Gemeinschaft des Glaubens

Kostbare Zeit

Predigttext: 1. Korinther 7,29-31
Kirche / Ort: Emden
Datum: 14.10.2018
Kirchenjahr: 20. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Dipl. Theol. Christiane Borchers

Predigttext: 1. Korinther 7,29-31 (Übersetzung nach Martin Luther)

29 Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht;
30 und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht;
31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

 

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Pfarrer und Pfarrfrau

„Ohne Frau, das ist nichts“, sagt Gerhard auf einer Tagung zu seinen Kolleginnen und Kollegen. Jedes Jahr findet eine jährliche Rüstzeit statt, die die Gemeinschaft zwischen den Kolleginnen und Kollegen stärkt. Das Thema   ist meistens interessant, aber deswegen sind die meisten nicht da. Sie schätzen die Gemeinschaft und die gute Atmosphäre. Gerhard bringt jedes Jahr seine Traute mit. Er ist inzwischen noch der einzige, der seine Ehepartnerin mitbringt. Früher haben das mehrere Männer gemacht, aber jetzt macht das niemand mehr, bis auf Gerhard. Traute gehört mit dazu, das ist für die anderen selbstverständlich. Jedes Jahr bedankt sich Traute bei den Leuten, dass sie dabei sein darf. Sie findet das nicht selbstverständlich.

Die Kolleginnen und Kollegen schätzen Traute, haben sie gerne dabei. Am allermeisten schätzt Gerhard, dass seine Frau dabei ist. Denn, „ohne Frau, das ist nichts“ wie er zu sagen pflegt. Einmal war er ohne Traute da, das hat ihm nicht gefallen. Sie hat ihm gefehlt. Ich finde es gut, dass Gerhard an seiner Frau hängt. Er ist ein Mann, der selbstständig sein Leben in die Hand nimmt, das ist nicht der Grund, warum er seine Frau gerne bei sich hat. Er fühlt sich wohl in ihrer Gegenwart, sicher und geborgen. Sie beflügelt ihn, sie ist seine Kraft und seine Stärke.

Gerhard ist für mich ein Sinnbild dafür, dass der Mann ohne die Frau unvollständig ist und nicht zu sich selbst findet. Die zweite Schöpfungsgeschichte in der Bibel drückt das so aus:  Gott sprach: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Hilfe geben, die um ihn sei“ (1. Mose 2,18). Bei jeder Trauung werden diese Worte gesprochen. Der Mann braucht eine Hilfe, keine Gehilfin, wie Luther das hebräische Wort fälschlich übersetzt. Die Frau ist dem Mann eine Hilfe, so wie Gott den Menschen eine Hilfe ist. Gerhard liebt seine Frau, er hält sie in Ehren und weiß, was er an ihr hat.

Die Lebensnähe des Paulus

„Das schreibe ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Ab sofort sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine.“ Paulus war nicht verheiratet, er weiß wahrscheinlich noch nicht einmal, was ihm fehlt. Paulus schreibt diese Worte im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über die Ehe und die Ehelosigkeit. Er erwartet, dass diese Welt in Kürze vergeht. Christus wird wiederkommen und eine neue Welt wird anbrechen. Die himmlische Welt löst die irdische Welt ab. Er lohnt sich nicht, sich an das Vergängliche zu klammern und in ihr die Erfüllung zu suchen. In der himmlischen Welt wird sich vollenden, was in der irdischen Welt unvollendet bleibt.

Redet Paulus hier der Weltfeindlichkeit das Wort? Das glaube ich nicht. Paulus ist ein Mann, der mitten im Leben steht. Er brennt für den Glauben und kämpft um die Gemeinde in Korinth, dass sie an Christus festhält. Wegen des Evangeliums nimmt er Schimpf und Schande auf sich, sogar Gefahr und Gefängnis. Weltfremd und weltfeindlich ist Paulus nicht. Aber er weiß, dass diese Welt nicht alles ist. Diese Welt ist vergänglich, eine neue Welt bricht an, in der die Schöpfung zu ihrer Vollendung kommt. „Denn siehe, ich mache alles neu“, spricht Gott (Off 21,5).

Lachen und Weinen

„Diejenigen, die weinen, sollen so tun, als weinten sie nicht.“ Wie kannst du nur so reden, Paulus? Hast du nicht geweint, als du verzweifelt warst, als du merktest, dass dein Kampf für die gute Sache des Evangeliums nicht auf fruchtbaren Boden fiel? Als du Menschen nicht davon überzeugen konntest, woran dein Herz hängt und sie sich abwendeten? An anderer Stelle hast du Empathie gezeigt und gesagt: „Weint mit den Weinenden (Röm 12,15)“. Nein, wir müssen weinen. Wir wollen auch weinen über Lieblosigkeit und Unrecht. Gründe zu weinen gibt es viele: über die Unbarmherzigkeit, wie mit Menschen umgegangen wird, über die Welt, wie Menschen Gewalt ausüben, über den Missbrauch, die Menschen der gesamten Kreatur antun.

Wie soll das gehen: weinen, als weinten wir nicht? Traute hat sich die Seele aus dem Leib geweint, als ihre Tochter verschwunden war. Ihre Tochter hat sich als Ärztin ausbilden lassen. Sie ist für eine Zeitlang nach Afrika gegangen, hat Kranke in Burkina Faso behandelt. Auf einmal war der Kontakt abgebrochen, Traute erhielt kein Lebenszeichen mehr von ihr. Sie war einfach weg, verschwunden. Wochenlang lebte Traute in Unsicherheit, sie hat so lange geweint, bis sie keine Tränen mehr hatte. Am Ende ist alles gut geworden, ihre Tochter ist wieder aufgetaucht. Sie war entführt worden. Die Entführer haben sie wieder in die Freiheit entlassen.

