch in der Kirche, doch ihren Glauben praktizieren nur wenige Gemeindeglieder regelmäßig. Müssen wir nicht – genauso wie Jesaja – solch eine Sehnsucht auf das Ganze, das noch aussteht, entwickeln? Er rief die Gemeinde in der Zeit des Exils dazu auf, solche Wächter zu werden, die Gott im Gebet den ganzen Tag bedrängen – nicht nur für die eigene Not, nicht nur für die kranken Angehörigen, für die Entwurzelten, die Heimatlosen oder die Flüchtlinge, sondern für die Stadt Jerusalem – d. h. für die ganze große Gemeinschaft.
Gemeinsames Gebet
Nun könnte jemand einwenden: Das war doch damals in Israel, lange ist es her, und uns gilt das doch gar nicht. Denn Jesus hat uns doch das „Vater unser“ gelehrt und mit dem Gebet deutlich gemacht, dass wir nicht plappern sollen wie die Heiden. Das Thema Gebet ist nicht nur für die Juden ein wichtiges Thema, sondern auch für uns Christinnen und Christen. Und ich glaube, wir müssen uns das wieder neu bewusst machen und von unseren jüdischen Glaubensgeschwistern lernen. Leider neigen wir in unserer evangelischen Kirche doch eher zu einem Christentum ohne die Dimension des Gebets.
Wünschen wir denn wirklich Veränderungen in unserer Kirche, in unseren Gemeinden und in unserem Leben? Möchten wir denn wirklich den immer wieder beschworenen Aufbruch in unserer Kirche – nicht nur in der Ortsgemeinde, sondern auch in unserer Landeskirche oder in den ganzen EKD? Sind wir nicht manchmal zu ruhig, zu lethargisch, zu angepasst, um wirklich einen Aufbruch, wie damals die Israeliten, zu wagen? Wo bleibt in unseren Gemeinden die Dynamik dieses Textes, der die Menschen in Bewegung setzte?
Sind wir als Kirche nur noch eine Kasualkirche, wenn wir taufen, wenn wir trauen, wenn wir Menschen beerdigen, wenn wir Religionsunterricht in den Schulen anbieten oder Konfirmandenunterricht oder Christenlehre erteilen, – alles gut und schön. Aber wo bleibt das gemeinsame Gebet, von dem der Prophet Jesaja spricht? Wo finden wir Menschen das, was Jesus, der ja auch in der jüdischen Gebetstradition eines Tritojesaja stand, seinen Jüngerinnen und Jüngern mitgibt? Es gibt auch in unseren Gemeinden Menschen die in Gebetskreisen beten, doch wer geht da hin? – Ich glaube, viele ChristInnen haben vor dem gemeinsamen Gebet Angst. Angst, zusammen mit anderen laut zu beten. Ich denke der Predigttext fordert uns heraus zu überlegen, ob wir nicht eine neue Kultur des gemeinsamen Gebets brauchen, auf die bereits Dietrich Bonhoeffer hingewiesen hat.
Vielleicht fragen manche: Wirkt Gott nicht auch, wenn ich alleine zu ihm bete? Klar, dafür gibt es in unserer Bibel viele Beispiele. Doch Gott will, dass wir in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben und in Gemeinschaft mit anderen auch zu ihm Kontakt aufnehmen, zu ihm beten. Das finden wir ebenfalls in zahlreichen Bibelstellen. Jesus betete nicht nur allein, sondern er berief zwölf Jünger, weil ihm die Gemeinschaft wichtig war und lehrte diese, gemeinsam zu beten.
Die Urgemeinde lebte diese Gemeinschaft: Man traf sich zunächst im Tempel in Jerusalem und in den Häusern der frühen Christen, betete gemeinsam, feierte gemeinsam Abendmahl, teilte den Besitz, teilte Freud und Leid. Diese urchristliche Gemeinschaft veränderte die Welt und machte schließlich das Christentum zu einer Weltreligion.
In Gesprächen mit kirchenkritischen Menschen in Berlin höre ich in diesen Tagen immer wieder die Frage: Ist die Kirche nicht eine überholte Einrichtung? Brauchen wir Kirche heute überhaupt noch? Ich denke unsere Welt braucht nichts dringender als Menschen, die sich – wie damals die Israeliten – gemeinsam auf den Weg machen, gemeinsam beten, gemeinsam feiern und auch gemeinsam ihren Glauben öffentlich leben. Das dürfen wir vom Propheten Jesaja lernen, der uns verheißt: „Siehe dein Heil kommt“.
Wochenspruch: Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat. Psalm 33,12
Nach der außergewöhnlich gründlichen Exegese mit Hilfe sehr vieler Kommentare, ist diese Predigt zum Israelsonntag sehr überzeugend und begründet. Pfarrer Hutter-Wolandt steigt in seine Predigt sehr überzeugend ein, indem er uns alle auf den neuen , beunruhigenden Antisemitismus auch in Deutschland hinweist, ungeheuerlich vor den früheren KZ- Morden. Dann thematiziert er das Beten des Propheten damals in reignierter Zeit trotz Rückkehr nach Jerusalem. Sehr passend auch das einmalig tiefsinnige Gebet von Bonhoeffer. Heute brauchen wir bei unserer “Kasualkirche” wieder einen prophetischen Aufbruch. Pfarrer Hutter Wolandt empfiehlt uns Christen als Einzelne und als Gemeinde Gebete und Gebetskreise. – Eine klare, gut formulierte und aufgebaute Predigt, welche wohl alle zu neuer Gebetsintensität anleitet.