Paulus und die Extremsportler

Paulus interessierte sich für die Erfahrung der Tiefen des Menschseins

Predigttext: Römer 7,14-25
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 28.10.2018
Kirchenjahr: 22. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele

Predigttext: Römer 7,14-25 (Übersetzung nach Martin Luther)

Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, stimme ich dem Gesetz zu, dass es gut ist. So tue ich das nicht mehr selbst, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz: Mir, der ich das Gute tun will, hängt das Böse an. Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!

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Extremsportler

Auf dem Bildschirm verwackelt das Bild. Die Zuschauer sehen flirrende Wolkenwände und dazwischen Bilder vom Horizont weit in der Ferne und von Straßenzügen tief unten. Dort kriechen Fußgänger und Autos langsam wie Ameisen entlang. Wegen der ruckelnden Bewegungen der Kamera schwindelt es auch den Zuschauern. Bald wird klar: Ein Kletterer hat die Eingangskontrollen zum Wolkenkratzer umgangen, sich hochgeschlichen auf die Aussichtsplattform. Von dort ist er ungesichert bis auf die Spitze des Antennenmasts geklettert. Er filmt seine Aktion mit einer Kamera, die er auf seinen Helm montiert hat. Ein zweiter Kletterer ist ihm gefolgt. Auch er filmt mit einer Kamera. Zwei Stunden später sind die beiden verhaftet, aber gegen Kaution wieder freigelassen, und das Video von der waghalsigen Kletteraktion schauen sich drei Stunden später Hunderttausende bei Youtube an.

Die Faszination solcher Videos rührt von der Sehnsucht nach extremen Erfahrungen, die dem Kletterer das Erlebnis einzigartiger Konzentration verschaffen. Er kann, er muß alles Ablenkende ausblenden. Er darf nicht grübeln, darf nicht nachlässig werden, denn schon der kleinste Fehler kann ihn das Leben kosten. Weil er sein Ich vergißt, erfährt er sich um so intensiver. Das ist noch viel mehr eine Erfahrung des Körpers als der Seele. In der extrem angespannten Konzentration des Kletterns wird der Unterschied zwischen beidem aufgehoben. Das Ich ist ganz bei sich selbst in der Gegenwart. Es kann die Vergangenheit und Zerstreuung überwinden.

Bei solchem Sport verlieren Konkurrenz und Sieg an Bedeutung. Keiner dieser Extremsportler will Medaillen, Pokale oder Wettkämpfe gewinnen. Sehr viel wichtiger ist das Gesehenwerden. Deswegen die kompakten Kameras auf den Helmen, die alles aufzeichnen. Diejenigen, die nicht so mutig sind, können sich das Video im Internet anschauen. Die Kamera verdoppelt die Erfahrung der Konzentration. Was der Extremsportler erlebt, können die Zuschauer an den Monitoren bequem nachvollziehen. So stellt sich eine Beziehung her zwischen dem Extremsportler und seinen begeisterten Fans. Auch die Zuschauer sind von dieser Sehnsucht nach berauschender Konzentration, nach der Erfahrung von Einheit, ablenkungsfreiem Augenblick und nach der Kontrolle von Risiko gefangengenommen.

Paulus als Menschenkenner

Ich bin sicher: Der Apostel Paulus hätte sich solche Videos mit großer Verwunderung angeschaut. Er interessierte sich sehr für die Erfahrung der Tiefen des Menschseins. Auch deshalb machte er sich an dieser Kernstelle des Römerbriefs Gedanken über das Menschsein. Er stellte die Frage: Was macht diese Verbindung von Körper und Seele aus, die man Mensch nennt? Wie mischen sich Konzentration und Ablenkung, Intensität und Langeweile, Zufall und Gewohnheit, Training und Intuition?

Den Apostel Paulus stellen sich Bibelleser nicht als Sportler mit Helm und Headcam vor, sondern als vollbärtigen Intellektuellen, der zum Übergewicht neigend seine Tage am Schreibtisch verbringt, mit Büchern, Schriftrollen, Papyrus und Gänsekielfedern. Statt zu trainieren denkt er nach. Statt seine Gesundheit zu riskieren verbringt er seine Zeit mit gewichtigen Überlegungen zum Menschsein: Der Mensch will Gesetze befolgen. Der Mensch ist ein Sünder. Der Mensch ist auf Gottes Liebe angewiesen.

Üben, Riskieren, Resonanz

Damit bringt sich Paulus als ernstzunehmender Partner in Gespräche über das Menschsein ein, die zweitausend Jahre später stattfinden. Heute sagen viele Intellektuelle: Der Mensch sucht vor allem nach Erfahrungen der Intensität. Je intensiver, je risikoreicher, je mehr Adrenalin der Körper ausstößt, desto besser. Und dafür nimmt es der intensive Mensch auch in Kauf, das Gesetz zu überschreiten, wenn es denn unbedingt notwendig sein sollte. So denken die am Anfang beschriebenen Hochhauskletterer.

