Ein Esel nur …

Advent - Neue Anfänge und Perspektiven, die aus dem Himmel kommen

Predigttext: Matthäus 21,1-11
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 02.12.2018
Kirchenjahr: 1. Sonntag im Advent
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Matthäus 21,1-11 (Übersetzung nach Martin Luther)

Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9): »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der? Das Volk aber sprach: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa.

 

 

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Kontrastprogramm

Kindheitserinnerungen. In schwarz.weiß. Berlin 1963. Menschen stehen dicht gedrängt am Straßenrand. Spannung liegt in der Luft. Vor nicht langer Zeit wurde die Stadt geteilt. Eine Mauer zerreißt Ost und West. Es ist von einem Krieg die Rede. Von einem kalten. Dann kommt die Limousine. Offen das Verdeck. J.F. Kennedy, der amerikanische Präsident, winkt. Auf ihn ruhen große Erwartungen. Neben ihm der Bundeskanzler, Konrad Adenauer, hinter ihnen der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt. Großer Bahnhof, nennt man das. Ein Staatsbesuch. Als der jugendliche Präsident dann – wenig später – sagt: Ich bin ein Berliner, schließen ihn nicht nur die Berliner ins Herz. Hoffnung machte sich breit, wo alles auf Enge ausgerichtet war. Eine Stadt, ganz Deutschland fühlte, nicht alleine gelassen zu sein.

Einige Jahre später. Berlin, 2. Juni 1967. Der Schah von Persien kommt. Mohammad Reza Pahlavi. Staatsgast. Großer Bahnhof. Aber er ist bei vielen Menschen, vor allem auch jüngeren, nicht willkommen. Ihm werden Gewalt und Unterdrückung vorgeworfen. Das Argument, einem Gast käme man zuvorkommend und höflich entgegen, geht im Krawall unter. Dabei kesselten Polizisten die Demonstranten ein, verprügelten sie, griffen Einzelne wahllos heraus, misshandelten sie – und behaupteten sogar einen Polizistenmord. Aber der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss den Demonstranten Benno Ohnesorg. Es war keine Notwehr. Danach war die Bundesrepublik nicht mehr die alte. Der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, ein Pfarrer, Heinrich Albertz, sagte: „Ich war am schwächsten, als ich am härtesten war, in jener Nacht des 2. Juni, weil ich dort objektiv das Falsche tat“. Er hatte den Polizeieinsatz in seiner Härte gebilligt. Zwei historische Beispiele. Beispiele von Staatsbesuchen. Von großen Bahnhöfen. Von Hoffnungen und Zerwürfnissen. Ein Kontrastprogramm. Wer kommt? Wann? Was wird mitgebracht? Was hinterlassen? Außer Spesen nichts gewesen …?

Ein Esel nur

Die Sehnsucht, dass ein Messias kommt, ist unstillbar. Viele Menschen leiden darunter, dass sie in ihrer kleinen Welt, von der großen ganz zu schweigen, nicht mehr zu Hause sind, Angst haben und an keine Zukunft glauben können. Wir sehen die Brutalität und Härte, die keinen Krieg scheut. Menschen werden missbraucht, zu Opfern gemacht und ihrer Heimat beraubt. Die Rüstungsindustrie verdient ein Schweinegeld, erwirtschaftet Gewinne über Gewinne, aber die Leichen im Keller und die Flüchtlinge in der Welt kommen nicht in ihre Bilanz. Unehrlich, verlogen und hämisch sind die Kommentare, die über Menschen gefällt werden, die ihre Zukunft suchen. Die Medien haben die Unschuld längst verloren. Und die Erde wird zugemüllt, abgeholzt und ausgebeutet.

Am 1. Advent wird in unseren katholischen Schwestergemeinden, nach einer anderen Leseordnung, ein Abschnitt aus dem Lukasevangelium vorgelesen: „In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen
und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen; denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden“.

Es ist von bestürzten und ratlosen Völkern die Rede, von Menschen, die vergehen vor Angst, gar von einem erschütterten Himmel. Die Welt ist in Aufruhr. Nichts kann sie mehr halten, nichts tragen. Der Boden unter den Füßen gibt nach und die Sonne ist schwarz. Was im Horrorfilm, gemütlich im Kino, im Wohnzimmer bei einem Glas Wein, die Nerven kitzelt, hat sich in die Realität gewagt. In die Schlagzeilen der Zeitungen. Im Fernsehen an die erste Stelle. Hör auf! Sage ich mir. Schweig! Das ist doch kein Evangelium, keine frohe Botschaft! Und dann werde ich ganz still, entsetzt darüber, dass die apokalyptischen Bilder und Vorstellungen keine literarische Fiktion sind, nicht aus kranken Köpfen kommen und ganz einfach die Welt spiegeln, wie sie, Entschuldigung, auch von Menschen gemacht wird. Bestürzte und ratlose Völker. Angst, die Menschen vergehen lässt. Ein Himmel, der leer ist und nichts mehr verspricht. Sieht so das Ende aus? Ich friere.