„Diejenigen, die sich freuen, sollen so tun, als ob sie sich nicht freuen“, rät Paulus den Christinnen und Christen in Korinth. Auch hier hat er an anderer Stelle mehr Einfühlungsvermögen bewiesen: „Freut euch mit den Fröhlichen“, hat er den Gemeindegliedern in Rom geschrieben (Röm 12,15).  Traute und Gerhard haben sich gefreut, mächtig und unbeschreiblich, als sie ihre Tochter wieder in die Armen schließen durften. Das war wie eine zweite Geburt, das war der Himmel auf Erden. Sie haben ihre Tochter ein erneut Mal geschenkt bekommen. Ihre Freude war groß und überschwänglich.

„Die Zeit ist kurz. Diejenigen, die kaufen, sollen so tun, als behielten sie es nicht und die diese Welt gebrauchen, sollen so tun, als bräuchten sie sie nicht, denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ Das ist wohl wahr, diese Welt hat keinen Bestand, auch wenn das noch lange dauern wird. Paulus lebt in der Naherwartung, wir tun das nicht. Die Welt wird vergehen, das steht fest. Ob dann das Reich Gottes anbricht, ist für viele fraglich geworden. Viele glauben nicht mehr an den Anbruch des Gottes Reiches, der Gedanke ist ihnen nicht fassbar, zu fremd, zu unrealistisch.

Die Welt ist vergänglich ebenso wie unser Leben. Das ist konkret, das ist erfahrbar, schmerzlich erfahrbar. Vom Ende her relativiert sich vieles, was zuvor für uns wichtig und von Bedeutung war. Vom Ende her zeigt sich, was uns getragen hat und was uns nichts gebracht hat. Die materiellen Dinge sind es gewiss nicht, die uns Erfüllung schenken. Das liegt auf der Hand. Und doch streben viele nach äußerlichem Reichtum, obwohl sie im Grunde ihres Herzens auf der Suche nach innerem Reichtum sind. „Wir können nichts mitnehmen, das letzte Hemd hat keine Taschen.“ Diese Volksweisheit beinhaltet Wahrheit.

Nicht, dass ich missverstanden werde. Das Materielle hat seinen eigenen Wert. Es ist lebensnotwendig, die Dinge, die wir zur Existenzsicherung brauchen, zur Verfügung zu haben. Jeder Mensch braucht Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit. Materielle Güter erleichtern oder verschönern auch den Alltag. Das ist sinnvoll und gut. Wenn die materiellen Dinge aber zum Selbstzweck werden, verkehren sie sich ins Gegenteil, werden zu Götzen, machen unfrei. Gerhard und Traute genießen es, dass sie endlich in ihrem eigenen Haus wohnen, dass sie einen Garten haben, in dem sie Erholung finden, dass sie auch im Alter eine Aufgabe gefunden haben, die sie erfüllt, dass sie Freundinnen und Freunde haben, auf die sie sich verlassen können. Die Zeit ist kurz. Seid Männer und Frauen, die so tun, als hätten sie nicht. Das Wesen dieser Welt vergeht.

Paulus hat Frauen und Männer vor Augen, die frei und unabhängig sind, die ihre Sicherheit nicht auf materiellen Reichtum bauen. Menschen, die sich auf Christus gründen, machen sich weder von Dingen noch von Menschen abhängig. Mit Gottvertrauen gestalten sie ihr Leben in Freiheit. Sie wissen, dass sie ihr Leben nicht selbst sichern können. Sie wissen, dass sie nicht aus sich selber und aus eigener Kraft leben. Sie wissen: Leben ist Geschenk von oben, Leben ist kostbar, verletzlich und zerbrechlich. Haben, Sein, Status, Anerkennung, Gut und Geld sind Äußerlichkeiten, die schön zu haben sind, auch angenehm, aber sie gehören nicht zum Wesen einer Existenz. Leben ist Segen vom Himmel her.

Gegründet im Glauben

Unser Leben ist vergänglich. Wir leben in dieser Welt mit all ihrer Brüchigkeit. Auf Erden erfahren wir Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz, Verbundenheit und Auflösung. Die Vollendung aller Sehnsucht auf Vollkommenheit liegt nicht in dieser Welt. Endgültig wird sich alles vollenden, wenn unser Leben vergeht und wir zu einem neuen Leben bei Gott aufbrechen. Das ist mit Trauer verbunden, das entlastet uns auch. Was uns nicht möglich ist, brauchen wir nicht möglich zu machen. Wir sind nicht verloren, auch wenn wir schweren Grund zum Weinen haben. Unsere Freude auf Erden ist eine Vorfreude auf die himmlische Freude bei Gott und Jesus Christus. Wir sind getragen von der Hoffnung auf Vollendung. Wenn wir sterben, erwachen wir zum neuen Leben bei Gott.

Was machen wir nun mit Gerhard und seiner Frau? Muss er auf sie verzichten und so tun, als hätte er sie nicht? Muss sie umgekehrt ihn links liegen lassen und sich verstärkt mit geistlichen Dingen beschäftigen, damit sie der Vollendung ein Stück näher kommt? Gerhard und Traute haben sich in Freiheit aneinander gebunden. Sie genießen ihre Zeit miteinander, in Freiheit leben sie ihre innere Verbundenheit und Zuneigung. Sie wissen, was sie aneinander haben. Über die Jahre hat sich ein verlässliches Band geknüpft. „Ohne Frau, das ist nichts“, hat Gerhard auf der diesjährigen Tagung gesagt. Beim nächsten Mal wird er sie wieder mitbringen, damit die Zeit noch schöner und erfüllter wird.

 

 

 

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