Erfahrungen der extremen, vor allem sportlichen Intensität sind nur durch ausdauerndes Training möglich. Deswegen haben andere Philosophen gesagt: Der Mensch ist vor allem ein übendes, trainierendes Wesen. Wer sich unterscheiden will von den anderen, der muß eine Fähigkeit, ein Musikinstrument, eine Sportart, eine Kunst besonders gut beherrschen. Gute Beherrschung setzt Übung voraus. Wer also intensive Erfahrungen machen will, muß üben, üben, üben. Der muß Ernährungsregeln beachten, früh schlafen gehen, der darf sich nicht Zerstreuungen vom Internet bis zum Cocktail am Abend hingeben. Der trainierende Mensch muß Askese üben, um zu Spitzenleistungen fähig zu sein, gleich ob er auf Hochhäuser klettert, die Hammerklaviersonate spielt oder dreitausend Meter Hindernis läuft.

Die dritte Gruppe von Philosophen sagt. Nein, Training und Intensität sind nicht so wichtig. Der Mensch sucht im Leben vor allem Erfahrungen der Resonanz, des Widerhalls. Er will nicht allein, er will sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen. Er will erleben, daß er durch sein Denken und Handeln etwas zurückbekommt, ein Echo auf sein Leben. Solch eine Erfahrung der Resonanz kann die Liebe des Partners sein, das Gefühl von Heimat, aber auch das Gefühl, von Gott angenommen und in ihm geborgen zu sein.

Ich stelle mir vor: Wenn Paulus diese Diskussionen über das Menschsein in der gegenwärtigen Welt wahrnehmen, lesen und durchdenken würde, es würde sich ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigen, und er würde an seinen Römerbrief denken, an die Passage, die wir vorhin als Predigttext gehört haben. Denn dort hat Paulus so etwas wie eine theologische Psychologie des Menschseins entwickelt. Was er sagt, das kann man ohne weiteres auf den intensiven und den trainierenden Menschen, aber auch auf den durch die virtuelle Welt abgelenkten oder den ordnungsliebenden, Grenzen ziehenden Menschen beziehen.

Der Mensch als Sünder

Zuerst redet Paulus davon, daß er den Menschen für einen Sünder hält. Das ist heute ebenso unverständlich wie unpopulär. Das Klischee malt einen positiven Menschen, der frei ist von Tragik und Tragödie, der unbefangen und lächelnd seine Beziehungen pflegt. Gute Absichten münden in gute Taten, und gute Taten zeitigen die entsprechenden Folgen. Aber das ist in seiner Einfachheit naiv. Gute Absichten erzeugen gelegentlich Taten, die genau das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt war. Wer in die Politik, die globale und die nationale, schaut, kann das täglich in den Nachrichten um 20.00 Uhr bestätigt finden. „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Das scheint einfach ein psychologischer Sachzwang zu sein.

Die Theologen haben sich lange die Köpfe darüber zerbrochen, wie das Böse der Sünde in die Welt kommt und wie es sich von einem auf den anderen Menschen überträgt. Dem antiken Theologen Augustin verdankt das Christentum die Lehre von der Erbsünde, mit all ihren – im wahren Sinn des Wortes – Übertragungsproblemen, die biologisch längst widerlegt sind. Aber wenn sich Sünde nicht durch Sexualität und Zeugung überträgt, warum gibt es sie dann? Die Menschen spüren sie an ihren Wirkungen, an dem, was die Menschen, wie Paulus sagt, nicht wollen und doch tun. Deswegen ist es sinnvoll, wie Paulus einfach davon auszugehen, daß es Sünde gibt. Menschen wenden sich von all dem, was das Gesetz fordert ab und gehen eigene selbstsüchtige Wege – ohne einen Blick auf ihre Menschen, ohne einen Blick auf Gott. Und sie tun das mit Absicht, willentlich, obwohl ihnen Eltern, Schule, Bildung etwas ganz anderes beigebracht haben. Das Gewissen sagt anderes.

Deswegen redet Paulus treffend vom zerrissenen Menschen. Er übt sich bis zum Extrem in seinen Fertigkeiten. Er sucht die Konzentration – und vergißt darüber, was hinter ihm liegt. Er will sich in der extremen Erfahrung selbst vergessen – und wird doch immer wieder auf sich selbst, auf sein eigenes, manchmal großartiges, manchmal schnöde klägliches Ich gestoßen. Der Mensch muß sich finden, um sich selbst zu vergessen. Aber er kann sich nicht vergessen, die Vergangenheit bleibt in der Erinnerung fixiert. Training, Übung, extreme Erfahrung, Meditation, Konzentration, die Suche nach Weisheit, die intellektuelle Konzentration auf das Denken – all das hilft ihm nicht weiter. Wenn er es übertreibt, dann kann es bis zur Sucht führen: die Sucht nach dem Digitalen, die Sucht nach Alkohol, die Sucht nach Sport, die Sucht nach Klamotten und so weiter. „Das, was ich nicht will, tue ich“, sagt Paulus. Das Ich ist zerrissen, zwischen dem, was es tun soll, und dem, was es nicht tut. Es wirft den Menschen letztlich auf sich selbst zurück.