Und dann kommt ein Esel. Ein Esel nur. Wäre es wenigstens ein Pferd! Ein hohes Ross! Dann könnte ich glauben, ein König käme. Aber es ist nur ein Esel. Ich höre aus weiter Ferne den Propheten Sacharja rufen: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin”.

Ein König, der arm ist? Der nichts hat, nichts mitbingt? Der auf einem Esel reitet? Wenigstens gerecht ist er. Soll er sein. Sagt man. Hofft man. Aber wird er etwas bewegen? Wird er die alte Welt zerreißen? Aller Gewalt ein Ende machen? Noch reißen Leute Palmzweige. Noch legen Leute ihre Klamotten auf den Weg. Noch wird „Hosianna“ geschrieen. Noch. Aber was ist das für ein König, der nicht einmal die äußeren Zeichen seiner Würde vorantragen lässt? Der keine Krone trägt? Den kein Soldat begleitet? Auf einem Esel! Ach, wo fängt die Eselei an, wo hört sie auf? Und doch: Es ist ein Staatsbesuch! Anders! Und größer! Größer als alles, was die Welt je gesehen hat. Keine offenen Karossen, keine militärischen Ehren und keine hochgeschützten Gulli’s. Kein Blitzlichtgewitter. Keine Hochglanzmagazine. Keine Sondersendung.

Ein Esel nur – und Gott selbst hält Einzug. Einzug in seine Stadt Jerusalem. Während die meisten Menschen glaubten, er wohne hier im Tempel, ist er längst unter die Menschen gegangen. Kranke wurden gesund. Mutlose eroberten sich die Welt. Schuldige konnten neu anfangen. Es war wie ein Taumel. Erschien er, verlor die Welt ihre Schrecken. Grenzen ließen sich durchqueren. Und die alten Rollen standen weder Frauen noch Männern gut. Die Verwerfungen von gestern mussten nicht länger mitgeschleppt werden. Der Hass wurde kleinlaut. Sogar der Tod lernte sich zu fürchten.

Wenn etwas zu Jesus passt, auch zu seiner Sanftmut, zu seinem Wagemut, zu seiner Freiheit – dann ein Esel. Jesus braucht kein Ross, auch nicht die Insignien der alten Welt. Aber Menschen, die ihm ihre Oberkleider auf den Weg legen. Als Zeichen ihrer Freiheit und Würde. Zeichen ihrer Gelassenheit und Freude. Wer sein Obergewand ablegen kann, muss sich nicht mehr schützen, sich auch nicht mehr fein herausputzen – er ist zu Hause. Darüber wird sich Jesus sehr gefreut haben! Wenn der Esel erzählen könnte!

Huldigung

Ein anderer hat die Geschichte erzählt. Ein wenig anders. In Liedform. Mit einer schönen Melodie. Paul Gerhardt – 1653. In seinem Lied „Wie soll ich dich empfangen“ hat er in der zweiten Strophe die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem beschrieben, nicht ohne die Linien weit auszuziehen: “Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn. Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis und deinem Namen dienen, so gut es kann und weiß”. Es sind acht Zeilen. In den ersten vier geht es um „dein Zion“, in den letzten vier um „mein Herz“.

Aus Palmen werden Psalmen, aus grünen Zweigen grüne Herzen. Und was meinen Sinn ermuntert, dient seinem Namen. In stetem Lob und Preis. Kunstvoll ist die Strophe aufgebaut. Aus der erzählten Geschichte wird meine eigene. Ich bin dabei. Jesu Einzug ist Einzug bei mir. Eine Kehrtwende? Nein, eine Konsequenz. Denn was nützte der Einzug Jesu in Jerusalem, wenn er nicht bei mir einkehrte? Mich fände? Mich holte? Und ich ihn verfehlte? „So gut es kann und weiß“ heißt es – ich kann auch sagen: So gut ich kann und weiß. Überfordert bin ich nicht. Eher nimmt er Maß an mir, besser: er schenkt mir das rechte Maß.

Die Leute rufen: “Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!” Bemerkenswert und bemerkenswert schön: Jesus ist der neue David, der die Herrschaft in Jerusalem antritt – und er kommt im Namen Gottes. Eine alte Geschichte kommt hoch. Aus Tiefen sozusagen. Jerusalem ist die Stadt Gottes. Die Stadt des Friedens. Jetzt. Jetzt wieder. David hat diese Stadt besungen, in höchsten Tönen gelobt. In vielen Psalmen, die auf ihn zurückgehen oder auf ihn zurückgeführt werden, wird der Zion zum Inbegriff der Nähe und Anwesenheit Gottes. Sacharja konnte den hohen Ton aufnehmen, ihm gar eine neue Form geben: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin”.

“Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir, ja, er kommt, der Friedefürst …” – dieses Lied geht auf Georg Friedrich Händel zurück. Unter den Adventsliedern ist es eines der schönsten und beliebtesten. In dem Lied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ begegnet uns Zion wieder: „Zion hört die Wächter singen, das Herz tut ihr vor Freuden springen, sie wachet und steht eilend auf”.

Volksbefragung

Schön, was Lieder alles zu besingen wissen! Als Matthäus diese kleine Geschichte vom Einzug in Jerusalem aufschrieb, hatte er die Passion Jesu vor Augen. Jesus zieht nach Jerusalem ein, doch dort wird er verhaftet, angeklagt, verurteilt – und an das Kreuz geschlagen. Kein großer Bahnhof. Kein Staatsbesuch. Jesus wird einem Rädelsführer gleich aus dem Verkehr gezogen. Jesus wird zwischen zwei Aufrührern aufgehängt. Aber das Paradies ist offen. Auch für den einen Schächer. Schade, dass wir seinen Namen nicht kennen.

Der Einzug auf dem Esel verkommt zur Lachnummer. Die, die Hosanna riefen, haben sich wohl verdrückt. Jetzt beherrschen die das Feld, die immer lauter „Kreuzige, kreuzige ihn“ schreien. Und die Jünger? Einer von ihnen hat Jesus verraten, ein anderer verleugnet, aus dem Staub gemacht haben sich dann alle. Ein König ohne Land. Ohne Hofstaat. Ohne Gefolgschaft. Was mag die Menschen, die die Lesungen für die Gottesdienste aussuchten, bewegt haben, den 1. Advent mit der Leidensgeschichte zu verknüpfen?

Johann Sebastian Bach hat das Lied Paul Gerhards „Wie soll ich dich empfangen“ übrigens in seinem Weihnachtsoratorium mit der Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“ versehen. Jesu Einzug in Jerusalem lässt seine Herrschaft sichtbar werden, die es mit dem Leiden und mit dem Tod aufnimmt. Er ist der König, der Heil und Leben bringt. Am 1. Advent schon sehen wir weit hinaus! Und weit voraus!

In der Geschichte, die Matthäus erzählt, wird dem Volk eine besondere Rolle zugedacht. Das Volk geht Jesus voran, das Volk huldigt ihm – und das Volk weiß, wer Jesus ist! Die „ganze Stadt“ – so Matthäus – erregt sich und fragt: Wer ist der? Die Antwort aus dem Volk: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa! Wissen die Menschen, was ein Prophet ist? Kennen sie den Propheten Jesus? Dass er aus Nazareth ist, ein Galiläer, ist eine einfache Antwort. Schmucklos und unaufgeregt. Von König ist jetzt nicht mehr die Rede. Aber: Galiläa ist für einen frommen Juden Niemandsland. Verbotenes Land. Land der Irrtümer und der Verlorenen. Dass Jesus jetzt kommt und nach Jerusalem einzieht, ist nur ein Aspekt – der andere ist fast noch spannender: Jesus kommt schon als Verworfener. Aber er bringt das Licht. Das Land der Verlorenen ist das Land der Gefundenen.

Matthäus hat ziemlich am Anfang seines Evangeliums schon erzählt ((Mt. 4,13-17, vgl. Jes. 8,23-9,1)): „Und Jesus verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am See liegt im Gebiet von Sebulon und Naftali, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht : »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.« Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind – über denen, die da wohnen im finstern Lande, leuchtet es hell.

Empfangen und umfangen

Vorhin haben wir zwei Berliner Staatsbesuche erinnert. Begegnungen, die Hoffnungen machten – und die Risse in der Welt sichtbar. Vorher und nachher hat es noch viele Staatsbesuche gegeben. Für sie gibt es einen eigenen Ritus. Die Erinnerung an eine Liturgie stellt sich schnell ein. Doch das Jesus kommt, ist auf Wiederholung angelegt und von eigener Art. Er bringt Heil und Leben. Er stellt auch das Unheil der Welt ins Licht. Er schenkt neue Anfänge und Perspektiven, die aus dem Himmel kommen. Schwarz-weiß kann nichts bleiben.

Paul Gerhardt hat in zwei Worten ein Wunder beschrieben, das Wunder vom Einzug Jesu in Jerusalem. Mit zwei Worten hat er seine ersten 5 Strophen des Liedes „Wie soll ich dich empfangen“ umfasst, eingerahmt und verziert: Es sind die Worte „empfangen“ und „umfangen“. “Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir, o aller Welt Verlangen, o meiner Seelen Zier? … Nichts, nichts hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt als das geliebte Lieben, damit du alle Welt … so fest umfangen hast.” Ich kann ihn empfangen, weil er „alle Welt“  fest umfangen hat. In den Arm genommen. An sich gedrückt. Nur weil er uns umfängt, können wir ihn empfangen. Der 1. Advent ist ein Glückstag.

 

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