Über das Gesetz

Der zerrissene, trainierende, strebende, übende Mensch, der sich um sich selbst dreht, braucht eine ihm äußerliche Instanz, an der er sich orientieren kann. Paulus spricht im Anschluß an die jüdische Theologie, in der er ausgebildet wurde, vom Gesetz. In diesem Fall ist das in einem sehr umfassenden Sinn zu verstehen. Es umfaßt die Grundwerte einer Gesellschaft, Menschenwürde und Menschenrechte, ebenso wie die Disziplin, die sich zum Beispiel ein Marathonläufer im wöchentlichen Trainingsplan auferlegt. Die Pointe des Paulus besteht darin, daß die Menschen ihre eigenen, sozialen wie individuellen Gesetze immer wieder brechen. Ihr Wille, die Gesetze einzuhalten, kippt immer wieder um. Das Gesetz, kein Gesetz kann richtig erfüllt werden.

Im Ergebnis läßt sich die Zerrissenheit des menschlichen Lebens, die Paulus in theologischer Sprache Sünde nennt, nicht aus eigener Kraft beseitigen. Die Menschen suchen zwar danach, sich von der eigenen Zerrissenheit zu befreien, aber merkwürdigerweise will es ihnen nicht gelingen. Die Moral hilft den Menschen nicht, sich aus dem Sumpf ihrer eigenen Zerrissenheit zu ziehen. Und im Grunde gilt das auch für die Übung, das Trainieren und die Askese sowie für das Streben nach immer intensiveren Erfahrungen, die irgendwann nicht mehr überboten werden können. Das ist der Widerspruch, den der theologische Intellektuelle Paulus in klaren und einfachen Worten herausarbeitet. „Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.“

Die Überwindung des Gesetzes

Jeder kann nun sagen: Ich erlebe das ganz anders. Ich habe völlig andere Erfahrungen gemacht. Ich kann das verstehen. Aber für das, was ich unter protestantischer Nüchternheit verstehe, gehört diese paradoxe Erkenntnis der Zerrissenheit menschlichen Lebens zum Grundbestand allen Wissens über die Menschen. Es ist ein Grundbestand, der nicht nur die anderen betrifft, diejenigen, von denen ich mich gerne abgrenzen würde. Das Bittere an den Argumenten des Paulus besteht darin, daß diese Diagnose von der Zerrissenheit auch mir selbst gilt. Ich bin auch gemeint.

War also Paulus ein Menschenverächter? Ein Menschenfeind? Ein Schwarzseher? Gerade nicht. Nirgendwo, auch nicht in dieser Passage des Römerbriefs, redet Paulus über die Sünde um der Schwarzseherei willen. Überall redet er über die Sünde und die Zerrissenheit des Menschen um des Heilandes Jesu Christus willen. Niemand, kein Hochhausspringer, kein Asket, intellektueller Philosoph kann sich selbst retten. Jeder braucht den Anderen, den Retter, den Heiland, der diese Zerrissenheit des Menschen aufheben und heilen kann. Deswegen heißt es am Ende der Passage: „Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Wie das zu denken und zu glauben ist, das wäre eine zweite weitere Predigt. Für den Glauben genügt diese kleine tröstende Erkenntnis: Ich muß mich nicht selbst retten. Ich werde gerettet.

Nachbemerkung

Ein Beispiel mit einer Zusammenfassung solcher Extremsport-Videos ist unter folgender Adresse zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=AQkbbtDoPq0. Neben dem Römerbrief habe ich für diese Predigt verwendet: Tristan Garcia, Das intensive Leben. Eine moderne Obsession, Berlin 2017. Vgl. dazu auch meine Rezension in: tà katoptrizómena, Heft 111, Februar 2017, https://theomag.de/111/wv041.htm; Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016; Peter Sloterdijk, Du muß dein Leben ändern, Frankfurt 2009.

 

 

 

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Ein Kommentar zu “Paulus und die Extremsportler

  1. Christoph Kühne

    Der Einstieg der Predigt ist im wahrsten Sinne des Wortes „atemberaubend“. Wie geht’s weiter? Es folgt eine interessante Erklärung der Theologie – oder sollten wir sagen: Psychologie des Apostels Paulus. Er sieht den Menschen im Wesentlichen zerrissen. Und wir Menschen wollen uns von dieser Zerrissenheit befreien. Was hilft? Moral? Askese, Training – wie jene Hochhausfassadenkletterer? Es gilt, sich dieser „paradoxen Erkenntnis der Zerrissenheit menschlichen Lebens“ zu stellen. Und retten wir uns damit? Nein. „Jeder braucht den Anderen, den Retter, den Heiland, der diese Zerrissenheit des Menschen aufheben und heilen kann“. Und so schließt diese Predigt wie auch der Predigttext mit einem Dank: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Dank angesichts der eigenen Zerrissenheit – das zu entwickeln ist tatsächlich eine zweite Predigt oder ein gutes Gottesdienst-Nachgespräch wert. Danke für diese Predigt!

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